Читать книгу Die Teufelsbibel - Richard Dübell - Страница 21
1.
ОглавлениеNiklas Wiegant und seine Frau hatten sich gestritten; es war keine Bagatelle gewesen, es handelte sich um einen jahrealten, tief sitzenden Konflikt, es hatte, seit es ihn gab, niemals Frieden, sondern bestenfalls Phasen von Waffenstillstand gegeben; und er war auch heute nicht beendet, sondern würde weitergehen, heute Abend, morgen, übermorgen – wann immer etwas geschah, das die Wunde aufriss, aus der der Konflikt entstanden war. All das erkannte Pater Xavier innerhalb eines Augenblicks, als er von der Magd in die große Stube im Obergeschoss des Wiegantschen Hauses geführt wurde. Er wusste nicht, was der Grund für den Streit war; doch er ahnte, dass die Wunde auf Seiten der Hausherrin größer und tiefer war als auf Seiten des Hausherrn und dass dieser niemals begreifen würde, warum all seine Bemühungen sie nicht schlossen. Jemand war überzeugt, dass man ihn betrogen hatte und dass man auf seinen Gefühlen herumtrampelte. Es gibt im Himmel keinen Zorn wie den einer Liebe, die zu Hass geworden ist, dachte Pater Xavier, und in der Hölle keine Wut wie die einer betrogenen Frau.
Er hatte Theresia Wiegant nie gesehen und betrachtete sie mit der Aufmerksamkeit, die er allen Menschen zuteil werden ließ, in denen er das Talent erkannte, ein Hebel zu sein, den er, Pater Xavier, zur rechten Zeit würde ansetzen können. Niklas Wiegant hatte sich verändert; sein Gesicht war in den fünfzehn Jahren seit ihrer letzten Begegnung faltiger und hohlwangiger geworden, sein Bauchansatz größer, in seinem Haar war mehr grau als schwarz. Überrascht erkannte Pater Xavier, dass dies nicht mehr der Mann war, mit dem er damals die Lieferkette aufgezogen hatte, an der alle verdient hatten: die angeblich ausgestochenen spanischen Lieferanten, der als ihr Strohmann auftretende deutsche Kaufmann, der Erzbischof von Madrid, sein Bruder …Etwas war verloren gegangen oder zerbrochen; mit dem Mann, den er hier vor sich sah, hätte Pater Xavier es sich zweimal überlegt, den Verkauf von Wasser in der Wüste zu organisieren.
„’n dominikanischer Mönch will Sie sprechen, Herr“, sagte das Dienstmädchen und knickste.
Niklas Wiegant drehte sich um. Zuerst starrte er nur mit zusammengekniffenen Lidern. Dann weiteten seine Augen sich. Er eilte durch den Raum, breitete die Arme aus, blieb plötzlich stehen und ließ sie sinken. „Das gibt’s doch nicht“, rief er. „Pater Xavier? Ich glaub’s nicht! Wie lange ist das denn her? Und Sie sind keinen Tag gealtert, ich schwör’s! Meine Güte, was treibt Sie denn nach Wien? Wie viele Jahre sind das jetzt …?“ Niklas Wiegant hob erneut die Hände, um Pater Xavier wie früher an den Schultern zu packen und ihm dann beim Händeschütteln die Sehnen an den Handgelenken zu zerren, doch im letzten Moment schreckte er zurück. Seine Arme pendelten hilflos an seiner Seite. „Sie sehen so … würdig aus. Dabei haben Sie immer noch die schwarzweiße Kutte an, so wie früher.“
Pater Xavier setzte der Verlegenheit ein Ende, indem er die Hände hinter dem Rücken zusammenschlug und den Kopf neigte.
