Читать книгу Die Wächter der Teufelsbibel - Richard Dübell - Страница 24

2.

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Man konnte der Baustelle ansehen, dass sie aus einer Ruine entstanden war. Wenn man wollte und nahe genug heranging, konnte man es sogar riechen: Ruß und Brand, uralte, nass gewordene Asche, ätzender Staub im Sommer, mürbes Mauerwerk und müde Schneereste in den Ecken an einem frühen Märztag wie heute. Alexandra fühlte jedes Mal, wenn sie hierherkam, die gleiche Mischung aus Beklommenheit, Bedauern und Furcht. Sie war lange nach dem Brand der Niederlassung der Firma „Wiegant & Wilfing“ in Prag geboren worden und kannte die Geschichte nur aus zweiter Hand: die Geschichte über die unheimlichen Mönche, die mit einer Mission des Todes gekommen waren und die in Kauf genommen hatten, ganz Prag in ein Feuermeer zu verwandeln, um die eine Seele auszulöschen, die die Verbindung zu ihnen und ihrem Schatz darstellte. Der Schatz war die Teufelsbibel gewesen.

Doch auch die Erzählungen deckten sich nicht ganz. Manchmal schien es Alexandra, als redeten ihre Eltern bewusst unzusammenhängend darüber, damit sich ihr nicht alles erschloss, und ganz besonders unstimmig wurde das Ganze, wenn Onkel Andrej und Wenzel zugegen waren. Alexandra argwöhnte, dass einer von beiden oder gar beide etwas nicht wissen sollten, etwas, das aber der Kern der Geschichte war und weshalb diese sich um ein gähnendes Loch in ihrer Struktur herumwand wie eine Schlingpflanze, die vor langer Zeit einen Baum erdrückt hatte und sich jetzt an die leere Luft klammerte.

Das Haus war zur Hälfte wieder aufgebaut worden, das Werk von Sebastian Wilfing senior, der der Partner ihres Großvaters Niklas Wiegant gewesen war. Der alte Wilfing (auch ihn hatte sie nicht mehr kennengelernt) war davon ausgegangen, dass die Partnerschaft der beiden Firmen einfach weitergehen würde wie zuvor, mit zwei Häusern in Wien und einer gemeinsamen Filiale in Prag. Dass die Verantwortung für die Wiegant’schen Geschäfte in Prag an das jung verheiratete Paar Agnes und Cyprian Khlesl übergehen sollte, hatte Wilfing senior in keiner Weise betrübt – obwohl er einmal als Schwiegervater für Agnes vorgesehen gewesen war.

Aus den alten Geschichten wusste Alexandra, dass ihr Vater mit Hilfe seines Onkels, Kardinal Melchior Khlesl, damals das Haus gemietet hatte, in dem sie noch immer lebten, ein paar Steinwürfe entfernt von der alten Stelle in der Königsgasse, und sich auf seine übliche zupackende Weise am Wiederaufbau der Ruine beteiligt hatte.

Doch dann war Sebastian Wilfing senior gestorben, und Sebastian Wilfing junior (ihn hatte sie vor ein paar Jahren kennengelernt, bei einem Besuch in Wien) hatte klargemacht, dass er nicht nur das Haus nicht weiterbauen würde, sondern auch alle Geschäftsaktivitäten in Prag einstellen und abgesehen davon keinen weiteren Kontakt mit einem Vipernpack wie den Khlesls wünsche, nicht einmal über hundert Meilen Entfernung bei Nacht und Gegenwind. Bevor sie Sebastian junior zum ersten Mal gehört hatte, hatte sie nicht verstanden, warum ihre Mutter, wann immer sie dessen Auslassungen wiedergegeben hatte, ein gequietschtes Oink! anzufügen und dann in wildes Gekicher auszubrechen pflegte. Dann hatte sie seinen knappen Gruß entgegengenommen und hatte das Oink! erstmalig im Original gehört. Sebastian Wilfing juniors Stimme galoppierte in Tonlagen herum, die man einem Jungferkel gerade noch so nachgesehen hätte, und wenn er versuchte, seinen Ärger zu unterdrücken, gerann sie zu einem Quietschen, das besagtem Jungferkel ein pikiertes Kopfschütteln entlockt hätte.

