Читать книгу Die Wächter der Teufelsbibel - Richard Dübell - Страница 28

6.

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Alexandra fragte sich, ob sie sich wirklich über ihre Rückkehr freuen sollte. Sie spürte die unausgesprochenen Erwartungen wie ein Mühlrad um den Hals, je mehr sie sich Prag näherten. Sie zerrte an ihrem engen Kragen und riss an der Halskrause, bis die Bänder sich lösten und das Ding herunterrutschte. Nicht dass ihr danach wohler gewesen wäre. Sie wusste mittlerweile nicht mehr auseinanderzuhalten, welche der Erwartungen sie selbst an sich stellte und welche von außen kamen. Sie fühlte sich bewegungsunfähig, gelähmt inmitten des Zerrens, das sie von allen Seiten spürte und das es ihr unmöglich machte, für sich selbst zu entscheiden und zu erkennen, was sie eigentlich wollte.

Sie betrachtete ihre beiden jüngeren Brüder, die eingeschlafen waren. Ihre Züge wurden weich – die Burschen waren Nervensägen, solange sie wach waren, aber wenn sie so wie jetzt mit ineinander verknäulten Gliedmaßen wie junge Hunde dalagen und schliefen, empfand sie ihre Liebe für sie doppelt heftig. Sie beugte sich nach vorn und nahm sanft Andreas’ Hand weg, die auf Klein-Melchiors Gesicht gefallen war und diesen halb erstickte. Der zwölfjährige Andreas murmelte im Schlaf, sein drei Jahre jüngerer Bruder gab einen überraschend erwachsenen Schnarchlaut von sich. Bevor sie eingeschlafen waren, hatten sie das ihnen innewohnende Potenzial an Ekelhaftigkeit bis zum Anschlag ausgereizt, indem sie abwechselnd etwas vorgespielt hatten, dessen Zeugen sie beim Besuch einer Gauklerattraktion geworden waren. Ein Künstler hatte sich auf eine Wette aus den Reihen der Zuschauer eingelassen und innerhalb kürzester Zeit ein ganzes Pfund Käse, dreißig Eier und einen großen Laib Brot verzehrt, was ihm jedoch zum Verhängnis geworden war – und Klein-Melchior und Andreas dazu verleitet hatte, sein von allerlei unschönen Begleiterscheinungen gerahmtes Ableben auf öffentlicher Bühne begeistert nachzustellen.

Als sie sich zurücklehnte, sah sie aus dem Augenwinkel das gütige Lächeln von Pater Meinhard, der sie seit ihrer Abreise aus Wien begleitete. Wie immer hatte ihr Vater seine Beziehungen spielen lassen. Auf der Hinreise hatte ein Kaplan aus Prag die kleine Reisegruppe aus Alexandra, den Buben und den drei bewaffneten Knechten begleitet; für die Rückreise hatte wunderbarerweise der Pater aus Wien zur Verfügung gestanden. Alexandra fragte sich, wie der Austausch der Geistlichen zwischen den beiden Hauptstädten des Reichs funktioniert hätte, wenn die Familie Khlesl ihre Kinder nicht ab und zu nach Wien zur Familie Wiegant geschickt hätte. Wahrscheinlich reiste sie unwissentlich mit Begleitpapieren, die der Kaiser und der Papst persönlich unterzeichnet hatten.