„Fünfzehn Jahre ist es her, Herr Wiegant“, sagte er und war stolz darauf, fast akzentfrei sprechen zu können. „Und ich bin, was ich immer war und sein wollte: ein einfacher Gefolgsmann des heiligen Dominikus.“
„Der Bart“, sagte Niklas Wiegant. „Deshalb hab ich Sie nicht gleich erkannt.“
Pater Xavier nickte. Das Gestrüpp in seinem Gesicht fühlte sich auch für ihn ungewohnt an. Er hatte sich einen schmalen, wie zu einer Messerklinge geschnittenen Oberlippenbart stehen lassen, der in zwei kurzen, gewichsten Spitzen auslief; von der Unterlippe über das Kinn zog sich ein daumendick gestutzter Knebel, der als Krabbenfänger bezeichnet wurde und der bei den meisten anderen, die ihn trugen, durch nervöses Zupfen unterhalb des Kinns steif und fransig abstand. Pater Xavier, der nicht zu nervösem Zupfen neigte, aber in jeder Hinsicht ein guter Beobachter war, hatte die gleiche Steifheit durch sorgfältige Schmalzbehandlung erzielt. Er wusste, dass nichts unüblicher im Gesicht eines Dominikaners war als diese Barttracht und dass neun von zehn Menschen lediglich sie sehen und im Gedächtnis behalten würden anstatt des Gesichts. Letztlich hatte er ihn nur für einen einzigen Menschen wachsen lassen – den Mann auf dem Kaiserthron in Prag, dessen Mittler zu Gott Pater Xavier einmal gewesen war. Pater Xavier hoffte, dass er ihn täuschen würde.
Er hatte sich nie gefragt, warum er den Mann fürchtete. Pater Xavier fragte nicht, er analysierte; und da er mit der Analyse nicht zum Schluss gekommen war, hatte er das Problem beiseite gepackt. Vielleicht lag es daran, dass Kaiser Rudolf vor ihm, Pater Xavier, Angst hatte – und ihn deswegen hasste – wie vor keinem anderen Menschen auf der Welt. Womit sollte man so einen Menschen noch einschüchtern? Um wie viel größer konnte die Angst noch werden? Pater Xavier ahnte dumpf, dass im Zusammenhang mit seiner höchsteigenen Person Kaiser Rudolf, der manchmal schreiend vor Kindern und alten Frauen in seine Gemächer floh, ein in die Ecke getriebenes Tier war. Selbst eine Maus kämpft, wenn sie keine andere Wahl mehr hat. Doch dieses Verhalten war Pater Xavier so fremd, dass es sich ihm nicht wirklich erschloss, und so galt wiederum für ihn: Der Mensch fürchtet das am meisten, was ihm am fremdesten ist.
„Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.“
„Aber nein – wie könnten Sie jemals ungelegen sein? Sehen Sie sich um: ist das nicht ein schönes, großes Haus? Wissen Sie, mit welchem Geld das bezahlt worden ist? Dublonen, mein Freund, spanische Dublonen. Kommen Sie, ich möchte Ihnen meine Frau vorstellen.“
Theresia Wiegant hatte ihre Gesichtszüge in Ordnung gebracht und gab die höflich interessierte Gastgeberin. Sie nickte hoheitsvoll, während ihre Augen ihn blitzschnell und hungrig musterten. Pater Xavier lächelte in sich hinein.
„El sol se está levantando“, sagte er und deutete eine Verbeugung an. „Ich habe viel von Ihnen gehört, aber die Worte Ihres Gemahls sind Ihnen nicht gerecht geworden, wie blumig sie auch gewesen sind.“
„Sie sind tatsächlich ein Dominikanermönch?“, fragte Theresia Wiegant. Pater Xavier zuckte nicht einmal angesichts der Unhöflichkeit.
„Mit Leib, Herz und Seele, meine Teuerste“, sagte er.
„Gott im Himmel sei gepriesen. Pater Xavier, seien Sie willkommen in diesem Haus. Ein Gottesmann ist hier so nötig wie Wasser für Steckrüben.“ Sie packte seine Hand und küsste sie, und Pater Xavier wusste, wie er den Hunger in ihrem Blick deuten sollte.
„Wien hat sich, wie es scheint, den ketzerischen Ansichten der sogenannten Reformatoren ergeben“, sagte er.
„Dank Ihrer Anwesenheit wird das Haus Wiegant die Scheune sein, in der die Saat des wahren Glaubens gehütet wird.“
„Ich fürchte, ich werde nicht lange bleiben können.“
„Jeder Tag, den Sie hier sind, ist ein warmer Frühlingsregen auf unseren Feldern.“
Niklas Wiegants Blicke flogen zwischen seiner Frau und Pater Xavier hin und her. Pater Xavier erinnerte sich daran, dass der Kaufmann ihm damals erzählt hatte, seine Frau stamme aus dem Haus eines freien, mit dem Anbau von Türkischkorn reich gewordenen Gutsbesitzers. Ein Bauer konnte seinen Geruch loswerden, wenn er sich Mühe gab, aber nicht seine Sprache.