Wie auch immer, die Ruine war nicht weiter renoviert worden, ihre Eltern hatten den Mietvertrag ihres neuen Heims in einen Kaufvertrag umgewandelt, und da stand das alte, verlassene Gemäuer nun, die Überreste des Gerüsts von seinen Flanken hängend wie das zerrissene Leichentuch eines lange schon mumifizierten Körpers. Mittlerweile war es vermutlich gefährlich, sich hineinzuwagen. Es sah aus, als könnte ein Windstoß es in sich zusammenfallen lassen, und dass es immer noch stand, schien weniger für die Solidität des Gebäudes zu sprechen als für die Vermutung, dass in dieser Ecke Prags kein Wind wehte.

Es verstand sich von selbst, dass Alexandra dieser Gefahr nur vage Beachtung schenkte, wenn sie durch den Bau schnürte. Als äußerste Vorsichtsmaßnahme hatte sie akzeptiert, nicht in das Kellergewölbe hinunterzusteigen. Es war noch im Originalzustand, hatte den Zusammenbruch der Mauern damals überstanden und nur hätte freigelegt zu werden brauchen. Der Gedanke, dort unten eingeschlossen zu sein und zu ersticken, wenn die Baustelle zusammenbrach, war etwas, das selbst eine junge Frau abschreckte, die die Hartnäckigkeit und Unerschrockenheit beider Elternteile geerbt hatte.

Abgesehen davon übte das Haus eine seltsame Faszination auf Alexandra aus, als wäre nicht nur eine halb erzählte Geschichte in seinen brüchigen Mauern eingeschlossen, sondern eines der Geheimnisse ihrer Existenz. Wann immer sie wie jetzt ihre Heimatstadt Prag für ein paar Wochen verlassen musste – der alljährliche Besuch in Wien stand bevor –, fühlte sie sich beinahe gezwungen, vorher dort vorbeizuschauen.

Dass nicht nur sie das ungewisse Locken vernahm, wäre ihr nicht im Traum in den Sinn gekommen, wenn sie nicht plötzlich Wenzel von Langenfels hätte herankommen sehen, ihren peinlichen Cousin.

Es war zu spät, um sich weiter ins Innere des Gebäudes zurückzuziehen, er war schon fast an der Tür. Entschlossen trat sie ihm in den Weg. „Schnüffelst du mir nach?“

Wenzel holte Luft. Er war erschrocken, aber er war wenigstens keiner von denen, die theatralisch zusammenzuckten und sich am Türrahmen anlehnen mussten.

„Nein“, sagte er.

„Was tust du dann hier?“

Er zuckte mit den Schultern. „Mein Vater kommt ab und zu hierher.“

„Was? Das ist doch das alte „Wiegant & Wilfing“-Haus. Was hat dein Vater damit zu tun?“

„Keine Ahnung. Aber er kommt mindestens einmal im Jahr hierher.“

„Dann hast du ihm nachspioniert, oder?“

Er zuckte wieder mit den Schultern.

„Was tut er denn, wenn er hier ist? Sucht er irgendwas?“

„Natürlich sucht er irgendwas.“

„Buddelt er hier herum?“

Wenzel lächelte schwach. „Um etwas zu suchen, muss man nicht rumgraben oder Steine umdrehen und so weiter.“

„Ach so. Und was sucht er dann. Die Liebe?“ Sie grinste spöttisch. Wenzel verzog keine Miene, und Alexandra wurde klar, welche Grobheit ihr soeben entschlüpft war. Sie wurde über und über rot.