Sie gab das Lächeln des jungen Kaplans kühl zurück; ihre Verachtung für die Vertreter der beiden christlichen Konfessionen war auf dieser Reise noch weiter gestiegen. Wer halbwegs denken konnte und in einem Haushalt aufgewachsen war, in dem auch vor den Kindern offen gesprochen wurde, konnte nicht anders, als sich angewidert von den politischen Machenschaften abzuwenden, in die Katholiken wie Protestanten gleichermaßen verstrickt waren.. Natürlich wusste sie, dass diese Verfehlungen sich nicht beliebig auf die einzelnen Vertreter der beiden Kirchen übertragen ließen und dass es in jedem Lager anständige Männer und Frauen gab, aber ihr war noch keiner über den Weg gelaufen. Vielleicht gehörte ja Pater Meinhard dazu, aber mehr als pompös zu schwätzen und väterlich zu tun, wo er höchstens fünf Jahre älter war als sie, hatte er bisher nicht vollbracht. Sie hatte eine Weile gedacht, dass Kardinal Melchior zu den Aufrechten gehörte, aber der Klatsch, der in Prag umging, hatte ihre Wahrnehmung seiner Person geschärft (verzerrt, hätte ihr Vater gesagt), und der freundlich-spöttische Mann, der in ihrem Elternhaus aus- und einging, war in ihren Augen mittlerweile nur eine Tarnung für einen opportunistischen Machtpolitiker, der das Reich zwischen den beiden Religionen hin- und herlavierte und den Kaiser so im Griff hatte, dass dieser kaum noch eine Entscheidung zu fällen wagte.

Pater Meinhards Lächeln erlosch. Alexandra war es recht.

Erwartungen … Alle erwarteten etwas von einem. Ihre Mutter erwartete, dass sie immer noch so vertraut mit ihr umging wie das kleine Mädchen, das sie einmal gewesen war, und íhre Gedanken und Wünsche mit ihr teilte. Aber Alexandra fühlte sich als junge Frau, und wenn sie ihre Mutter auch liebte, so hieß das noch lange nicht, dass sie ständig ihr Leben vor deren Augen ausbreiten wollte. Ihr Vater erwartete, dass sie sich irgendwann einmal entschied, welches Lebensziel sie hatte, um ihr dann den Start zu erleichtern. Doch wo stand, dass man mit zwanzig Jahren schon wissen musste, wie das restliche Leben verlaufen sollte, und dass man unbedingt die Hilfe seines Vaters brauchte, um die ersten Schritte zu gehen?

Ihre Freunde in Prag erwarteten, dass sie ihnen haarklein schilderte, welche Mode man in Wien trug und welche neuen Sprüche dort im Munde geführt wurden, die Prag auf dem normalen Weg erst in einem halben Jahr erreichen würden. Bei ihrem letzten Besuch war der Ausruf „Heilige Melancholie im Lehnstuhl!“ gerade modern gewesen: Man rief ihn mit dem dazugehörigen Pathos aus, wenn sich ein Gesprächspartner nicht entscheiden konnte oder sich den eigenen Wünschen nicht sofort beugte. Sie hatte ihn ebenfalls gebraucht, bis Kardinal Melchior ihn in den Mund genommen und sie dabei erfahren hatte, dass er ursprünglich von ihm stammte und auf den Kaiser gemünzt war. Danach hatte sie ihn aus ihrem Sprachschatz verbannt, weil die Erkenntnis sie peinlich berührte, dass etwas, was so dediziert zu den Kreisen der jungen Menschen ihrer Gesellschaft zu gehören schien, in Wirklichkeit von einem Mitglied der unbeliebten Herrschaftsschicht kam.

Sie würde sie diesmal alle enttäuschen. Ihre Mutter, weil sie sich vorgenommen hatte, nicht über das zu reden, was in Wien das Hauptthema während ihres zweiwöchigen Aufenthalts gewesen war. Ihren Vater, weil sie noch immer nur eines wusste: dass sie keine der Möglichkeiten, die sich ihr zu bieten schienen, annehmen wollte. Ihre Freunde, weil die Erinnerung an den betrunkenen Scharfrichter in Wien und das Flehen der Verurteilten alles andere überdeckte.

Sie starrte zum Wagenverschlag hinaus. Die Räder rollten jetzt ruhiger: Die Straße war besser. Sie näherten sich einer Stadt.

„Brünn“, sagte Pater Meinhard. Sie reagierte nicht darauf.