„Wie geht es Ihrem Sohn, mein Freund?“, fragte Pater Xavier. Er lächelte Theresia Wiegant an. „Er erzählte mir damals, Gott habe Sie mit einem Kind in Ihrem Leib gesegnet. Bestimmt haben Sie diesem einen viele weitere folgen lassen. Oder ist es ein Mädchen geworden, Herr Wiegant?“
Ein Blick in die Gesichter reichte ihm, um die eine Hälfte der Katastrophe zu erkennen, die über den Haushalt seines ehemaligen Geschäftspartners hereingebrochen war. Er setzte ein betroffenes Gesicht auf, doch auf dem Abakus in seinem Herzen begannen die Kugeln hin und her zu schießen. „Verzeihung, ich ahnte nicht …“
„Es ist gestorben“, sagte Niklas Wiegant. „Das Kind ist bei der Geburt gestorben. Es wäre heute ein junger Mann, der schon an eigene Kinder denkt.“
„Ich wäre selbst beinahe bei der Geburt gestorben“, zischte Theresia Wiegant. „Es ist nicht so, dass sein Tod meine Schuld wäre.“
„Das habe ich nie gesagt“, erklärte Niklas Wiegant.
„Ich konnte danach keine Kinder mehr bekommen“, sagte Theresia Wiegant und starrte Pater Xavier an.
„Theresia, die Wege Gottes sind …“
„Ich habe nie auch nur einen Augenblick über Gottes Wege geklagt!“
„Nein, über Gottes Wege nicht“, seufzte Niklas Wiegant.
„Es steht mir nicht an, zu richten, schon gar nicht als Ihr Gast“, sagte Pater Xavier. Theresia Wiegant starrte ihn weiterhin an.
„Doch“, sagte sie. „Richten Sie! Sie kennen meinen Mann von früher. Ich habe ihn Ihren Namen immer nur mit Hochachtung aussprechen hören. Richten Sie. Sagen Sie ihm, dass es falsch war, was er getan hat.“
„Theresia, ich bitte dich! Pater Xavier ist müde von der Reise …“
„Sie haben Recht, mein Freund. Die Bescheidenheit verbietet mir, mich Ihren Vertrauten zu nennen, und daher …“
„Ich habe Sie immer als meinen …“
„Mir ein Balg unterzuschieben!“, stieß Theresia Wiegant hervor.
„Theresia, das Kind hat einen Namen!“
„Das macht es nicht weniger zu einem Balg!“
Die beiden starrten sich an, an einem Punkt angekommen, den sie zweifellos schon viele Male zuvor erreicht hatten.
„Ich versuche zu ermessen, wie schwer es für eine Frau sein muss, der Gott keine eigenen Kinder schenkt, die Frucht des Leibes einer anderen Frau aufzuziehen“, sagte Pater Xavier und machte ein mitfühlendes Gesicht.
Theresia Wiegant drehte sich um und sah ihn an. Die Farbe wich aus ihren Zügen, während sich ihre Augen weiteten.
„Dennoch ist es Ihre Pflicht, das Kind anzunehmen. Gott der Herr hat die Schritte Ihres Mannes geleitet.“
„Gott der Herr!“, stammelte Theresia. „Der Teufel, Pater, es war der Teufel.“
Niklas Wiegants Gesichtszüge waren verzerrt. Er sah aus, als wollte er im nächsten Moment weinen oder losbrüllen oder jemanden mit den Fäusten traktieren. „Der Teufel, Theresia?“ Er stöhnte auf. „Agnes ist unser Kind, und du sprichst vom Teufel?“
„Soll ich mir vielleicht vorsagen, du hast mich betrogen, ohne dass der Teufel dich dazu verführen musste?“, schrie Theresia Wiegant.
