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8.

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Pernstein wuchs aus den umgebenden Wäldern hervor wie eine Faust, die jemand von unten durch die Erde gestoßen hatte und gegen den Himmel, gegen das Land und gegen die ganze Welt ballte. Die Wände waren hoch und abweisend. Erker starrten in alle Richtungen, ein Wehrgang lief außen um den halben Palas herum, beschirmt von einem dunklen Holzdach. Der Bergfried stand abgesondert und war nur durch eine hölzerne Brücke mit dem Hauptbau verbunden. Es spielte keine Rolle, dass die Mauer, die, eng an die Bauten gedrückt, fast auf der Krone des Burghügels stand, eher niedrig war. Der Eindruck war der von Spott – man konnte die Mauer überwinden, aber um die Steilwand selbst zu bezwingen, als welche die Burg dahinter emporwuchs, musste man ein Titan sein. Jemand, wahrscheinlich der alte Ladislaus von Pernstein, hatte versucht, den Putz zu erneuern, aber an vielen Flächen war er bereits wieder abgefallen. Der braunrote Backstein schimmerte hindurch wie alte Wunden, die niemals heilen würden. Man konnte sehen, dass der riesige Bau, der gewiss vierzig Mannslängen in der Länge und die Hälfte davon in der Breite einnahm, einmal gewaltig und ehrfurchtgebietend gewesen sein musste. Kam man durch das Tor in den Hof, der eng und finster wie der Boden eines Schachts war, erkannte man, dass die ganze Monstrosität der Burganlage auf die Verteidigung gegen außen gerichtet war. Solche Bauten trotzten der Welt und ließen nichts von ihr hinter die Mauern eindringen, und was immer dort entstand, kam aus einem schwarzen Herzen und einem tiefen, kalten Grund.

Heinrich von Wallenstein-Dobrowitz zog die Schultern hoch, als er in den Schatten des Burghofs hineinritt. Er legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den bereits dämmerig überhauchten Abendhimmel; die Mauern, Erker und Dachvorsprünge bildeten einen bizarren Rahmen für ihn. Auch wenn keine Schneereste mehr hier lagen, war doch die Winterkälte noch nicht ganz vertrieben. Er war Monate nicht mehr hier gewesen und auch in den vier Jahren zuvor, seit er die Burg zum ersten Mal gesehen hatte, nur sporadisch. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte es ruhig noch seltener sein können. Die gesamte Anlage schien ihn abzulehnen und ihm mit jedem kalten Hauch, der um eine Ecke oder ein Treppenhaus herunterwehte, zuzurufen, dass er tun könne, was er wollte, er würde nie ganz hierher gehören.

Er würde Diana nie ganz besitzen.

Im Gegenzug war er sich nur zu bewusst, dass er ihr mit Haut und Haaren gehörte.

Er war nicht sicher, wann es angefangen hatte – zu der Stunde, als sie in den Warteraum im Palais Lobkowicz getreten war und akzeptiert hatte, dass er ihr seine Freundschaft anbot? Es war nur eine Schmeichelei gegenüber einer Höhergestellten gewesen und gleichzeitig der freche Versuch, sie zu bezirzen. Er hatte nicht ahnen können, das dies dabei herauskommen würde. Später, als sie ihn aufgefordert hatte, sie noch einmal zu besteigen? Noch später, als sie ihn gedrängt hatte, die Instrumente, die im Kohlenbecken lagen, anzuwenden? Sie hatte sich, nackt wie sie war, an seinen Rücken gepresst, eine Hand um sein Geschlecht geklammert, mit der anderen sich selbst streichelnd, und ihm über die Schulter geblickt, während er, zögernd zuerst, dann mit wachsender Erregung, ihrem Drängen nachgekommen war. Waren es die vom Knebel gedämpften Schreie gewesen und das gleichzeitige Keuchen in seinem Ohr, die kundige Hand, die ihn über dem sich windenden, gemarterten Körper der Hure gemolken hatte? Die Erkenntnis, dass sie fähig gewesen war, in sein Herz zu blicken, dort den Wunsch gesehen hatte, zu demütigen, Schmerz zuzufügen, Herr über Leben und Tod zu sein, und ihr stummes Geständnis, dass sie beide in dieser Hinsicht aus einem Holz geschnitzt waren?