Eigentlich mochte sie ihren Onkel Andrej von Langenfels. Er strahlte eine seltsame Mischung aus Trauer und Zufriedenheit aus, wie ein Mann, der etwas Wertvolles verloren, aber sich damit abgefunden hatte und der im Austausch dafür etwas gefunden hatte, was ihm nun das Wichtigste auf der Welt darstellte. Er wirkte wie ein Mensch, der an einem Ziel angekommen war. Man konnte sich darauf verlassen, dass er wusste, wovon er redete, und dass er das tat, was er wollte, und in der Nähe eines solchen Menschen konnte man sich so geben, wie man war. Ihr Vater war von ähnlicher Art, ohne die Traurigkeit Andrejs, aber dafür von einer gelassenen Ruhe, die seinem Schwager fehlte. Andrej war derjenige, der sich früher unweigerlich auf dem Boden wiedergefunden und mit den Kindern gespielt hatte. Cyprian hatte ebenso unweigerlich in einer Ecke gesessen und zugesehen, und Alexandra hatte sich beruhigt gefühlt, wenn sie sein Lächeln und das knappe Kopfnicken empfangen hatte, und gewusst, dass er auf sie aufpasste. Alexandra liebte ihren Vater und verehrte ihren Onkel, den Bruder ihrer Mutter. Warum es ihr so schwerfiel, mit ihrem Cousin auszukommen, war ihr selbst ein Rätsel. Bei Wenzel mutmaßte sie in Momenten innerer Einsicht, dass es hauptsächlich Eifersucht war, die sie dazu trieb, ihm immer wieder Seitenhiebe zu versetzen. Er war jemand, der für einen anderen Menschen dessen Ein und Alles darstellte – für seinen Vater. Alexandra wusste, dass ihre Eltern sie nicht mehr hätten lieben können, als sie es taten, aber sie hatten auch sich gegenseitig, und das Ausmaß an Liebe, das sie füreinander empfanden, war ständig fühlbar. Alexandra fühlte sich zuweilen als Außenseiterin inmitten all der Wärme, die man ihr entgegenbrachte. Sie wusste nicht, ob es ihren Brüdern ähnlich ging, und hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als sie zu fragen. Das Seltsamste – und vermutlich ein weiterer wichtiger Grund dafür, sich an Wenzel zu reiben – war, dass sie das Außenseitertum zwar in ihrem Herzen empfand, ihr Cousin es aber ausstrahlte. Es fing schon damit an, dass ein merkwürdiges Geschick dafür gesorgt hatte, dass er keinem ähnlich sah. Alexandra war, wie es hieß, das exakte Abbild ihrer Mutter, ihre Brüder kamen nach dem Vater, nur Wenzel kam nach irgendwem, den kein Mensch zu kennen schien. Es passte nicht zusammen. Und das trug weiter dazu bei, dass Wenzel sie irritierte.

Jetzt schlüpfte er an ihr vorbei und trat außer Sicht. Sie war überrascht. Dann sah sie eine Frau über das nasse Pflaster stapfen. Sie warf dem Haus einen schrägen Blick zu. Alexandra nickte und versuchte zu lächeln. Die Frau kniff den Mund zusammen und stapfte weiter. Alexandra hatte sie nicht gekannt, irgendjemand auf dem Weg von hier nach da durch das trübe, graue Märzlicht. Wenzel spähte ins Freie.

„Warum versteckst du dich?“

„Ich will nicht, dass mein Vater weiß, dass ich hier bin.“

„Warum denn nicht?“

„Ich habe das Gefühl, dieses Haus hat eine besondere Bedeutung für ihn. Wenn er wollte, dass ich darüber Bescheid weiß, hätte er es mir erzählt.“

„Aber du willst es trotzdem herausfinden.“

„Würdest du es nicht wollen?“

Vielleicht lag es daran, dass sie sich immer noch für ihre Taktlosigkeit schämte, denn sie sagte beinahe freundlich: „Ich bin schon oft hier gewesen. Ich glaube, meine Mutter würde einen Anfall bekommen, wenn sie mich erwischt hätte. Du weißt ja, wie nahe unser Haus dieser Ruine hier eigentlich ist. Dennoch schafft sie es kaum jemals, daran vorbeizugehen. Sie findet irgendwie immer einen anderen Weg.“