„Ich habe dich nicht betrogen, ich habe dich nie …“
„Es ist diese Hexenstadt“, keuchte Theresia. „sie hat meinen Mann angesteckt. Ich war immer schon gegen die Handelsniederlassung in Prag, Pater. Prag ist die Stadt des Leibhaftigen. Deshalb hat es ihn auch dort so hingezogen, diesen Beelzebub auf dem Kaiserthron. Deshalb hat er Wien verlassen und sich in den Hexenpfuhl begeben, den der aufrechte Bischof Johannes von Nepomuk mit seinem letzten Atemzug verflucht hat. Zuerst hat er versucht, Wien zu verderben, als er nach all den Jahren zurückkam; jeder sagte, Kaiser Maximilian hat seinen ältesten Sohn nach Spanien geschickt, aber er hat einen schwarzen Teufel wiederbekommen, und seine schlechte Seele wird man bald in ganz Wien riechen. Doch Wien hat ihm zu viel Widerstand geleistet, und deshalb ist er dorthin gegangen, wo er unter seinesgleichen ist – nach Prag!“
Du sprichst ein wahres Wort, Weib, dachte Pater Xavier. Spanien hat Rudolf von Habsburg verändert, aber nicht so, wie du es dir vorstellst. Spanien hat lediglich einen weiteren schwachen Geist zerbrochen, weil Spanien nur die liebt, die starken Geistes sind. Du hast keine Ahnung – alles, was du hast, ist der Zorn einer betrogenen Frau.
„Prag ist wie jede andere Stadt“, sagte Niklas verbissen. „Nur schöner.“
„So lange dieser Hexenmeister in Wien war, wollte kein aufrechter katholischer Bischof seine Aufgabe antreten – wussten Sie das, Pater Xavier? Der Bischofsstuhl stand leer! Als er aus Spanien zurückkam, begannen die lutherischen und kalvinischen Ketzer Wien zu verseuchen, bis es mehr davon gab als rechtgläubige Katholiken, und es kam so weit, dass die Ketzer sich erdreisten konnten, die Hostie beim Fronleichnamsumzug zu schänden, und der Innere Rat sagte als einzige Reaktion darauf den Umzug ab – anstatt dem Verbrecher die Zunge und die Hände abzuschneiden!“
„Theresia, so darfst du nicht über den Kaiser reden!“
„Der Kaiser hat die Sünde nach Wien gebracht, und du bringst die Sünde in unser Haus!“
„Ein kleines Kind ist nicht die Verkörperung der Sünde!“, brüllte Niklas Wiegant.
„Schrei mich nicht an, Niklas Wiegant! Das habe ich nicht verdient! Ich halte dein Haus und dein Vermögen zusammen, während du auf Reisen bist, und sehe zu, dass kein Unheil geschieht. Und was tust du? Suhlst dich in geilem Fleisch und erwartest, dass ich das Balg nähre! Und lieben soll ich es auch noch? Warum hatte die Schlampe nicht die Vernunft, das Balg einfach wegzulegen? Gibt’s hier in Wien nicht genug Senkgruben? Oder hätte sie es nicht einfach ersticken können, wie es die anderen ledigen Mütter tun? O nein, Meister Wiegant, erzähl mir nichts – da war Geld im Spiel, sonst hätte sie es getan, und das Geld stammt aus deinem Beutel! Wer war sie, Niklas? Er hat mir eine grässliche Geschichte von einem Findelhaus aufgetischt, Pater, aber als ich verlangte, dorthin geführt zu werden, hat er sich geweigert!“
„Theresia, ich wollte nicht, dass du siehst, was dort …“
„War sie eine Hure? Ziehe ich das Balg einer gefallenen Frau auf, bei der du dich befriedigt hast? Schämst du dich nicht, zu einer anderen zu gehen, wo ich zu Hause bin und meine Pflicht an dir erfüllen kann?“
„Ich habe nicht …“
„O Herr, ich rufe Dich an in meiner Ratlosigkeit: so viele illegitime Kinder sterben in den Spitälern – hättest Du dieses nicht auch zu dir nehmen können? Mein einziges, mein ehrliches Kind hast Du mir genommen – warum lässt Du ein unehrliches Kind leben?“
„Lasset die Kindlein zu mir kommen, sagt unser Herr Jesus Christus.“
„Du hast kein Recht, die Worte unseres Herrn in den Mund zu nehmen, Niklas Wiegant! Du bist beschmutzt, und du hast Schmutz in unser Haus gebracht. Sagen Sie’s ihm, Pater Xavier, dass er sündigt!“
Pater Xavier, dessen Faszination mit jedem Wort Theresias gestiegen war, sagte nichts. Theresia stampfte mit dem Fuß auf.
