Читать книгу Die Teufelsbibel - Richard Dübell - Страница 13
4.
ОглавлениеDER GOTTESDIENST ZUR Komplet stand unter dem Eindruck des Geschehens vom Tag. Nicht alle Anwesenden zitterten allein wegen der Kälte der Novembernacht, die von den bloßen Dachsparren auf die kleine Kongregation herunter sank. Prior Martin hatte zum Beginn des Stundengebets die Versikel „O Gott, komm mir zu Hilfe!“ ausgewählt; es schien mehr Bedeutung zu haben als sonst – und es war weniger Hoffnung zu spüren, dass Gott auf den Hilferuf antworten würde. Die Worte der Psalmen, die darauf folgten, wogen ebenfalls schwerer als sonst: Erhöre mich, wenn ich rufe, Gott, der du mich tröstest in Angst! und: Lobet den Herrn, alle Knechte, die ihr steht des Nachts im Hause des Herrn! und: Meine Zuversicht und meine Burg sind mein Gott, auf den ich vertraue! Ein oder zwei Brüder weinten offen, und das Gesicht des Priors war das eines Mannes, der kein Entrinnen vor dem Höllenfeuer sehen kann. Pavel gab es bald auf, unter die Kapuzen der Mönche um ihn herum zu spähen; was er sah, ließ seine Eingeweide vor Angst zu Wasser werden. Prior Martin stimmte selbst den Lobgesang an; doch seine Stimme klang falsch, und er brach nach nur einer Strophe ab. Dann schlug er die Bibel auf, starrte auf die Seiten, klappte sie wieder zu und räusperte sich.
„Tun wir, wie der Prophet uns befiehlt“, sagte er. „Custodiam vias meas, ut non delinquam in lingua mea. Ich will auf meine Wege achten, damit ich mich mit meiner Zunge nicht verfehle. Ich stelle eine Wache vor meinen Mund, ich verstumme, ich demütige mich und schweige sogar vom Guten.“
„Amen“, sagten die Brüder. Pavels Gedanken holten unwillkürlich nach, was er in der Zeit vor dem Beginn seines Noviziats so oft gehört hatte: Regula Sancti Benedicti, Caput VI: De tacitunitate. Von der Schweigsamkeit.
„Was zeigt uns der Prophet? Man soll der Schweigsamkeit zuliebe bisweilen sogar auf gute Gespräche verzichten. Umso mehr müssen wir von bösen Worten lassen. Mag es sich also um gute und aufbauende oder um schlechte und unheilbringende Worte handeln: dem vollkommenen Jünger ist nur selten das Reden erlaubt wegen der Bedeutung der Schweigsamkeit. Steht es doch geschrieben: Beim vielen Reden wirst du der Sünde nicht entgehen!, und: Tod und Leben stehen in der Macht der Zunge!“
Der Prior schien jeden einzelnen von ihnen zu mustern. In der langen Stille hörte Pavel das Räuspern und Atmen der kleinen Gemeinschaft. Er fühlte den Blick des Priors auf sich und versuchte genug Mut zu sammeln, ihm zuzulächeln und ihm damit zu bedeuten, dass – ganz gleich was auch geschehen war oder noch geschehen würde – Prior Martin im Herzen des Novizen Pavel immer den Platz des weisesten, frömmsten und besten Menschen auf der Erde einnehmen würde. Als er endlich wagte, den Kopf zu heben, war der Blick des Priors längst weitergewandert.
Der Prior holte Atem, doch statt das Nunc dimittis zu singen, sagte er: „Nun lass, Herr, Deinen Knecht in Frieden scheiden. Meine Augen haben heute das Werk des Bösen betrachten müssen, aber ich weiß um das Heil, das Du vor allen Völkern bereitet hast.“
Die Gemeinschaft rappelte sich von den Knien auf und machte sich still auf den Weg aus der Kirche. Pavel schlurfte mit Buh an seiner Seite hinterher. Die Botschaft Prior Martins war klar bei ihm angekommen: dass über die Tragödie des heutigen Tages Stillschweigen zu bewahren war. Indem er das Vorkommnis nicht erwähnte, sondern nur die Ordensregel rezitierte, schien er bereits den ersten Schleier des Vergessens davor gezogen zu haben. Das Massengrab, das den ganzen Nachmittag lang in einer Ecke des Mönchsfriedhof geschaufelt worden war, würde eine weitere Stufe des Vergessens einleiten. Er fragte sich, ob die getöteten schwarzen Mönche ebenfalls dazugelegt würden, und mit einer Art Schock wurde ihm klar, dass Prior Martin befohlen haben könnte, auch das lebende Neugeborene dort mit seiner toten Mutter zu begraben. Er blickte auf und sah plötzlich das grimmige Gesicht Bruder Tomás’ vor sich.
