Читать книгу Die Wächter der Teufelsbibel - Richard Dübell - Страница 26
4.
ОглавлениеAgnes erwachte vom Duft frisch gebackenen Brots. Sie lächelte im Halbschlaf: Cyprians Werk, kein Zweifel. Seit Jahren war er bei allen Bäckern in der Prager Altstadt bekannt: ein freundlich grinsender, vierschrötiger Mann, der am frühen Morgen in der Backstube auftauchte und unter der frischen Ware auszusuchen begann, noch bevor draußen der Esel aufgewacht war, der den Karren zum Markt hätte ziehen sollen. Ihm den Zutritt zu verwehren, war sinnlos. Wo Cyprian Khlesl nicht gehen mochte, da konnte ihn auch niemand zum Abschied bewegen, es sei denn mit Waffengewalt. Sie war sicher, dass er das Gewerbe der Bäcker in der Stadt besser kannte als der zuständige Ratsherr oder der Zunftmeister – und das Gewerbe ihn. Nachdem sie sich mit ihm abgefunden hatten, hatten sie bald angefangen, ihn zu schätzen, zumal sich herausstellte, dass dieser merkwürdige Käufer im Morgengrauen genau über die Qualität der Waren Bescheid wusste und einen Wecken, dessen Teig mit Sand gestreckt worden war, allein an der Textur seiner Oberfläche erkannte. Wenn Agnes daran gezweifelt hätte, dass Cyprian auf seine halb schweigsame, halb spitzbübische Weise längst zu einer Art grauer Eminenz des Bäckerhandwerks in Prag geworden war, dann wäre dieser Zweifel spätestens an dem Tag zerstreut worden, als der Zunftmeister bei ihnen vorgesprochen und feindselig gefragt hatte, warum Cyprian sich nicht um seine Position bewarb, wenn schon sein Name in aller Munde geführt wurde.
Nicht dass Cyprian auch nur das geringste Interesse am Bäckerhandwerk gehabt hätte. Tatsächlich war es schade, fand Agnes. Er hätte wahrscheinlich einen besseren Erben für die elterliche Bäckerei in Wien abgegeben als sein fleißiger, brummiger, phantasiearmer Bruder. Und dennoch … Sie drehte sich auf die Seite und reckte sich genüsslich: Cyprian war in seinem Leben ein Schutzengel, ein Außenseiter und der Agent seines Onkels gewesen und im Augenblick die einzige Hoffnung seines greisen Schwiegervaters, dass das Handelshaus „Wiegant & Khlesl“ – das vor fünf Jahren in „Wiegant, Khlesl & Langenfels“ umbenannt worden war – auch die nächsten Jahre überdauern würde. Die Zeiten hatten sich verschlechtert, diejenigen, die es den großen Handelshäusern wie den Welsern, Fuggern oder Loitz’ hatten nachmachen wollen und Fürsten unterstützt hatten, waren daran bankrottgegangen. Im Fall der Gebrüder Loitz, die ihre Kredite an den Adel mit Anleihen bei den einfachen Leuten finanziert hatten, waren gar Tausende von Unschuldigen in den Ruin gerissen worden. Wer gedacht hatte, sein Geld durch Sparen in Sicherheit zu bringen, hatte erfahren, dass die Münzverschlechterung, der die meisten Fürstenhäuser unterlagen, seinen Besitz verringerte. Tatsächlich war der Unterschied zwischen den von ihren Herren angeleiteten Münzmeistern und den wirklichen Falschmünzern unbeträchtlich. Letztere wurden, wenn man sie erwischte, in heißem Öl zu Tode gesotten, das war alles. Wer mit einer der im Reich gebräuchlichen Währungen auf einem Markt in Frankreich, England oder Schweden einkaufen wollte, konnte froh sein, wenn man ihm nicht faule Ware an den Kopf warf.
Das einzige Gewerbe, das dem Niedergang halbwegs entronnen war, war dasjenige, welches Lebensmittel zum Zweck hatte. Großen Appetit zu haben, war zu einem persönlichen Aushängeschild geworden, Vielfraße zu einer Zirkusattraktion. Wo sich vor zwanzig Jahren die Jacken noch über Goldketten und eingenähten Silberplatten gespannt hatten, taten sie dies nun über feisten Wänsten. Die einstmals künstlich ausgestopften Gansbäuche in Rüstungsteilen und Wämsern waren zu einer Notwendigkeit geworden, wenn ihr Träger darin weiterhin Platz finden wollte. Und wer essen wollte, musste auch trinken, um es rutschen zu lassen. Agnes erinnerte sich, wie sie gelacht hatte, als die Nachricht die Runde machte, es sei eine Gesellschaft gegen die Trunksucht gegründet worden, aber leider habe sich deren erster Präsident kurz danach zu Tode getrunken. Die Situation war weniger lustig, wenn man daran dachte, dass es die schlemmenden, ständig betrunkenen Herrschaften waren, in deren gichtigen Händen das Schicksal des Reichs lag.