Noch jemand erwartete etwas von ihr. Wenzel von Langenfels war ihr Vetter. Und er liebte sie abgöttisch, das konnte die ganze Welt sehen. Was sollte sie mit dieser Liebe anfangen? Sie wusste nicht, ob sie sie erwiderte, und selbst wenn, war sie hoffnungslos. Sie waren gemeinsam aufgewachsen. Sie erinnerte sich, dass er irgendwie immer da gewesen war und all ihre Launen geduldig ertragen hatte. Sie hasste die Büßertypen, die sich dem Willen eines Mädchens unterwarfen, nur weil sie zu schüchtern oder zu täppisch oder zu durchglüht von irgendwelchen verschrobenen Ansichten über Ritterlichkeit waren, um sich gegen sie zu behaupten. Tief im Innern war ihr klar, dass dies alles auf Wenzel nicht genau zutraf. Ein Teil von ihm blieb immer auf Distanz, schaute von Ferne mit mildem Spott auf das zickige Treiben herab, das sie mit ihm veranstaltete, und signalisierte gerade eben noch wahrnehmbar, dass er auch anders konnte. Ihre Sticheleien erreichten ihn nie zur Gänze, und daher konnte sie ihn auch nie zur Gänze aus ihrem Herzen verbannen. Sie bezweifelte, dass er selbst darüber Bescheid wusste. Aber was auch immer nun seine Erwartung war, sie würde auf jeden Fall enttäuscht werden. Er und sie? Undenkbar!

Der Wagen hielt an. Pater Meinhard und sie wechselten einen überraschten Blick. Der Pater stieg aus. Sie hörte ihn halblaut mit dem Wagenlenker sprechen. Ein Pferdeleib schob sich vor die geöffnete Tür. Sie spähte hinaus und in das Gesicht eines der graubärtigen Männer, die ihr Vater als Geleitschutz angeheuert hatte. Der Mann zwinkerte ihr zu, aber sie sah, dass er an seinem Pulverbandelier zupfte und die Muskete im Sattelhalfter lockerte.

„Was geht hier vor?“, fragte sie.

„Bleiben Sie im Wagen, Fräulein. Ist besser“, sagte der Grauhaarige.

Sie funkelte ihn an, aber er hatte sich schon abgewandt. Sie warf ihren kleinen Brüdern einen Seitenblick zu. Andreas schmatzte und stöhnte ihm Schlaf, doch keiner der beiden wurde wach.

Pater Meinhard drängte sich zwischen das Pferd des Knechts und den Wagen. Er sah besorgt aus.

„Wir dürfen nicht weiterfahren. Jedenfalls nicht für den Augenblick. Es wird eine Weile dauern. Sie halten uns hier fest“, sagte er, und seine Nervosität war nicht nur an seinem Gesicht abzulesen, sondern an seiner krausen Rede. „Es dauert nicht lange“, fügte er höchst überflüssig hinzu – und nach einer kleinen Pause: „Hoffentlich.“

„Was ist denn los?“

„Schlimme Sache“, sagte der Pater. „Bleiben Sie am besten im Wagen.“

„Zum Donnerwetter!“, zischte sie. Die Buben zuckten im Schlaf zusammen. Alexandra erkannte, dass ihr Jähzorn lediglich die Furcht bemäntelte, die in ihr aufgestiegen war, seit sie die beiden unbewussten Handgriffe des Knechtes gesehen hatte. „Wo sind wir hier überhaupt?“

„Direkt vor Brünn“, antwortete Pater Meinhard, dessen angespannte Miene mit seinem Körper im Widerstreit lag, der förmlich zappelte, so sehr trieb ihn die Neugier wieder davon.

„Und warum dürfen wir nicht weiterfahren?“ Sie bemühte sich, etwas von draußen zu hören, aber sie vernahm nichts, was nicht zu einem gewöhnlichen frühen Morgen gepasst hätte. Die Vögel sangen aus Leibeskräften. Eine Glocke begann zu läuten, ebenfalls nicht ungewöhnlich. Nach ein paar Glockenschlägen fiel ihr auf, dass keine weiteren Glocken einfielen und dass der einzelne Ton dünn und blechern klang, weniger wie eine Kirchen- als vielmehr wie eine Warnglocke an einem Stadttor. War ein Feuer ausgebrochen? Aber dann hätte man es riechen müssen.