„Ich bin zum dritten Mal hier. Es ist nicht einfach …“

Seine Ehrlichkeit bewog sie, ihm ein Angebot zu machen. „Sehen wir uns gemeinsam ein bisschen um?“

„Ich weiß nicht, wonach ich mich umsehen sollte“, erwiderte er, und Alexandra stellte erstaunt fest, dass sie seine Ablehnung bedauerte. „Mein Vater sucht hier auch nach nichts. Er steht immer nur eine Weile auf dem Pflaster und schaut zu Boden. Dann geht er wieder.“

Alexandra hatte eine Intuition. „Als wäre er auf einem Friedhof.“ Wenzel starrte sie an. Von sich selbst überrascht, hörte sie ihren Worten nach. Dann zuckte sie mit den Schultern. „Was ist jetzt? Kommst du oder nicht?“

Sie sah ihn einen weiteren Moment lang zögern, dann glomm plötzlich ein Licht in seinen Augen auf, und er lächelte breit. Es tat ihr fast weh zu erkennen, wie er sich freute, von ihr einmal nicht die kalte Schulter gezeigt zu bekommen, und in diesem Augenblick bedauerte sie alle Gelegenheiten in der Vergangenheit, die sie nicht genutzt hatte, locker und freundschaftlich mit ihm umzugehen. Im Haus ihrer Eltern gaben sich hoffnungsvolle Anwärter auf ein mögliches Verlobungsversprechen ihrerseits schon seit ein paar Jahren die Klinke in die Hand, und jeder Einzelne von ihnen war in seinen besten Momenten ein größerer Trottel, als Wenzel es in seinen schlechtesten war. Weder ihr Vater noch ihre Mutter hatten sie je gedrängt, sich für einen Bewerber zu entscheiden, selbst wenn es Geschäftsvorteile kostete. Sie war ihnen dankbarer dafür, als sie in Worte fassen konnte. Es schien ihr stets, als warte ihr Herz ab, bis der Richtige kam, und sie hoffte, dass es sich dann mit einem Ausbruch an Liebe öffnen würde, der sie atemlos machte.

„Na gut“, sagte Wenzel. „Ich verlasse mich darauf, dass du alle Drachen erschlägst, die uns über den Weg laufen.“

„Wäre das nicht deine Aufgabe?“

„Ich will mich nicht vordrängen.“

„Zu viel Höflichkeit ist deplatziert.“

„Jemanden wie dich als hilflosen Wurm zu behandeln, der sich hinter dem Rücken des hilfreichen Ritters verbirgt, wäre noch viel deplatzierter.“ Er klappte den Mund zu und räusperte sich, und seine Wangen verfärbten sich. Ganz klar hatte da eben sein Herz eine kurze Auszeit seines Gehirns genutzt, um zu plappern. Alexandra senkte den Kopf, damit er nicht merkte, dass auch sie rot wurde. Es war unsinnig, und sie versuchte, nicht so zu fühlen, aber tatsächlich hatte er ihr gerade ein ebenso großes wie unbeholfenes Kompliment gemacht.

Sie drehte sich um und riss die Initiative bewusst an sich. Zwar hatte sie keine Ahnung, wohin sie Wenzel führen sollte, da vom Haus nicht viel mehr stand als die Außenmauern bis über die erste Etage hinaus, ein halbes Treppenhaus und das Deckengewölbe des Erdgeschosses. Der alte Wilfing hatte den vorherigen Grundriss übernommen – kleine und große Lagerräume auf dem Gassenniveau, die Wohnräume der Herrschaft im ersten und Gesindezimmer im Dachgeschoss, so dass das Erdgeschoss ein dunkles Labyrinth aus schmucklosen, viereckigen Räumen war, in denen es tatsächlich nichts Interessantes zu sehen gab. Das Spannendste, das Alexandra jemals entdeckt hatte, war ein menschlicher Schädel in einem der hinteren Lagerräume gewesen – nur dass es in Wahrheit kein Schädel, sondern eine rundlich gezogene Trinkflasche aus fleckig und grau gewordenem Ton gewesen war, die einer der Arbeiter hier vergessen haben musste. Das Herzklopfen, das sie beim ersten Anblick verspürt hatte, war dennoch köstlich gewesen.