Agnes tastete zu Cyprians Bettseite hinüber. In der Regel schlüpfte er an den Tagen, an denen er sich einbildete, dass der Morgen mit frischem Brot beginnen musste, lautlos aus dem Bett und aus dem Haus, erledigte seine Einkäufe und kam dann wieder zurück unter die Decke, wo er auf einen Ellbogen gestützt dalag, sie betrachtete und darauf wartete, dass sie die Augen aufschlug. Manchmal wachte sie nicht rechtzeitig auf, dann weckte er sie mit Zärtlichkeiten, und dabei konnte es vorkommen, dass sie sich beide danach die Krümel der zerquetschten Wecken von den Körpern pickten und die Bettlaken gewechselt werden mussten. Sie erinnerte sich an jenen denkwürdigen Morgen, an dem es einer von Cyprians Lieferanten besonders gut mit ihm gemeint und eines der alten böhmischen Rezepte an einem süßen Teil ausprobiert hatte, indem er das als Powidl bekannte, dick eingekochte Zwetschgenmus in sein Inneres gefüllt hatte. Keiner von ihnen beiden hatte es gewusst, was zu einer mittleren Powidl-Katastrophe geführt hatte, der man nur dadurch hatte beikommen können, dass man die Schlafzimmertür verbarrikadiert und sich das klebrige Zeug gegenseitig abgeleckt hatte … Ihr Lächeln wurde breiter, als ihr Herzschlag sich beschleunigte. Ihre Hand suchte nach Cyprian, und als sie ins Leere griff, öffnete sie überrascht die Augen. Seine Bettseite war leer.
Agnes richtete sich auf. Ein Korb mit Brot stand direkt vor ihren Augen. Schräges Morgenlicht fiel in den Raum, golden und zart. Verwirrt setzte sie sich auf und sah sich um. Cyprian saß auf der Fensterbank, vollkommen angezogen. Sie konnte nur seine Silhouette sehen. Das Licht ruhte auf den Kanten seines Gesichts, auf seinem halblangen Haar, dem Bart. Sie musste die Augen zusammenkneifen; er hatte sich so postiert, dass das Sonnenlicht auf sie fiel. Plötzlich fühlte sie sich unwohl. Sie zog die Decke nach oben.
„Nicht“, sagte er. „Gönn mir deinen Anblick.“
„Was ist los? Warum kommst du nicht wieder ins Bett?“
Sie sah schwache Spitzlichter in seinen Augen funkeln. Er lächelte, und die hellen Kanten des Morgenlichts auf seinen Zügen zersplitterten in tausend Fältchen. Seine Gestalt war mit den Jahren eckiger geworden, in seinem Bart waren erste graue Strähnen zu sehen, und das Haar, das er irgendwann einmal hatte länger wachsen lassen – als habe sich der Drang verflüchtigt, kurz geschoren wie ein Verbrecher die eigene Individualität zu beweisen –, war ebenfalls mit ersten grauen Haaren durchzogen. Jetzt im Gegenlicht sah sie all dies nicht, sie sah nur, wie sein Lächeln die Schatten verschob, und dieses Lächeln ließ ihn auch bei der unvorteilhaftesten Beleuchtung noch immer wie den zwanzigjährigen Draufgänger erscheinen, von dem Agnes immer gewusst hatte, dass er ihr Seelengefährte war. Sie lächelte verwirrt zurück.