„Der Vater Superior wünscht dich zu sprechen“, sagte er. „Dich und deinen Freund.“
Die Furcht schoss in Pavel hoch und machte seinen Mund trocken. Nicht einmal in all den Monaten war Prior Martin unwirsch gewesen; nicht ein einziges Mal, seit er das tagelange Warten zweier junger Burschen namens Pavel und Petr (dessen wahrer Name über seinen Spitznamen Buh selbst bei Pavel in Vergessenheit zu geraten pflegte) vor dem Braunauer Klostertor damit belohnt hatte, dass er sie als Postulanten in die Klostergemeinschaft aufgenommen und ihnen zuletzt die Kutte der Novizen ausgehändigt hatte. Obwohl Buh meistens so arg stotterte, dass seine eigene Mutter ihn nicht verstanden hätte, und obwohl Pavel das Verständnis der Benediktinischen Regeln solche Mühe bereitete, dass er sie sich ständig vorsagen musste, um sie nicht durcheinander zu bringen… Doch in der heutigen Situation jagte der Gedanke, dass Prior Martin ihn und Buh zu sprechen wünschte, Pavel Angst ein. Vielleicht würde der Vater Superior ihnen eröffnen, dass angesichts der Umstände kein Platz mehr für sie im Kloster war? Pavel ahnte, dass Buh es nicht ertragen würde, auch diese letzte Heimat zu verlieren; von sich selbst wusste er es. Er nahm sich vor, zur Not auf den Knien zu flehen, wenn es zu dieser schrecklichen Entwicklung kommen würde; und war sich gleichzeitig mit sich selbst uneins, ob dies nicht ein Zeichen von Ungehorsam wäre und Prior Martin noch mehr in Verlegenheit brächte. Und war es nicht ein Zeichen sündiger Selbstsucht, diese Gedanken überhaupt zu denken, nach allem, was heute im Klosterhof geschehen war? Er nahm Buh, der wie stets an seiner Seite stand wie ein Bulle neben seinem Hüterbuben, an der Hand und trat beiseite.
Schließlich hatten sie die Kirche für sich: Prior Martin, Bruder Tomás, Pavel und Buh. Buh hielt sich hinter dem Rücken seines Freundes in dem vollkommen hoffnungslosen Versuch, sich dort zu verstecken; er war zwei Köpfe größer und fast doppelt so breit wie der magere kleine Pavel.
„Du hättest nie diese protestantischen Weiber in unsere Klause lassen dürfen, Vater Superior“, sagte Bruder Tomás.
„Ich hätte mich nie darauf verlassen dürfen, dass die Aufgabe der Kustoden einen Mann nicht irgendwann einmal zerbrechen würde“, erwiderte der Prior.
„Diese Aufgabe ist Gott ein Gräuel.“
Der Prior starrte Bruder Tomás in die Augen. Nach einem Moment des stummen Zweikampfs senkte der alte Mann den Blick.