„Ich habe geschwiegen, Niklas Wiegant, ich habe geschwiegen, achtzehn Jahre lang habe ich geschwiegen, weil ich nicht wollte, dass die Fäulnis, die du in unser Haus gebracht hast, nach draußen dringt. Doch jetzt schweige ich nicht mehr. Ich lasse nicht zu, dass du deine Sünde öffentlich machst! Du hast unser Haus zerstört, Niklas – ich werde verhindern, dass du auch noch das eines Freundes zerstörst!“
Theresia Wiegant trat einen Schritt zurück. Ihr Gesicht glühte. „Pater Xavier, wenn Sie sein Freund sind, dann bringen Sie ihn zur Vernunft. Und wenn er sich nicht zur Vernunft bringen lässt, dann … dann seien Sie mein Freund und … exkommunizieren sie ihn! Lieber sehe ich zu, wie man ihn vor der Stadtmauer totschlägt, als dass ich Zeuge werde, wie er selbst seine Seele der Hölle überantwortet!“
„Theresia!“ Niklas Wiegant sah aus, als müsste er sich jeden Moment übergeben.
Theresia stakte mit steifen Schritten hinaus – eine Königin, die soeben den Befehl gegeben hatte, ihr eigenes Land vor dem heranrückenden Feind zu verbrennen. Pater Xavier war von ihrer Leidenschaft beeindruckt. Was könntest du mit diesem Feuer anfangen, Weib, dachte er, wenn du dich nicht dafür entschieden hättest, mit seiner Hilfe dein Leben und das deines Gatten zu verbrennen? Im Raum blieb Schweigen zurück, sah man von den krampfhaften Atemzügen ab, mit denen Niklas Wiegant versuchte, seine Fassung wiederzuerlangen.
„Es tut mir Leid, dass ich nicht die Geistesgegenwart fand, den Raum zu verlassen“, sagte Pater Xavier schließlich. „Dies war nicht für meine Ohren bestimmt.“
„So schlimm war es noch nie. Sie ist total außer Fassung geraten, als ich ihr meine Heiratspläne für Agnes mitteilte.“
Pater Xavier lächelte. „Wie immer denken Sie an die Zukunft Ihres Hauses, mein Freund, und an die Ihrer Lieben.“
„Pater Xavier, das Mädchen ist kein Bastard! Sie müssen mir glauben.“
„Es geht mich überhaupt nichts an, mein Freund. Sie sind mir keine Rechenschaft schuldig. Meine Kenntnis der Vorgänge, die dazu führen, dass ein Mann eine Frau begehrt, ist gering und seit langem zu Asche geworden in meinem Herzen, aber ich glaube zu wissen, wie stark sie in den Herzen anderer Männer wirken können.“
„Sie ist … ich habe sie …“ Niklas Wiegant musterte Pater Xaviers Gesicht. Plötzlich hob er die Hände über den Kopf, ließ sie wieder fallen, setzte sich schwer auf eine Truhe und starrte den Boden an. „Das Kind war eine Waise. Ich ahnte, dass es sterben würde, wenn ich ihm nicht half. Es war nur ein paar Wochen alt und so schwach, dass es aussah wie ein Greis. Es hatte die Augen offen, doch ob es etwas wahrnahm und was, kann ich nicht sagen. Es starrte mich die ganze Zeit über mit diesen weit offenen, riesengroßen Augen an, ohne zu blinzeln. Acht von zehn Kindern in Findelhäusern sterben, Pater Xavier! Wollen Sie wissen, woher ich das weiß?“
Niklas wartete nicht ab, bis Pater Xavier sich geäußert hatte.