Sie wollte sich erneut Pater Meinhard zuwenden, doch der war verschwunden. Der Knecht, der sich mit seinem Pferd schützend vor den Wagen gestellt hatte, hatte es ein Stück beiseitegezogen, um dem Pater das Durchschlüpfen zu ermöglichen, und zu ihrer grenzenlosen Überraschung sah sie, dass die Straße eine ganze Strecke weiter vorn bunt vor Menschen war. Die Menge stand vollkommen schweigend da und hatte dem Wagen die Rücken zugewandt.

„Was, zum Donnerwetter, ist hier los?“

Der Knecht sah nachdenklich auf sie herab. Sein Pferd machte einen weiteren Schritt zurück, und sie erkannte die Rüstungen der Bewaffneten, die die Straße gesperrt hatten. Hinter ihnen und über den Köpfen der Menge sah sie jetzt die wuchtigen Stempel eines Galgens aufragen. Sie waren leer. Das Glockengeräusch hallte langsam und blechern durch das frühe Sonnenlicht.

„Hinrichtung, Fräulein“, sagte der Knecht schließlich.

Ein Gesicht schob sich plötzlich von der Seite in die Kutschenöffnung herein. Alexandra zuckte zurück. Der Mann zog seinen Hut und machte eine Verbeugung: Sie sah langes, dunkles Haar, fröhliche blaue Augen und einen kurz geschnittenen Bart. Als der Mann sich wieder aufrichtete, wurden seine Augen groß, und sein Lächeln erstarb. „Äh …“, sagte er gequetscht und schielte an sich herunter.

Der Knecht hatte seinen Degen gezogen und hielt ihn so, dass man ihn kaum sehen konnte. Die Spitze der Klinge presste sich gegen die Rippen des Mannes. „Wenn der Herr einen Schritt zurücktreten würden, bitte“, knurrte der Knecht.

Die Blicke des Mannes mit dem Hut richteten sich auf Alexandra. „Würden Sie ihm sagen, dass ich unschuldig bin?“, fragte er und grinste verkrampft.

„Unschuldig woran?“, fragte Alexandra.

„An allem. Na, jedenfalls an dem meisten.“

„Treten Sie zurück, Herr!“

Der Mann rollte mit den Augen.

„Ich glaube, er ist harmlos“, sagte Alexandra und freute sich darüber, dass es frech und zweideutig klang. Der Knecht nahm den Degen zögernd weg, und der Mann atmete auf.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich eine solche Bemerkung mal als Kompliment empfinden würde“, sagte er.

Alexandra lächelte. Der Wächter sah sie missbilligend von der Seite an, aber sie beschloss, ihn zu ignorieren. Über dem Glockenläuten wurde jetzt schwaches Geheul vernehmbar, wie das eines weit entfernten Kindes. Sie runzelte die Stirn.

„Hätten Sie vielleicht die Güte, mir zu sagen, warum wir nicht weiterfahren dürfen?“

Der Mann seufzte. Ihr fiel auf, dass seine Augen geradezu außerordentlich blau waren. Als er sich mit der Hand durch die Haare fuhr, bemerkte sie die gepflegten Fingernägel und einen dünnen silbernen Ring am kleinen Finger seiner rechten Hand. Schließlich zuckte er mit den Schultern.

„Das ist hier keine gewöhnliche Hinrichtung“, sagte er schließlich.

Das Greinen war lauter geworden, und von der Menge weiter vorn stieg ein Raunen auf wie das erste Blätterrascheln vor einem Sturm.