„Die Aufgabe, die Welt vor dem Wort Luzifers zu schützen?“, sagte Prior Martin. „Gibt es ein wichtigeres Werk, das ein gläubiger Christ und Bruder in benedicto verrichten kann? Die Morde mögen auf mich kommen, aber die Seelen der beiden toten Kustoden werden von Gott dem Herrn erkannt werden, ganz gleich, was einer von ihnen heute an Grauenvollem getan hat. Der Verderber hat seine Schritte gelenkt, nicht er selbst.“
„Wir sollten es verbrennen“, murmelte Bruder Tomás. „Du weißt, was ich von diesem … Ding halte. In aller Demut, Vater Superior: Was den Glauben bedroht, muss im Feuer geläutert werden.“
„Wenn es sein Geschick gewesen wäre, verbrannt zu werden, dann hätten es unsere Vorgänger schon vor vierhundert Jahren dem Feuer übergeben. Gottes Wege sind wunderbar; indem er zugelassen hat, dass das Wort des Teufels in die Welt kommt, will er uns zeigen, dass es die Aufgabe der Menschen ist, Luzifers Werk zu stören. Wir haben die Wahl zwischen dem Guten und Bösen; da sieht Gott es auch als unsere Arbeit an, uns selbst vor dem Bösen zu schützen.“
Bruder Tomás schwieg. Pavel versuchte nicht zu atmen und nicht zu denken, doch sein Hirn drehte sich im Kreis. Er verstand nur eines, aber das hatte er schon gewusst, kaum dass ihm das besondere Geheimnis dieser sterbenden Klostergemeinschaft klar geworden war: es gab keine wichtigere Aufgabe für einen Benediktiner als die, die die schwarzen Mönche in den Gewölben unterhalb des Klosterbaus verrichteten.
„Werden die Brüder schweigen?“, fragte der Prior.
„Die Brüder werden gehorchen, Vater Superior.“ Bruder Tomás’ Stimme hörte sich feindselig an.
„Und falls etwas davon nach draußen in das Dorf gelangt?“
„Schweigen überall“, sagte der Torhüter.
„Regula Sancti Benedicti, Caput VI“, sagte Prior Martin.
“Das hat der heilige Benedikt nicht damit gemeint!”
“Regula Sancti Benedicti, Caput V: De oboedientia”, sagte Prior Martin und lächelte freudlos.
Das Gesicht von Bruder Tomás fror ein. „Gehorsamkeit“, flüsterte er. „Ich kenne die Regel, Vater Superior.“
Der Prior wandte sich abrupt ab. Pavel sah ihn erschrocken an, als er einen Schritt auf ihn zu trat.
„Du hast dich heute gut gehalten, mein junger Bruder“, sagte Martin und lächelte. Pavel sah den Schweiß auf der Stirn des Mannes und blinzelte, als sein goldenes Kruzifix Reflexe warf, aber hauptsächlich sah er das Lächeln. Er spürte, wie er vorsichtig zurücklächelte. „Du hast Ruhe bewahrt, und du warst der Einzige, der bemerkte, dass die Frau noch atmete …“
„Wenn du es sagst, Vater Superior“, stammelte Pavel. Dann: „Buh hat sie zuerst gesehen; ich wollte ihn auf die Beine ziehen und ihm seine Würde zurückgeben, doch er deutete immer in ihre Richtung und sagte: 'Dort, dort drüben, dort drüben, sie lebt, sie lebt …'“
„Wer ist Buh?“, fragte der Prior.
Pavel deutete verlegen hinter sich.
„Bruder Petr“, sagte der Prior. „Stimmt das, Bruder Petr? Du hast dein Herz Bruder Pavel anvertraut?“
„U-u-u-und …“, stammelte Buh und zeigte auf den Prior. „U-u-u-u-unnnd …!“
„Und mir?“ Der Prior lächelte. „Vertraue zuerst auf Jesus Christus, Bruder Petr; dann auf den heiligen Benedikt; und dann auf die Brüder um dich herum. Das ist die richtige Reihenfolge.“
„Gnnn …“, machte Buh. Er nickte heftig. „Gnnnn …!“
„Vater Superior“, sagte der Torhüter, „bei allem Respekt, die beiden sind Novizen.“
„Der Schritt vom Novizen zum Bruder ist ein Schritt des Glaubens und des Verstehens“, sagte der Abt. „Ich zweifle nicht daran, dass die beiden den rechten Glauben haben. Ich habe heute gesehen, dass sie auch den nötigen Verstand besitzen.“
„Der da“, sagte Bruder Tomás und zeigte auf Buh, „hat noch nicht erkennen lassen, dass er auch nur den geringsten Verstand besitzt.“
„Er hat Verstand genug, sich auf seinen Freund zu verlassen, und der hat Grips für zwei. Nicht wahr, Bruder Pavel?“
Pavel hatte Verstand genug, den Kopf zu schütteln und zu murmeln: „Ich bin nur ein unbedeutender Diener des Herrn.“
„Das kannst du nicht machen, Vater Superior“, sagte Bruder Tomás.