„Es gibt einen neuen Bäcker in Prag.“ Cyprian nickte zu dem Brotkorb. „Ein Protestant. Er kommt aus der Kurpfalz.“ Sie sah jetzt, dass er einen Wecken in der Hand wog. Er hatte noch nicht davon abgebissen. In dem Maß, in dem sie sich an das Gegenlicht gewöhnte, erkannte sie immer mehr Einzelheiten. Cyprian trug hohe Stiefel und darüber schmucklose Kniehosen, ein Lederdoublet mit flachem Kragen und festen, langen Ärmeln. Ein Hut lag neben ihm. In vielem hatte er sich verändert über die Jahre, war weniger kompromisslos geworden. Seine Vorliebe für dunkle Farben war jedoch geblieben. „Der Mann versteht sein Handwerk. Da werden manche ihre Kunden verlieren, wenn er sich hier erst mal etabliert hat.“
„Hat er seine Bäckerei außerhalb der Stadt?“, fragte Agnes. „Du bist angezogen wie für einen langen Tag.“
„Ich habe ihn gefragt, warum er ausgerechnet nach Prag gekommen ist, ans andere Ende des Reichs. Die Kurpfalz ist ja auch protestantisch. Er sagte, mit dem Majestätsbrief, mit dem Kaiser Rudolf seinerzeit den protestantischen Ständen hier in Böhmen unter anderem Konfessionsfreiheit zugesichert habe und den sowohl Kaiser Matthias als auch Ferdinand, der neue König von Böhmen, anerkannt hätten, werde Böhmen über kurz oder lang rein protestantisch sein – und zwar die größte protestantische Macht im ganzen Reich. Ich denke zwar nicht, dass die böhmischen Stände wirklich glauben, dass König Ferdinand sich an sein Versprechen hält, aber der Majestätsbrief hat ihnen ja auch die freie Wahl des Königs gestattet. Mit der Bestätigung Ferdinands haben sie Kaiser Matthias einen Gefallen getan und werden dafür in Ruhe gelassen, so dass sie ihre Kräfte und ihre Strategie aufeinander abstimmen können. Ich wette, irgendwo wird schon die Annullierung von Ferdinands Wahl vorbereitet. Sie warten nur eine günstige Gelegenheit ab.“
Agnes schwieg. Cyprian wechselte den Wecken von einer Hand in die andere. Sein Lächeln wurde breiter.
„Du bist so schön“, sagte er, und Agnes, die merkte, dass sie die Decke wieder hatte sinken lassen, zog sie erneut hoch. Sie zog ein Gesicht.
„Ich bin fett“, sagte sie unwillkürlich, wie sie es immer tat, wenn Cyprian sie bewunderte.
Er schüttelte den Kopf. Natürlich hatte er recht: Wenn es nicht völlig ausgeschlossen für die Frau eines wohlhabenden Teilhabers und Tochter eines in Wien lebenden Kaufmanns gewesen wäre, alte Kleidung zu tragen, hätte sie immer noch die Gewänder anziehen können, die sie als Zwanzigjährige besessen hatte. Zwei Fehl- sowie drei erfolgreiche Geburten und die Jahre hatten dennoch Spuren hinterlassen. Sie war sich bewusst, dass sie zwar schlank, ihr Körper aber nicht mehr so straff war wie früher und dass ihre Brüste zwar voll geblieben, aber mittlerweile deutlich nach unten gesackt waren. Wenn Cyprian sie spielerisch in das weiche Gewebe oberhalb ihrer Hüften kniff, wo er früher höchstens die Haut hätte zu packen bekommen, fühlte sie sich manchmal resigniert. Eigentlich hatte sie das Gefühl, dass sie im Herzen nicht mehr als ein oder zwei Jahre gealtert war seit ihren Jugendtagen, doch ihr Körper verriet ihr, dass sie sich da täuschte.
„Der Bäcker glaubt, in ein paar Jahren werde Böhmen ein protestantisches Paradies sein und das restliche Reich missionieren. Der katholische Glaube sei jetzt schon von vorgestern.“
„Und was glaubst du?“
Er warf den Wecken in die Luft und fing ihn wieder auf. „Ich glaube, dass ich meinem Bruder ein paar von seinen Wecken zusenden sollte, damit er endlich versteht, was der Unterschied zwischen einem Bäcker und einem Bäcker ist.“
Als er nicht, wie sie erwartet hatte, herzhaft abbiss, sondern einfach auf der Fensterbank sitzen blieb und sie weiterhin musterte, beschleunigte sich ihr Herzschlag von Neuem, diesmal jedoch aus einer plötzlichen, richtungslosen Furcht heraus. Sie gab seinen Blick zurück, betrachtete nochmals seine Kleidung – sie hatte nicht gehört, dass er sich so vollständig angezogen hatte, er konnte lautlos wie ein Luchs sein, wenn er wollte – und spürte, wie jeder Appetit auf die frischen Backwaren in ihr erstarb.
„Onkel Melchior hat sich gemeldet“, sagte sie.
„Onkel Melchior ist öfter in Prag als in Wien“, sagte er. „Er besucht uns jedes Mal, wenn er hier ist – erinnerst du dich?“ Sein Lächeln veränderte sich nicht.