Seither hatte sie ihm nicht mehr erlaubt, sie zu berühren. In Prag hielt sie sich fern von ihm. In den Lobkowicz’schen Palast hatte er nur noch dann eine Einladung erhalten, wenn es galt, eine Botschaft von ihrer Seite zu beantworten und dazu ihre Brieftauben zu benutzen. Sie schien sich fast ausschließlich in Pernstein aufzuhalten, und ihr Mann, Zdenĕk von Lobkowicz, ebenso ausschließlich in Wien. Einmal hatte er beide von Weitem gesehen. Er hatte die ferne, im Sonnenlicht von Geschmeide und teurem Stoff funkelnde Gestalt, die ihren Mann beinahe um Haupteslänge überragte, nicht mit der Diana in Einklang bringen können, die ihn im Halbdunkel des Schlafzimmers befriedigt hatte, während er die Hure zu Tode gequält hatte.

In Pernstein, zu den wenigen Gelegenheiten, an denen sie ihn dorthin zitiert hatte, war sie stets geschminkt gewesen. Bei ihrem ersten dortigen Wiedersehen hatte er die Arme um sie geschlungen und sie an die Wand gedrängt, war mit einer Hand unter ihren Rock gefahren und hatte versucht, sie zu erregen. Der Blick aus den luchsgrünen Augen hatte ihn versteinern und dann zurückweichen lassen. Er hätte das Miststück vergewaltigen sollen, hatte er sich gesagt, als er nach Tagen verwirrter Einsamkeit wieder zur Abreise aufgefordert worden war, und sich vorgenommen, sie beim nächsten Mal zum Verkehr mit ihm zu zwingen, mit ein paar Faustschlägen als Dreingabe und Bezahlung für ihre vorhergehende Kälte. Doch als er, Monate später, wieder nach Pernstein gerufen worden war, hatte sich das Spiel wiederholt. Er hatte sie so sehr begehrt, dass er manchmal mehrfach pro Nacht selbst Hand an sich gelegt hatte, wissend, dass nur ein verwaister, dunkler, spinnwebenverseuchter Gang seine Schlafkammer von der ihren trennte, und er hatte nicht gewagt, sie erneut zu bedrängen.

Natürlich war ihr all dies vollkommen bewusst. Natürlich spielte sie mit ihm. Er hasste sie. Er hasste sie, während er versuchte, so langsam wie möglich durch das Labyrinth aus Gängen und Treppenfluchten zu schreiten, das die Eingeweide von Pernstein darstellte, und dabei immer wieder feststellte, dass er beinahe zu laufen angefangen hatte. Er hasste sie, während er sich gleichzeitig vorstellte, wie es sein würde, sie wieder zu besitzen, die Kühle ihrer Haut und die Hitze ihres Schoßes zu spüren, von ihr gekratzt, gekniffen und halb erstickt zu werden und ihre heisere Stimme zu hören, die ihm ins Ohr flüsterte: Fick mich noch einmal. Er musste langsamer gehen, weil ihm der Atem ausging und weil er so erregt war, dass er sich selbst in der Schamkapsel wund scheuerte.

Er liebte sie.

Er gehörte ihr.

Und sie gehörte dem Buch.