„Weil ich schon vorher mit dem Gedanken gespielt habe, ein Kind aus dem Waisenhaus zu retten und in unsere Familie aufzunehmen. Glauben Sie mir, Pater Xavier, meine Frau war nicht immer so, wie Sie sie heute kennen gelernt haben. Die Kinderlosigkeit hat sie verbittert. Es gäbe keine bessere Gefährtin, um Haus und Hof und Geschäft zusammenzuhalten, und es gibt keine in ganz Wien, die ihr dabei das Wasser reichen könnte, und doch glaubt sie, dass sie versagt hat – weil sie keinem Kind das Leben schenken konnte. Ich habe so oft gedacht, dass dies die Lösung wäre: ein Kind anzunehmen. Ich habe es niemals gewagt. Bis auf dieses eine Mal – als dieses Kind mich mit seinen großen Augen ansah und mir zu verstehen gab: Du hast die Macht, mich zu retten. Rette mich, Niklas Wiegant.“
„Beruhigen Sie sich, mein Freund. Ich kenne die Größe Ihres Herzens. Was Sie taten, glaubten Sie im Einklang mit Gott zu tun.“
„Ich tat es im Einklang mit Gott, auch wenn Ihnen das als Blasphemie erscheinen mag! Wissen Sie, wie die Zustände in Findelhäusern sind? Es sind die reinen Mördergruben. Als ich eintrat, trug man mir schon eine Kiste entgegen. Es waren mindestens drei Kinderleichen darin, einfach hineingeworfen und schon mit Kalk überstäubt … Ich konnte nicht … ich musste wieder an diesen Anblick denken, als ich dem Kind in die Augen sah …“
„Gott sei den armen Seelen gnädig“, sagte Pater Xavier, weil er wusste, dass dies angebracht war. Er beobachtete Niklas Wiegant, der sich mit den Händen über die Augen wischte und – dessen war Pater Xavier sicher – vor seinem inneren Auge weder jetzt noch damals vor achtzehn Jahren die drei toten Kinder in der Kiste gesehen hatte, sondern nur ein Kind, und zwar sein eigenes, das, auf dessen Geburt er sich die ganze Zeit in Madrid gefreut hatte und das man vermutlich nicht einmal in einer Kiste, sondern in ein Tuch gewickelt begraben hatte, ein stilles Bündel, das einen Atemzug getan und dann nie wieder geatmet hatte.
„Ich habe eine Spende getätigt und das Kind mitgenommen. Ich habe eine Kinderfrau gemietet, die es zu sich nahm und aufpäppelte, sechs, acht Wochen lang, ich weiß nicht mehr genau, wie lange. Das Kind gedieh. Es starb nicht, es wurde nicht einmal krank, wann immer ich es besuchte, sah es mich die ganze Zeit über mit seinen großen Augen an, und ich fragte mich nicht nur einmal und frage mich immer noch, ob Gott der Herr die Seele unseres toten Kindes nicht noch einmal auf die Welt zurückgeschickt hat, um ihr eine zweite Chance zu geben, und ob Gottes Engel es nicht so gedeichselt haben, dass ich ihr begegnete.“
Niklas Wiegant tastete blind in seinem Wams herum, fand schließlich ein Tuch in seinem Ärmel, zog es heraus und schnäuzte hinein. „Entschuldigen Sie, Pater Xavier“, sagte er.
„Keine Ursache, mein Freund“, erwiderte Pater Xavier und verzog den Mund.
„Im Nachhinein sagte ich mir, dass ich Theresia von Anfang an hätte einweihen müssen. Aber ich fürchtete damals, dass sie meinen Plan ablehnen würde. Ich konnte doch nicht ahnen, wie berechtigt meine Furcht war. Ich dachte damals, wenn sie das Kind ablehnt, noch bevor es in unserem Haus ist, dann kann ich es auch nicht über unsere Schwelle bringen; also muss ich es zuerst mit nach Hause bringen, und dann wird sie es sehen und binnen kurzer Zeit so lieben, wie ich es liebe.“
Niklas Wiegant schüttelte den Kopf und benötigte das Tuch erneut. Pater Xavier betrachtete den zusammengesunkenen, massig gewordenen Leib des Kaufmanns auf der Truhe. Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung bei der Tür wahr, und ohne aufzusehen erkannte er: eine junge Frau, hoch gewachsen, schlank, bereits fraulich, eine Mähne lockigen dunklen Haares, eine hohe Stirn, kühn geschwungene Brauen, blitzende Augen über hohen Wangenknochen – eine Schönheit, die sich selbst seinem schwachen Augenlicht offenbarte, die noch nicht einmal zu voller Blüte gereift war und die keinerlei Ähnlichkeit mit Niklas oder Theresia Wiegant hatte … Ein Wesen, das der Teufel erschaffen hätte, um die Menschen zu verführen, wenn der Teufel nicht mit ganz anderen Methoden gearbeitet hätte. Die junge Frau blieb überrascht im Türrahmen stehen. Sie hatte sich mit der lautlosen Grazie derer bewegt, die sich in ihrem Körper vollkommen zu Hause fühlen. Niklas Wiegant putzte sich die Nase. Er saß mit dem Rücken zur Tür. Pater Xavier überlegte einen halben Herzschlag lang.