„Der Stadtrichter ist sich wahrscheinlich nicht sicher, ob die guten Brünner Bürger nicht auf den Meister Fix losgehen und den Verurteilten retten werden. Wie ich gehört habe, hat sich der Brünner Henker ohnehin geweigert, die Hinrichtung vorzunehmen. Sie haben den Scharfrichter aus Olmütz kommen lassen.“

„Sie reden, als ob Sie nicht aus Brünn wären.“

Er lächelte wieder. „Bin ich auch nicht. Ich bin hier aufgehalten worden, so wie Sie, gerade vor ein paar Augenblicken.“

Der Knecht schaute auf. Es schien Alexandra, dass der wettergegerbte Bursche einen anderen Eindruck gehabt hatte, aber sie achtete nicht weiter darauf.

Das Geheul war jetzt ziemlich nahe. Mit einer Betroffenheit, die sich ihr kalt ins Herz senkte, erkannte Alexandra, dass es die Stimme eines Mannes war, der lauthals weinte. Sie griff an ihren Hals, aber die Halskrause, die sie hatte lockern wollen, lag ja bereits neben ihr auf der Sitzbank. Die Blicke des Mannes ließen sie nicht los.

„Ja“, sagte er ruhig „Der arme Kerl hat ganz und gar keine Lust zu sterben.“

„Wie können Sie nur so herzlos reden.“

Er verzog den Mund. „Tut mir leid, wenn es so klang“, sagte er. „Das Geschrei geht mir an die Nieren, glaube ich.“

„Wollen Sie hereinkommen?“ Der Knecht warf ihr einen scharfen Blick zu. Sie wusste selbst nicht, warum sie es gesagt hatte. Röte schoss ihr in die Wangen. „Ach nein, meine Brüder schlafen ja hier drinnen. Verzeihen Sie …“ Ich bin so ein Trampel, dachte sie und wurde noch röter.

Er verneigte sich. „Keine Ursache. Nein, ich bleibe ohnehin lieber hier draußen. Stört es Sie, wenn ich Ihnen ein bisschen Gesellschaft leiste? Ich habe das Gefühl, auch Sie lässt der Lärm nicht kalt.“

„Nein“, flüsterte sie. Wieder hörte sie das Brummeln des betrunkenen Henkers und das panische Rufen der Verurteilten in der Grube in Wien. Sie war so jung gewesen und ihr Sterben so … unmenschlich. Sie hatte nach ihrer Mutter gerufen. War diese Zeugin geworden, wie man ihr Kind stümperhaft und grässlich zu Tode gebracht hatte? Alexandra schüttelte sich und drängte ihren aufsteigenden Mageninhalt zurück. „Nein.“

„Was haben Sie?“

Pater Meinhard stand plötzlich keuchend vor dem Wagenschlag. Seine Augen waren groß und seine Wangen erhitzt. Er stutzte, als er Alexandras Gesprächspartner sah, doch dann sprudelte er los: „Es ist ein Ziegenhirte, ein halbes Tier. Er hat heuer im Frühjahr ein junges Mädchen ermordet. Er muss sie fürchterlich zugerichtet haben. Sie rädern ihn.“

Alexandra schüttelte sich. Ein hohles Gefühl machte sich mehr und mehr in ihrem Leib breit.

„Man hat ihn direkt neben der Leiche gefunden. An seiner Schuld gibt es keinen Zweifel. Der neue Landeshauptmann, Albrecht von Sedlnitzky, hat die Hinrichtung verfügt.“ Pater Meinhard sah sich über die Schulter um. „Gott sei seiner armen Seele gnädig. Da kommen sie …“ Er wandte sich grußlos ab und rannte wieder davon.

„Da kann’s einer gar nicht erwarten, dabei zu sein“, sagte Alexandras Gesprächspartner.

„Und Sie? Wollen Sie nicht hingehen und zuschauen?“

Er schüttelte den Kopf, erneut leise lächelnd. „Was haben Sie gesehen?“, fragte er.

Sie starrte ihn an wie ein Hase die Schlange. „Was?“, brachte sie hervor.

„Was haben Sie gesehen? Sie sind totenbleich geworden, als ich sagte, dass das Geschrei Sie vermutlich ebenso berührt wie mich.“

„Ich war in Wien … ich war Zeugin einer Hinrichtung … ich wollte gar nicht hingehen, aber dann …“

„Hat die Neugier Sie überwältigt? Soll vorkommen.“ Sein Lächeln war nachsichtig.