Er stieß die Tür auf zu ihrer Kapelle. Sie nannte es ihre Kapelle. Es mochte sogar die Kapelle der Burg gewesen sein, als Wilhelm von Pernstein noch im Geld geschwommen war und als sein Sohn Ladislaus es begeistert und mit vollen Händen ausgegeben hatte. Jetzt war es nur mehr ein leeres Gewölbe. Das Buch lag auf einem großen Stehpult. Wie immer stand sie davor und betrachtete es, als er eintrat. Er wiederum betrachtete sie. Das Strahlen ihres weißen Gewandes blendete seine Augen, obwohl der Raum düster war.

„Es entzieht sich mir“, sagte sie.

Es war fast zu einem Ritual geworden; er fühlte sich gezwungen zu sagen: „Geben Sie sich Zeit.“

Sie wandte sich nur halb zu ihm um. Er sah die Linie ihrer weiß geschminkten Wange und holte Luft. „Es ist Jahrhunderte alt. Und wenn es stimmt, dass der Teufel selbst es geschrieben …“

Er ahnte ihr spöttisches Lächeln mehr, als dass er es sah. Er wusste, sie glaubte daran. Heinrich selbst wusste nicht, was er glauben sollte. Er spürte, wie sein Körper zu beben anfing wie unter einem unhörbaren Vibrieren und seine Ohren dröhnten, sobald er sich Pernstein nur näherte. Doch das Vibrieren spürte er auch, wenn er in Prag war. Er war sich nicht mehr sicher, ob es nicht schon immer da gewesen war oder erst seit dem Zeitpunkt, in dem er in die Existenz der Teufelsbibel eingeweiht worden war. Das Vibrieren war wie ein Erdrutsch, der jedes Mal den innersten Kern seiner Seele freilegte und ihm gestattete, einen Blick darauf zu werfen. Manchmal gefiel ihm, was er da sah. Manchmal erregte es ihn. Manchmal musste er an sich halten, um nicht in die nächste Ecke zu stürzen und sich dort zu erbrechen, bis seine Eingeweide sich krümmten. Dann schmeckte er das viele Blut, das er an den Händen hatte, auf der Zunge, und er glaubte zu hören, wie Toro ächzte, als er ihn zum geöffneten Fenster hinauswarf. Und er vernahm das Geräusch, wie er dem schwarzen Mönch, den kein Armbrustbolzen tödlich getroffen hatte, eines der Geschosse aus der Wunde riss und dann in die Kehle stach, und endlich das durch den Knebel erstickte wahnsinnige Geheul der billigen Hure, als er den rot glühenden Phallus aus dem Kohlenbecken nahm und … Und dann pflegte er das Gebrüll Ravaillacs zu hören, unten auf der Place de Grève, während Madame de Guise stoßweise keuchte: „Fe-ster-fe-ster-fe-ster …!“ Es war schwer, das Erbrechen zurückzuhalten. Er hasste die Teufelsbibel dafür, dass sie ihm diesen Blick ermöglichte.

„Ich habe Sie früher erwartet“, sagte Diana.

„Sie wurde in Brünn aufgehalten. Ich nutzte die Gelegenheit, sie mir aus der Nähe anzusehen.“

„Und?“

„Sie ist hübsch“, sagte er widerwillig.

Sie drehte sich ganz um. Über ihre Schulter sah er riesige Illuminationen und eng geschriebene Zeichenkolonnen, dann verdeckte ihr Körper die Sicht. Das weiße Gesicht verzog die Lippen, und die Zunge zeigte sich.

„Nach Ihrem Geschmack?“

„Weiß ich nicht.“ Er wunderte sich selbst über seine Wortkargheit und darüber, dass es ihm Unbehagen bereitete, mit ihr über seine Begegnung mit Alexandra Khlesl zu sprechen.

„Werden Sie sich darüber klar. Sie ist vielleicht ein Geschenk. Von mir an Sie.“

Er winkte ab. Als sie zu ihm herüberglitt, hielt er den Atem an. Sie sah ihm tief in die Augen. Er fühlte eine kühle Hand an seiner Wange, dann brachte sie ihr Gesicht an seines. Ihre Zunge leckte über seinen Mund. Als er die Lippen öffnete, zog sie sich zurück. Er wollte nach ihr fassen, doch der glatte Stoff ihres Kleides entglitt ihm.