„Morgen ist die Profess“, sagte Prior Martin. „Ich habe es so beschlossen. Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen. Hört zu, Bruder Pavel, Bruder Buh: Ich biete euch an, morgen die Profess abzulegen. Anders als sonst üblich beim Übertritt aus dem Noviziat wird es keine zeitliche Profess sein. Wenn ihr morgen den Eid ablegt, wird es für immer sein. Ihr habt die Nacht über Zeit, es euch zu überlegen.“
„Aber … warum …?“, stammelte Pavel.
„Weil ihr, wenn ihr euch so entscheidet, gleich danach die Aufgabe übertragen bekommt, die Welt vor dem Wort des Teufels zu schützen. Es müssen sieben Kustoden sein, die das Geheimnis unserer Gemeinschaft bewachen. Nach heute sind es nur noch fünf – gerade genug, um das Böse in Bann zu halten, aber nicht genug, um die Macht des Buches auf lange Sicht zu binden. Hast du verstanden, was ich gesagt habe, Bruder Pavel?“
Die wichtigste Aufgabe, die ein Benediktiner in dieser Welt erfüllen konnte. Die wichtigste Aufgabe … die wichtigste Aufgabe … In Pavels Kopf drehten sich die Gedanken, ohne Fuß fassen zu können. Er hörte, wie jemand: „Ja, ich habe verstanden!“, sagte, und stellte fest, dass er es selbst gewesen war.
„V-v-v-v-v…“, echote eine tiefe Stimme hinter ihm.
Der Prior lächelte. Er wandte sich um.
„Schön“, sagte er. „Es soll geschehen, wie ich gesagt habe.“
„Ich gehorche“, sagte Bruder Tomás zwischen den Zähnen.
„Und … Bruder Tomás? Was ist eigentlich aus dem Kind geworden?“
Der Torhüter kniff die Augen zusammen. „Eine Frau aus dem Dorf hat sich seiner angenommen. Sie hat ihr eigenes Kind vor ein paar Wochen verloren, aber da ihr die Milch schon eingeschossen war, stillt sie es.“ Bruder Tomás zögerte einen winzigen Moment. „Das Kind hat keinen Vater und das Weib keinen Mann.“
„Du hast klug gewählt, Bruder Tomás. Ich möchte, dass du Folgendes tust: Such die Frau auf und nimm ihr das Kind weg. Bestimme einen Knecht aus dem Dorf; dieser soll es in den Wald legen und seinem Schicksal überlassen. Solange es lebt, wird jemand Fragen stellen; solange jemand Fragen stellt, ist unser Geheimnis nicht sicher. Ich werde dir Geld geben, für die Frau und den Knecht. Der Betrag wird reichlich sein; er soll sie in der Welt ausstatten und daran hindern zu plaudern. Das alles ist bis zur nächsten Prim erledigt. Hast auch du mich verstanden?“
Das Gesicht des Priors war regungslos, doch Pavel hätte schwören können, dass es in den letzten Augenblicken um Jahre gealtert war. Die Augen des alten Mönchs funkelten vor Hass.
„Ich gehorche“, sagte Bruder Tomás schließlich. Er stapfte hinaus.
Der Prior drehte sich zu Pavel und Buh um. „Geht und sucht Rat in euch selbst und im Zwiegespräch mit Gott“, sagte er. „Morgen zur Prim will ich eure Entscheidung hören.“
Pavel und Buh schlurften durch die Kirche und öffneten das Portal, das Bruder Tomás geräuschvoll hatte zufallen lassen. Pavel drehte sich noch einmal um. Prior Martin kniete vor dem Altar, die Hände vor das Gesicht geschlagen. Seine Schultern zuckten. Pavel schloss das Portal ohne einen Laut und schlich an der Seite von Buh in die Nacht hinaus.