Sie merkte, dass Wenzel stehen geblieben war.

„Was ist da unten?“

„Das Kellergewölbe. Komm weiter.“

„Sehen wir’s uns an.“

„Bist du verrückt?“

Er musterte sie. Alexandra biss die Zähne zusammen. Soeben hatte sie eine Schwäche eingestanden; selbst ihre schrille Stimme hatte sie verraten. Gleich würde er grinsen und sie verspotten, und sie konnte es ihm nicht einmal verdenken. Sie hatte stets jede Schwäche seinerseits zu gnadenlosem Hohn ausgenutzt. Doch Wenzel sagte nur:

„Da unten möchte ich nicht lebendig begraben sein, wenn diese Ruine mal in sich zusammenfällt.“

Alexandra blieb stumm.

„Wenn es hier oben jemals irgendetwas Interessantes zu finden gab, ist es schon lange verschwunden“, fuhr Wenzel fort. „Hier kann jeder rein. Da unten jedoch sieht es meines Erachtens anders aus.“

„Warum?“, fragte sie gegen ihren Willen. Sie erwartete, dass er nun die Chance nützen und etwas wie:„Weil du nicht der einzige Schisser bist, der sich nicht in ein dunkles Kellergewölbe hinunterwagt!“, sagen würde.

„Weil“, sagte Wenzel, kletterte ein paar Stufen hinab und hockte sich dann auf die Fersen, so dass er besser in das Gewölbe hineinspähen konnte, „dort unten ein Verschlag ist, der das weitere Vordringen unmöglich macht.“

Alexandra schämte sich, dass sie bei all den Gelegenheiten, in denen sie hier gewesen war, nicht einmal den Mut aufgebracht hatte, wenigstens so weit in das Gewölbe vorzudringen, dass sie den Verschlag entdeckt hätte. Sie folgte Wenzel, mühsam die Stimme in ihr unterdrückend, die sie zur Flucht auffordern wollte.

Wenzel schien ihre Furcht zu spüren. Er sagte leichthin: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Haus gerade heute zusammenstürzt. Es hat so viele Jahre überstanden, da übersteht es den heutigen Tag auch noch.“

„Der Teufel lacht immer dann am lautesten, wenn er uns überraschen kann“, sagte Alexandra. Sie wusste, dass ihre Stimme sich klein anhörte.

„Dem Teufel ist es heute viel zu kalt“, entgegnete Wenzel.

Der Verschlag war so weit vom Treppenende entfernt, dass das Licht nur düster hierher drang. Alexandra drehte sich um. Sie war erstaunt, wie nahe die letzten Treppenstufen in Wirklichkeit waren; es war ihr vorgekommen, als wären sie mindestens hundert Mannslängen weit in das Gewölbe vorgedrungen. Ein sichernder Blick nach oben zeigte die unregelmäßige Oberfläche eines Backsteingewölbes, dem hier und da ein Stein fehlte und aus dessen Ritzen Flechten und Moosfäden hingen. Schneeverwehungen lagen wie zartes Gespinst an der einen Wand. Der Boden bestand aus festgestampfter Erde, noch halb gefroren. Sie atmete aus und sah das Wölkchen; es war viel kälter hier unten als oben, obwohl das Gewölbe den Raum eigentlich hätte schützen sollen.

„Das stammt nicht von den Bauarbeiten“, sagte Wenzel.

„Woher willst du das wissen?“

Er nahm ihre Hand und führte sie an den Verschlag heran. Seine Finger waren genauso kalt wie die ihren, aber er schien sich nichts daraus zu machen. Sie fühlte die Versenkungen im Holz, die von tief eingehämmerten Nägeln stammten.