„Was war in Brünn?“, fragte sie.

„Irgendein armes Schwein hat dafür bezahlt, dass er ein junges Mädchen umgebracht hat. Ein Idiot“, fügte er an. „Er wusste nicht mal mehr, dass er’s getan hatte.“

„Welch eine glückliche Fügung.“

Heinrich biss die Zähne zusammen. „Ja“, sagte er dann. „Sie ist von ganz allein auf das Thema gekommen, als ich ihr erklärte, die Hinrichtung sei politisch motiviert. Sie hat in Wien auch eine Hinrichtung gesehen, mit genau umgekehrten Vorzeichen.“

„Es gibt zu viele Hinrichtungen in diesen Zeiten“, sagte sie und setzte ein falsches Mitleidsgesicht auf. „Und die Kirche kommt bei fast keiner gut weg, die protestantische wie die katholische.“

Heinrich sagte nichts. Er fühlte ihren Blick auf sich ruhen und empfand ihn gleichzeitig als unangenehm und aufreizend. Unruhig bewegte er die Schultern.

„Ich habe mit allen Mitteln versucht, den Code zur Teufelsbibel zu entschlüsseln. Ich habe nichts erreicht …“

Mit allen Mitteln, fürwahr, dachte Heinrich. Drei dieser Mittel sind von den Schweinen gefressen worden, samt ihren lächerlichen Alchimistenroben. Die drei alten Männer zu töten, war langweilig gewesen. Er hatte gehofft, dass Diana sich ihm hingeben würde, während sie die Werkzeuge an ihnen ausprobierten, die ein Tischler vor langen Jahren zu ganz unschuldigen Zwecken hiergelassen hatte. Doch sie hatte ihm nur befohlen, ihnen die Kehlen durchzuschneiden und die Leichen dann in den Schweinestall zu tragen.

„Glauben Sie wirklich, dass Kardinal Khlesl mehr weiß als Sie?“

„Mehr weiß? Er hat sich nie damit beschäftigt, aus Angst, sie könne stärker sein als er.“

„Aber ich dachte, Sie wollten ihn zwingen, Ihnen zu helfen, indem wir die Tochter seines Neffen in unsere Gewalt bringen? Wenn wir sie erst haben. Derzeit rollt sie unbehelligt nach Prag.“

„Sie enttäuschen mich, Henyk.“

Er starrte sie an. „Ich verstehe nicht …“

„Sie verstehen noch viel mehr nicht, als Sie denken.“

Heinrich zuckte mit den Schultern. „Aus dem, was Sie mir gesagt haben, habe ich geschlossen, dass wir das Mädchen hierher bringen und den alten Kardinal auf diese Weise bewegen, uns sein Wissen über die Teufelsbibel zu verraten.“ Obwohl es ihm plötzlich einen schlechten Geschmack bereitete, fügte er ganz bewusst hinzu: „Und sollte er zögern, senden wir ihm Haarsträhnen, Finger, Ohren …“ Er verstummte.

„Sie wissen offenbar immer noch nicht, mit wem wir es zu tun haben, Henyk.“

„Mit einem Kardinal, der gleichzeitig Minister von Kaiser Matthias ist, und mit seinem Neffen, der ein Krämer ist. Na und? Ihr Mann steht himmelhoch über dem alten Pfaffen, und Cyprian Khlesl ist ein Nichts.“

„Melchior Khlesl“, sagte sie langsam, „ist es zu verdanken, dass Kaiser Rudolf abdanken musste und dass unser neuer Kaiser jetzt Matthias heißt. Er hat den Herrn des Reichs in der Hand. Und Erzherzog Ferdinand hat solche Angst vor ihm, dass er ihn mit Hass überzieht, anstatt sich ihm anzudienen. Melchior Khlesl ist die graue Eminenz des Reichs und vielleicht der übernächste Papst.“

Heinrich sah zu Boden. Er fühlte sich wie ein Hütejunge, der nicht gemerkt hatte, dass ihm die Herde davongelaufen war. Und Diana war noch nicht fertig.