Das Heulen war jetzt ganz nah. Die Menge raunte. Alexandra hörte, wie das Gebrüll eine Nuance stieg und in eine Art kreischendes NeinneinneinneinNEIIIIN! überging. Sie hörte Flüche und das Gerangel von Henkersknechten, die versuchten, einen Verurteilten vorwärtszuzerren, der sich mit Händen und Füßen wehrte. Das Raunen in der Menge wurde lauter.

„Warum glaubt der Richter, dass die Brünner den Scharfrichter angreifen könnten?“ Sie wollte es gar nicht wissen, aber seiner Stimme zu lauschen, war ihr lieber, als das Gekreisch zu hören. In ihrem Herzen überlagerte es sich mit anderen Hilferufen, und einen Augenblick wusste sie nicht, ob die Pfiffe und das Hohngeschrei der Menge echt waren oder aus ihrer Erinnerung kamen.

„Der Verurteilte ist katholisch. Das Opfer war protestantisch. Anders als das, was Ihr klerikaler Reisebegleiter herausgefunden hat, ist seine Schuld überhaupt nicht erwiesen – oder jedenfalls habe ich das herausgehört.“ Sein Lächeln befremdete sie, bis sie sich sagte, dass er es beibehielt, um sie zu beruhigen. „Die Mehrheit hier ist katholisch. Das macht Brünn zu einer Insel in der Markgrafschaft Mähren. Man will vermutlich beweisen, dass man hart durchgreifen kann, auch wenn es um Angehörige des eigenen Bekenntnisses geht.“

„Mit anderen Worten: Der Richter hat Angst vor der protestantischen Mehrheit um seine Stadt herum, und der Landeshauptmann redet den größten Schreihälsen das Wort.“ Sie spuckte die Worte aus. Über das Pochen ihres eigenen Herzens hörte sie das Klopfen, mit dem die Pflöcke in den Boden gehauen wurden, an denen man die Hand- und Fußgelenke des Verurteilten festbinden würde. Und über diesem Geräusch wiederum vernahm sie das Gemurmel der Menge um sie herum, die sich bei der Richtstätte auf dem Wienerberg eingefunden hatte. Die Kakophonie in ihrem eigenen Gehirn machte sie schwindlig. Sie hörte das Gemurre, mit dem der Großteil der Menge erwog, ob es nicht ein unziemliches Entgegenkommen den wenigen Katholiken in Wien gegenüber war, eine Protestantin hinzurichten, nur weil sie ein katholisches Kind getötet hatte. Der Verurteilte hier schluchzte jetzt und blökte immer wieder in kaum verständlicher Sprache: Ich war’s nich’, ich war’s nich’, der Teufel war’s, ich war’s nich’ …

„Hören Sie nicht hin“, sagte der Mann vor der Kutsche. Alexandra starrte in seine Augen. Sein Blick hielt sie fest. Ihr Herz schlug wie verrückt, und ihre Hände schwitzten. In Wien hatte sie aus der Menge flüchten wollen, aber die war zu dicht gedrängt gewesen, und ein zynisches Geschick hatte dafür gesorgt, dass sie ganz nach vorn geschoben wurde. Der schwankende Henker und die kaum sichtbare, sich windende, um ihr Leben bettelnde Gestalt in der Grube waren keine zehn Schritt entfernt gewesen. Alexandra hielt sich an dem ruhigen Blick der blauen Augen fest, an dem Licht, das halb versteckt darin zu tanzen schien und seiner Gelassenheit eine Tiefe gab, die sie zu anderen Zeiten vielleicht beunruhigend empfunden hätte.