„Und so ist es gekommen, dass Ihre Tochter Agnes in Wahrheit gar nicht Ihre Tochter ist“, sagte er laut.
„Nicht im üblichen Sinn, Pater, aber …“
„Weil Sie sie aus einem Findelhaus geholt und mit nach Hause gebracht haben.“
„Ja, so ist es.“
Pater Xavier lächelte auf Niklas Wiegant hinab. Die Gestalt in der Tür stand dort wie erstarrt. Pater Xavier konnte fast das Entsetzen fühlen, das von ihr ausstrahlte.
„Und Sie haben es ihr nie gesagt?“
„Nein! Ich dachte, ich sage es ihr vor der Hochzeit. Trotz all der Worte, die Theresia heute verloren hat, hat sie Agnes doch nie die Wahrheit gesagt. Ich habe sie beschworen, es nicht zu tun, und sie hat sich daran gehalten.“
„Vermutlich eher aus Widerwillen dem Kind und seiner Herkunft gegenüber als aus fraulichem Gehorsam.“ Pater Xavier sah, wie die Gestalt in der Tür sich am Rahmen festhalten musste.
„Sie dürfen Theresia nicht nach dem beurteilen, was Sie heute gesagt hat.“
„Und diese Heiratspläne?“ Pater Xavier bedauerte, dass es ihm nicht möglich war, außerhalb seines Körpers zu treten und sich selbst dabei zuzusehen, wie er seine Waffen – Worte – gebrauchte. Wenn er Gespräche rückwirkend analysierte, dann analysierte er wie ein Kämpfer ein Gefecht: Parade – Finte – Ausfall. Pater Xaviers Gefechtstaktik bestand stets aus ein paar Paraden und dann einer langen Reihe wohlüberlegter, gnadenloser Ausfälle, deren jeder ein lebenswichtiges Organ traf.
„Ich habe einen Geschäftspartner namens Sebastian Wilfing“, sagte Niklas Wiegant. „Zugleich ist er mein bester Freund. Sein ältester Sohn ist siebzehn Jahre alt; Sebastian und ich haben beschlossen, dass wir die Verlobung gleich nach der Fastenzeit bekannt geben wollen.“
„O mein Gott“, sagte die Gestalt in der Tür.
Niklas Wiegant fuhr herum. Pater Xavier spielte eine vollendete Pantomime des total Überraschten.
„Agnes …“, stammelte Niklas.
„O mein Gott, Vater“, sagte Agnes. „O mein Gott, o mein Gott, o MEIN GOTT!“
Sie warf sich herum und rannte in den Flur hinaus. Niklas Wiegant taumelte auf die Beine. „Agnes!“, schrie er. Er lief ihr hinterher. „Agnes, warte, mein Kind, warte! Wie lange hast du schon … wie lange bist du schon …?“ Seine Stimme klang hysterisch vom engen Gang herein.
Pater Xavier stand einen Augenblick lang in der leeren Stube. Was für eine Geschichte, mein Freund, dachte er. Und ich glaube dir sogar jedes Wort, von den schrecklichen Zuständen in den Findelhäusern bis zu deinen immer wieder abgebrochenen Anläufen, ein Kind dort herauszuholen und es zu adoptieren. Du hast mich nur in einer Sache angelogen: Dieses Kind hast du nicht in einem Findelhaus hier in Wien gefunden. Ich weiß nicht, wo du es gefunden hast, und ich weiß nicht, warum du mich angelogen hast, aber ich werde mir diese Lüge merken.
Dann machte er sich auf den Weg, seinen Geschäftspartner aus den alten Zeiten in Madrid einzuholen und zu verhindern, dass er seine Adoptivtochter rechtzeitig erreichte und die Sachlage klärte, bevor der Bruch zwischen allen Beteiligten im Hause Wiegant endgültig wurde. Während er die Treppe hinunterlief, lächelte er.