„Handwerker hätten das meiste Holz und alle Nägel mitgenommen. Das sind Eisennägel, Alexandra, die sind wertvoll.“

„Wer soll denn den Zugang abgesperrt haben, wenn nicht die Handwerker?“

„Keine Ahnung. Deine Eltern?“

„Wozu? Die Bauarbeiten sind schon vor Ewigkeiten eingestellt worden. Wozu hätten mein Vater und meine Mutter den Zugang zum Kellergewölbe absperren sollen? Sie kümmern sich nicht mal um das Ding. Sie scheinen der Ansicht zu sein, dass es Oink junior gehört, wann immer er es haben will.“

„Wer ist Oink junior?“

Alexandra fühlte, wie sich ein Kichern in ihrer Kehle löste. „Sebastian Wilfing.“

Sie sah im schwachen Licht, wie Wenzel den Kopf schüttelte; er lächelte. Als hätte das Kichern eine vollkommen freie Assoziation ausgelöst, hörte sie sich plötzlich sagen: „Ich wusste, dass der Automat nicht dir gehört.“

Dass sie einen wunden Punkt berührt hatte, wusste sie, als Wenzel nicht fragte: ‚Welcher Automat?’ Er schwieg.

„Ich glaube auch nicht, dass du ihn zu deinem Vergnügen dort angeschaut hast.“ Es war ungeheuer schwer, es auszusprechen, aber die seltsame Situation in diesem kalten, zunehmend unheimlichen Kellerloch half ihr. Dann ging ihr auf, was sie ihm damit verraten hatte, nämlich, dass ihr nicht unbekannt war, was ein junger Mann allein in einem Versteck tun mochte, während er der unanständigen Darbietung einer bizarren kleinen Mechanik folgte. Was war auf einmal los mit ihr? Sie hatte in den vergangenen zwei Jahren nicht so viel mit Wenzel geredet wie in den letzten Minuten, und mit jedem Satz schien sie mehr von sich preiszugeben, als sie wollte. Wenzel ging jedoch nicht darauf ein. Alexandra hatte eine leise Ahnung, dass es für ihn noch peinlicher war als für sie.

„Mein Vater sagt“, murmelte Wenzel schließlich, „dass Kaiser Rudolf Dutzende von Automaten hatte – je verrückter, desto besser.“

„Und was hat er damit gemacht?“

„Wenn er guter Laune war, hat er sie den ausländischen Diplomaten vorgeführt.“

„Alle!?“

„Der, den du meinst“, sagte Wenzel, und unvermittelt hatte sie das Gefühl, ein Lächeln in seiner Stimme zu hören, „war für Gesandte aus dem Vatikan vorbehalten.“

Alexandra kicherte. Wenzel kicherte mit.

„Was haben die Prälaten gemacht? Empört den Raum verlassen?“

„Nein, nach der Adresse des Erbauers gefragt.“

Alexandra platzte heraus. Das Lachen hörte sich seltsam an hier unten, dumpf und scheppernd, als wäre es völlig fehl am Platz. Sie verstummte, aber es hatte gereicht, um die Düsternis ein wenig zu erhellen. Sie hörte, wie Wenzel an dem Verschlag herumzerrte und etwas quietschte. Schlagartig kehrte die Besorgnis zurück.

„Was tust du da?“

„Ich glaube, ich kann hier zwei Bretter lösen.“ Wenzel ächzte. „Dann können wir durchschlüpfen …“

„Hör sofort auf damit! Du bringst alles zum Einsturz!“

„Nein, tue ich nicht.“

„Hör trotzdem auf. Ich …“

Das Quietschen wurde zu einem kurzen, hölzernen Aufschrei, und Wenzel sagte: „Geschafft.“

Sie starrte die dunkle Lücke in der nicht wesentlich helleren Fläche des Verschlags an. Zwei Bretter, aus der Verankerung an ihrer Basis gedrückt, schwangen lose herum. Wenzel hielt sie beiseite wie einen Vorhang und steckte den Kopf hindurch. Obwohl sie es nicht wollte, trat sie doch näher heran. Vage konnte sie erkennen, dass der Gang sich dahinter fortsetzte, mit den üblichen gähnenden Türlöchern von weiteren Lagerräumen, die in einem bewohnten Haus die Wein- und Fleischvorräte beherbergt hätten. Der Geruch, der ihr entgegenschlug, war trocken und muffig und klammerte sich um ihre Kehle. Er erinnerte sie an den Geruch in den klösterlichen Beinhäusern, in denen die Knochen der Verstorbenen ringsum in Regalen lagen. Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken.