„Es war eine Kindsmörderin“, flüsterte sie. „Aber keiner kümmerte sich darum, dass sie es nicht absichtlich getan hatte. Das Kind war ihr zwischen die Beine gelaufen, als sie einen Topf mit kochendem Wasser vom Feuer genommen hatte, und das Wasser hatte sich über das Kind ergossen. Es kümmerte sich auch keiner darum, was die Eltern des Kindes erlitten hatten, als sie hatten zusehen müssen, wie das Kind zu Tode gebrüht wurde. Die einen wollten sie tot sehen als Sühne für das grässliche Ende des Kindes; die anderen fanden, dass ein verbrühtes katholisches Kind noch lange nicht genug war. Und die Pfaffen … die Pfaffen stritten sich über der offenen Grube.“ Alexandra sah mit weit offenen Augen in die unmittelbare Vergangenheit. Die Erinnerung fühlte sich so an, als stamme sie erst von gestern, und gleichzeitig hatte sie das Gefühl, sie trage sie schon immer mit sich herum, so tief hatte sie sich eingegraben. „Es waren zwei protestantische Priester und ein katholischer Pater. Noch bevor der Scharfrichter beginnen konnte, hatten sie sich schon ineinander verbissen und schlugen mit den Fäusten aufeinander ein. Die Soldaten mussten sie erst voneinander trennen, damit der Henker weitermachen konnte.“

„Was war die Strafe?“ Seine Stimme war sanft.

Sie hatte ihm nicht zugehört. Sie fühlte wieder die Wut in sich aufsteigen über die Geistlichen, die sich an der Hinrichtungsstätte prügelten, und die Beklommenheit, als die Menge sich entlang der Konfessionsgrenze in zwei Lager teilte und brüllte, pfiff und spottete. Das ist es, wohin die beiden Kirchen uns führen, hatte sie plötzlich ganz klar gedacht. Über den Gräbern der Unschuldigen sehen wir ihnen zu, wie sie sich schlagen, und warten nur darauf, selbst mitmischen zu können. Und einem dieser Beispiele sollen wir folgen im Leben, um die ewige Seligkeit zu erlangen?

Von der Richtstätte hier vor den Toren Brünns drang der leiernde Gesang eines Priesters zu ihr. In wenigen Augenblicken würde die Hinrichtung beginnen … würde die Eisenkante des Rades herunterfallen auf ein über zwei Blöcke gespanntes Glied … würde der Henker den Gnadenstoß zuerst gegen Hals des Verurteilten führen? Aber nein, es galt, Härte zu demonstrieren, dies war eine politische Hinrichtung, so wie auch in Wien eine politische Hinrichtung stattgefunden hatte und der Kindsmörderin die vorherige Erdrosselung verwehrt worden war …

„Sie war jünger als ich“, sagte Alexandra, ohne zu merken, dass sie es laut gesagt hatte. Eine Augenbraue ihres Gesprächspartners zuckte.

Die Menge vorn seufzte. Dann entstand die lähmende Stille des Augenblicks, in dem der Henker sein Tötungsinstrument ansetzte, das Schwert, das Rad, der Strick, der festgezogen wurde, gefolgt von einem wuchtigen Geräusch und einem unmenschlichen Kreischen, das in das Schweigen schnitt. Üblicherweise folgte dem ersten Stoß wilder Beifall des Publikums; hier blieb es so still wie auf einem Friedhof.

Der Scharfrichter in Wien war so betrunken, dass er beinahe gefallen wäre, als er das Richtinstrument hob. Kindsmörderinnen wurden lebendig begraben; das Richtinstrument war eine gewöhnliche Schaufel. Sie fuhr mit einem Knirschen in den kiesigen Erdhaufen neben der Grube. Die erste Schaufel ging daneben, die zweite traf das Gesicht der Verurteilten, die zu husten und zu spucken begann und sich in Todesangst wand. Und in der Gegenwart, vor den Toren Brünns, zerschlug das Rad den zweiten Unterschenkel des Idioten, der schrie wie ein kleines Kind. Die blauen Augen ihres Gegenübers schienen Alexandra zugleich zu halten und aufzusaugen.