„Du weißt genau, wie ich es gemeint habe.“
Er schwieg. Plötzlich legte er den Wecken auf die Fensterbank, wandte sich ab und blickte zum Fenster hinaus. Sie sah sein Profil. Das Lächeln war jetzt aus seinem Gesicht verschwunden. Eine eisige Hand drückte ihr die Luft ab, und unvermittelt war sie tatsächlich wieder zwanzig Jahre alt – und überzeugt, dass sie Cyprian für immer verloren hatte und ihr Leben, das sich als eine absolute Lüge entpuppt hatte, vorbei war, bevor es hatte beginnen können. Sie erschauerte in dem kalten Schatten, der nach all den Jahren erneut auf sie fiel, dem Schatten eines monströsen Buches, für das ihre Eltern umgekommen und ihre Familie und der Mann, dem sie ihre Liebe geschenkt hatte, erbarmungslos gejagt worden waren. Gänsehaut überzog ihre Arme.
„Ich weiß nicht, worum es geht“, sagte Cyprian.
„Aber du fürchtest etwas …“
„Ich fürchte viele Dinge. Dass es regnen könnte, wenn ich draußen bin und keinen Hut aufhabe. Dass mein Bruder erkennt, dass er als Bäcker nichts taugt, und mich bittet, die Bäckerei zu übernehmen. Dass du eines Tages die Nase voll von mir hast und dir einen zwanzigjährigen Jüngling zum Liebhaber nimmst, der sich anstrengen muss, um mit dir mithalten zu können.“
Agnes fühlte sich nicht belustigt. „Ihr hattet ein Abkommen, du und der Kardinal“, sagte sie. „Du hast es damals mehr als erfüllt. Du bist ihm nichts mehr schuldig.“
„Richtig.“
„Aber du rennst trotzdem, wenn er ruft.“
Cyprian bedachte sie mit einem Lächeln, das ihr eines deutlich sagte: Wie viel Liebe auch immer er für sie, für seine Familie empfand, es würde doch immer einen Teil seines Herzens geben, der nicht ihr und den Kindern gehörte, sondern Melchior Khlesl. Sie spürte Unwillen, aber die Angst, die langsam ihre Kehle hochkroch, war stärker.
„Glaubst du, es geht … es geht um sie?“ Sie hatte plötzlich das Gefühl, nicht mehr genügend Luft zu bekommen.
Cyprian zuckte mit den Schultern.
„Verdammt, Cyprian, warum hast du dich die ganzen Jahre über nicht geändert? Du bist immer noch wie eine Auster.“
Er schwieg. Sie funkelte ihn verbittert an. Die Sonne war weitergewandert und beleuchtete ihn jetzt von der Seite, machte sein Gesicht schmaler und verwischte die Falten und die Jahre und ließ ihn beinahe so aussehen wie an jenem Tag in der Abenddämmerung auf dem Kärntnertor, als sie vereinbart hatten, miteinander zu fliehen. Die Ähnlichkeit erschütterte sie. Nach diesem Tag war ihre Welt zusammengebrochen, und manchmal machte es ihr heute noch Schwierigkeiten zu verstehen, weshalb sie nicht alle dabei untergegangen waren. Cyprian lächelte. Sie biss sich auf die Lippen und drängte die Tränen zurück.
„Alexandra und die beiden Jungen kommen in drei Tagen aus Wien zurück“, sagte sie erstickt.
Er stand auf und setzte den Hut auf. „Ich gehe nur bis zum Hradschin und zurück“, sagte er. „Das schaffe ich in der Zeit.“
Er küsste sie auf den Mund, und es entsetzte sie, wie kalt seine Lippen waren. Plötzlich hasste sie ihn, seine ruhige Gewissheit, die Überzeugung, dass es an ihm lag, für ihre Sicherheit zu sorgen und sich um sie kümmern, seine Loyalität zu seinem Onkel, der jetzt der mächtigste Mann des Reichs war und von dem man eigentlich denken sollte, dass er genügend Helfer für alle möglichen Aufgaben fand und nicht ständig die Unterstützung seines Neffen benötigte. Sie hasste ihn dafür, dass er das Anständige tat, anstatt die Drecksarbeit anderen zu überlassen, hasste ihn für seine Tüchtigkeit, die dazu geführt hatte, dass Onkel Melchior Khlesl sich in Notfällen auf ihn verließ und sonst auf niemanden. Sie hasste ihn dafür, dass er mit seiner Angst offenbar so viel besser umgehen konnte als sie.
Sich selbst hasste sie dafür, dass sie seinen Kuss nicht wenigstens erwidert hatte.