Mitten im Gang kauerte ein klobiger Schatten. Alexandras Hand klammerte sich an etwas; es war ihr nicht bewusst, dass es Wenzels Schulter war.

„He!“, brüllte eine Stimme von draußen. Alexandra verkrallte sich im Stoff von Wenzels Jacke und gab einen gedämpften Laut von sich. „Raus da, aber plötzlich!“

Alexandras Blick heftete sich auf Wenzels Gesicht. Soweit sie es erkennen konnte, war er ebenso erschrocken wie sie.

„Habt ihr nicht gehört? Verdammtes Pack!“

Lautlos formten Alexandras Lippen den panikerfüllten Satz: „Wer ist das?“

Wenzel zuckte mit den Schultern.

„Verdammt, was soll’s“, sagte eine zweite Stimme. „Unsere Runde ist gleich zu Ende. Ist doch völlig egal, wer sich hier rumtreibt.“

„Wachen“, formte Wenzel.

„Wahrscheinlich stecken die da unten im Keller“, sagte die erste Stimme. Alexandra zuckte zusammen.

Sie hörten, wie sich dem Kellerabgang Schritte näherten. Alexandra spürte, wie die Panik sie zu überwältigen drohte. Die Frage, was das Schlimmste wäre, wenn man sie hier unten entdeckte (eine Auseinandersetzung mit ihrer Mutter), kam ihr nicht in den Sinn; die ganz eigene Atmosphäre des Kellers gab ihr das Gefühl, dass sie auf keinen Fall den Wachen in die Hände fallen durften.

Wenzel packte ihre Hand und zog sie mit sich. Sie leistete keinen Widerstand. Er drängte sie mit dem Rücken gegen die Mauer und presste sich daneben. Ihre Hand hatte er nicht losgelassen, und sie machte keinerlei Anstalten, sie ihm zu entziehen. Die Schatten waren dicht genug, dass jemand, der von draußen hereinsah, sie hier nicht ausmachen konnte. Sie starrte Wenzel an, und er starrte sie an. Die Kälte der Mauer in ihrem Rücken drang ihr ins Fleisch.

„Hör doch auf“, sagte die zweite Stimme. „Wenn die nach da unten müssen, um rumzufummeln, sind sie gestraft genug.“

„Kommt raus!“, rief die erste Stimme. „Verdammt noch mal, wenn ich euch holen muss, dann gnade euch Gott!“

„Was ist denn heute mit dir los? Hab ich nicht ein Dutzend Mal Schmiere gestanden, wenn du deine Süße in irgend’ner Ecke gevögelt hast? Einmal sogar unterm Dienst, wenn ich mich recht erinnere. Lass die doch auch ihr Vergnügen haben.“

Alexandra sah, wie Wenzel die Augenbrauen hob. Sie wandte den Blick von ihm ab. Die Verwicklungen waren ihr in der beklemmenden Lage, in der sie steckten, schlichtweg zu viel.

„Meine Süße ist jetzt meine Alte, also red nicht so.“

„Warte, bis es wieder wärmer wird, und dann bring sie hierher. Dann wird sie vielleicht wieder deine Süße.“

„Was …“

Alexandra sah förmlich vor sich, wie der erste Wächter irritiert den Kopf zu seinem Kameraden umwandte und dann wieder versuchte, die Dunkelheit im Kellergewölbe mit den Augen zu durchdringen.

„Verdammt noch mal, raus da, hab ich gesagt! − Was geht dich das eigentlich an?“

„Ich steh auch gern wieder Schmiere“, sagte der zweite Wächter und lachte gemütlich.

Der erste Wächter machte ein paar Schritte die Treppen hinunter.