Beim dritten Schaufelhub verlor der Wiener Scharfrichter das Gleichgewicht, das Schaufelblatt glitt ab und fuhr in die flache Grube hinein, und der Scharfrichter fiel hinterher. Die Schaufel musste die Verurteilte verletzt haben, denn sie schrie vor Schmerz. Die Henkersknechte halfen dem Scharfrichter heraus, der versuchte, sie mit wütenden Fausthieben zu vertreiben, aber nur Luftlöcher schlug. Er begann weiterzuschaufeln, schwankend, schwitzend, torkelnd, ein verbissener Todesengel voller billigem Wein, nicht mehr in der Lage, den Erdhaufen von den Füßen her über den Körper der Delinquentin zu schichten und sie mit einer letzten, massiven Schaufel voll Erde halb besinnungslos zu stoßen und dafür zu sorgen, dass sie schnell erstickte. Die Erde flog überallhin, die Verurteilte krächzte und würgte und versuchte, Luft zu bekommen, und bäumte sich auf, dass es von Alexandras Position so aussah, als zappele eine Wahnsinnige in ihrem eigenen Grab – nur dass sie den Wahnsinn selbst spürte. Es war der Wahnsinn der Todesangst, es war das Zucken einer an Dreck und Kies Stück für Stück Erstickenden …

Wump! Konnte der Idiot vorne noch mehr Schmerzen verspüren?

Wump! Die Schaufel glitt erneut ab, traf den Körper der Verurteilten, und sie schrie.

Wump! Alexandra schlug mit der Faust auf den oberen Rand des Wagenverschlags, ohne dass sie es spürte, und wurde kaum gewahr, dass sich eine schlanke Hand um ihre Faust legte und sie still hielt.

Plötzlich war das Gebrüll vorne vorbei. Alexandras Ohren klangen. Die Szene auf dem Wienerberg fror vor ihren Augen ein: die erhobene Schaufel, der Dreck, der durch die Luft flog, der aufgebäumte Körper in der Grube. Sie blinzelte und spürte, dass ihr Magen sich hob. Ihr Gesicht war tränenüberströmt.

„Es ist vorbei“, flüsterte der Mann. Die blauen Augen blinzelten nicht.

„Ja“, flüsterte sie zurück, aber einen Augenblick lang hatte sie das Gefühl, im freien Fall zu sein, und sie dachte: Das ist der Anfang. Der Gedanke zerstob, kaum dass sie ihn gedacht hatte.

Die Brünner hatten den Scharfrichter nicht angegriffen. Der Henker hatte den letzten Streich auf den Hals des Verurteilten geführt und ihm das Genick gebrochen. Sein zerschlagener Körper würde auf das Rad geflochten werden, aber er würde es nicht mehr spüren. Ein weiteres Leben war qualvoll zu Ende gegangen, und ganz egal, was der Schwachsinnige getan oder nicht getan hatte, zuallererst war es ihm genommen worden, weil die beiden christlichen Konfessionen vergessen hatten, wozu Jesus Christus in den Tod gegangen war.

„In ein paar Minuten können wir weiterfahren“, ertönte die Stimme des Kutschers.

Sie blickte auf ihre Faust und stellte fest, dass sie noch immer von der Hand des Mannes neben der Kutsche umschlossen wurde. Er löste seinen Griff und bog ihre verkrampften Finger zärtlich auf; mit einer Fingerspitze strich er langsam und wie zufällig über ihre Handfläche und an einem Finger nach oben. Es schien, als folge eine Spur aus Feuer und Eis der Berührung, wie ein Kometenschweif. Alexandra klammerte die Hand um die Leiste des Wagenverschlags. Sie spürte ihren ganzen Arm zittern.

„Ich muss los“, sagte er. „Es war mir eine Ehre, Fräulein …?“

„Khlesl“, sagte sie tonlos. „Alexandra Khlesl.“

„Wir sehen uns bestimmt bald wieder“, sagte er. „Fragen Sie nach mir, wenn Sie nach Prag kommen. Ich bin Heinrich von Wallenstein-Dobrowitz, aber meine Freunde nennen mich Henyk.“

Die Wächter der Teufelsbibel

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