„Was Cyprian Khlesl angeht, so würde ich, wenn Sie und er in einer dunklen Gasse aneinandergerieten, versucht sein, mein Geld auf ihn zu setzen.“

Fassungslos fuhr er auf. Sie lächelte fein, die Hände vor dem Schoß gefaltet wie die züchtigste Jungfrau. Wut loderte in ihm empor, so schnell, dass er seinen Gesichtsausdruck nicht unter Kontrolle bekam. Ihre Brauen hoben sich leicht. „Hören Sie mit dem Zähnefletschen auf, Sie sehen aus wie ein Tier!“

„Ich bringe Ihnen seinen Kopf, und dann pisse ich in seine leeren Augenhöhlen!“, sagte er. Seine Stimme zitterte vor Zorn – und Eifersucht. Als er das erkannte, steigerte sich seine Wut noch mehr.

„Das wird nicht nötig sein“, sagte sie, „so wie es nicht nötig sein wird, Alexandra Khlesl zu zerstückeln – jedenfalls nicht, um Kardinal Khlesl damit zu erpressen. Alexandra wird eine von uns sein.“

„Was?“

„Sobald die Zeit reif ist, werde ich Sie bitten, das Herz von Alexandra Khlesl zu erobern. Sie werden dafür sorgen, dass sie Ihnen nach und nach aus der Hand frisst.“

„Und wie soll ich das anstellen?“

Ihr Lächeln war federleicht. „Ich bitte Sie! Es wird Ihnen bestimmt etwas einfallen. Auf Ihr Gesicht wären Engel neidisch. Und was den Rest betrifft: Jeder hat eine dunkle Seite. Sie sind gut darin, daran zu rühren. Vögeln Sie sie. Darin sind Sie noch besser.“

„Dazu muss sie mich erst mal an sich ranlassen, oder?“ Er dachte an das schmale Gesicht der jungen Frau in der Kutsche, fast versteckt in seiner Umrahmung aus üppigem dunklen Haar. Ein Gesicht, das verletzlich und zart wirkte, bis man den winzigen Zug von Härte um die Mundwinkel wahrnahm und auf eine Qualität schließen konnte, die Alexandra Khlesl vielleicht nicht einmal selbst bewusst war. „Vielleicht bin ich nicht ihr Typ?“

Sie seufzte leicht. „Sie sind sich offenbar nicht bewusst, dass Sie eine Gabe haben.“ Sie trat wieder nahe an ihn heran, und mit einem Ruck, der so schmerzhaft war, dass er zusammenzuckte, packte sie ihn zwischen den Beinen. Ihr Mund war plötzlich so dicht an seinem, dass ihre Lippen ihn beim Sprechen streiften. „Von dir geht eine ständige Einladung zu einem Fick aus“, flüsterte sie und bewegte die Hand. Er stöhnte. Schmerz und Lust schossen gleichermaßen durch seine Lenden. „Die einen mögen es Charme nennen, die anderen Ausstrahlung, aber ich weiß, was es ist, weil ich weiß, was in deinem kleinen schwarzen Herzen vorgeht, mein Freund Henyk: Es ist der überwältigende Hunger nach dem nächsten Stück Fleisch. Du strahlst ihn aus wie einen Duft, und er ist ansteckend wie eine Krankheit.“

Sie trat zurück, und er richtete sich ächzend auf, die Augen glasig. Sein Schoß pochte so hart, dass es ihm die Eingeweide abschnürte.