„Also gut“, sagte der zweite Wächter. „Die alte Kogge, der wir unterwegs begegnet sind, hat gesagt, ein Bursche und ein Mädchen hätten sich hier versteckt. Abgesehen davon, dass das Weib wahrscheinlich nur neidisch ist, weil sich keiner zu dieser Jahreszeit in eine verdammte Ruine schleicht, um ihr an die Spalte zu gehen, solltest du mal drüber nachdenken, was passiert, wenn wir tatsächlich jemand finden.“

Die Schritte auf der Treppe erstarben. Alexandra konnte nicht anders, sie musste den Blick wieder zu Wenzel heben. Auf seinem Gesicht spiegelte sich ihre eigene Überraschung.

„Weißt du noch, was passiert ist, als Blažej und der alte Lumír letztes Jahr unter der Brücke den Neffen von Graf Martinitz aufstöberten, während er noch im Hintern des Diakons der Thomaskirche steckte? Und sich nicht bestechen ließen, sondern die zwei wegen Sodomie einlochten?“

Wenzel riss die Augen auf, und sein Mund begann zu zucken. Die Schritte auf der Treppe verharrten weiterhin. Alexandra schwitzte, nicht nur aus Furcht, sondern auch, weil Wenzels Miene ein Gackern in ihr auslöste, das sich kaum unterdrücken ließ.

„O Mann!“, sagte der Wächter auf der Treppe.

„Gleich ist unsere Runde zu Ende. Hauen wir ab.“

Der Mann auf der Treppe bewegte sich nicht. Dann knurrte er plötzlich etwas Undefinierbares, die Schritte stapften die Treppe wieder hinauf, und die Wachen marschierten ab. Alexandra lehnte wie erstarrt an der Mauer.

„So, so“, sagte Wenzel nach einer langen Weile. „Der Neffe von Graf Martinitz. Wer hätte das gedacht?“

Alexandra lachte hysterisch los und beruhigte sich erst, als Wenzel sich aus dem Griff ihrer Hand befreite. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und holte tief Luft. Wenzel zerrte die losgelösten Bretter wieder an ihren Platz und stieg wortlos die Treppe hinauf ins Freie, Alexandra neben sich. Irgendwie war das Interesse an der weiteren Erkundung des Kellergewölbes bei beiden erloschen.

Als sie oben standen, kam die alte Verlegenheit wieder über sie. Wenzel brach schließlich das Schweigen.

„Hast du etwas gesehen? Ich konnte kaum was erkennen, nur so eine Art Schatten. War da etwas?“

Alexandra schüttelte den Kopf. Sie war erstaunt, wie ruhig ihre Stimme klang. „Nein. Alles, was ich gesehen habe, war ein Haufen herabgefallener Steine in der Mitte des Gangs. Wahrscheinlich sind irgendwann mal die Wachen darauf aufmerksam geworden, dass der Keller eine Gefahr darstellt, und haben ihn verrammelt.“

„Tja“, sagte Wenzel und hob die Schultern. „Na dann … bis bald.“

„Ja, bis bald“, sagte Alexandra. Sie gingen wie auf ein geheimes Zeichen gemeinsam los, jeder in seine Richtung. Alexandra nahm sich vor, sich nicht umzudrehen, aber dann tat sie es doch. Wenzel hatte sich ebenfalls umgedreht. Er winkte ihr zu. Sie senkte den Kopf und stapfte davon, in die Königsgasse hinein, die wenigen Dutzend Schritte zu ihrem Haus. Im Nachhinein schien es unfassbar, wie nahe es war; in der alten Ruine hatte sie sich gefühlt, als wäre sie hundert Meilen weit von zu Hause entfernt.

Sie fragte sich, warum sie Wenzel nicht die Wahrheit gesagt hatte. Lag es daran, dass sie nicht sicher war, was sie eigentlich gesehen hatte?

Dass sie einen Moment lang überzeugt gewesen war, der kauernde Schatten sei kein Steinhaufen gewesen? Dass dort, mitten im Gang, eine große, schwere Truhe stand, von Ketten gesichert, als sei ein Ungeheuer darin eingesperrt, das nie, nie herausdurfte?

Die Wächter der Teufelsbibel

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