„Ich erkenne noch etwas, was den anderen verborgen bleibt“, fuhr sie fort. „Dass Sie Ihr Fleisch am liebsten blutig mögen.“

Heinrich versuchte es mit Leichtigkeit, obwohl er erschüttert war. „Nachdem Sie mir so viel über mich gesagt haben, haben Sie vielleicht auch Freude daran, mir zu sagen, was in Ihrem Kopf vorgeht? Ich weiß nämlich wirklich nicht mehr, was das Ganze soll.“

Sie wandte ihm wieder den Rücken zu, trat vor das Pult und fuhr mit der Hand über die Seiten des Codex. Heinrich hatte das Gefühl, als streiche sie über eine unsichtbare Harfe – Basstöne schienen plötzlich aufzuklingen und die Luft im Raum zum Erzittern zu bringen.

„Leite mich“, flüsterte sie. Heinrich wusste, dass nicht er gemeint war. Er hatte es mittlerweile oft genug erlebt – plötzlich gab es nur noch das Buch für sie. Die Umwelt hatte aufgehört zu existieren. Selbst ihre weiße Gestalt machte den Eindruck, mit einem Mal weniger stofflich zu sein, durchsichtig zu werden, in der Sphäre aufzugehen, aus der das Buch allen Legenden zufolge zu kommen schien. „Leite mich – damit ich das Reich leiten kann. Befiehl mir – damit ich dem Reich befehlen kann. Gib dich mir hin – damit ich dir das Reich zu Füßen legen kann.“

Heinrich verdrehte die Augen, obwohl sein Zwerchfell bebte in dem unhörbaren Basston, der den Raum erfüllte. Er hätte sich nicht gewundert, wenn Putz von den Wänden gerieselt wäre, aber was er – und zweifellos sie – spürte, hatte auf das Mauerwerk keinerlei Effekt. Plötzlich hob sie die Hand von der Seite und ließ den Kopf sinken, und das Gefühl, nahe dem Zentrum einer riesigen Trommel zu stehen, wurde schwächer.

„Kaiser Rudolf war zu schwach“, sagte sie. „Er hatte das richtige Ziel, aber den falschen Weg, und er war nicht der Auserwählte. Er glaubte, die Teufelsbibel zu besitzen, aber in Wahrheit hatte er nur Staub in seinen Händen. Er hatte erkannt, dass die Macht des Reichs nicht länger von Katholizismus oder Protestantismus, nicht länger vom Christentum abhängen kann, das sich als so schwach erwiesen hat, dass selbst seine Anhänger sich untereinander bekämpfen. Gott ist zu weit weg, und Jesus Christus hat der Welt den Rücken gekehrt und weint darüber, dass er umsonst in den Tod gegangen ist. Kaiser Rudolf war davon überzeugt, dass die Wissenschaft der einzige Ausweg sei. Sein Glaube war falsch.“

Sie drehte sich um und sah ihn an. Es war eines der wenigen Male, da sie ihm erschöpft und fast menschlich erschien. Nicht einmal nach dem verzehrenden Liebesspiel damals in ihrer Kammer im Palais Lobkowicz hatte sie so müde gewirkt; so wie jetzt sah er sie nur, wenn sie sich einmal mehr tagelang um den Codex bemüht hatte und an ihm gescheitert war.

„Kaiser Matthias hat ebenfalls erkannt, dass weder der katholische noch der protestantische Glaube der richtige Weg ist. Aber seine Lösung besteht darin, nichts zu tun und sein eigenes Leben zu genießen, solange er noch kann. Und das wird nicht mehr lange sein. Er ist krank. Wie lange hat er noch? Zwei Jahre? Drei? Und wer folgt ihm dann nach?“

„Erzherzog Ferdinand“, sagte Heinrich gegen seinen Willen. Erneut kam er sich wie ein kleiner Junge vor, der den Katechismus der Großen nachbeten muss.

„Der dumme, engstirnige, erzkatholische Ferdinand von Österreich, der nicht einmal auf den Abtritt geht, ohne vorher seinen Onkel Maximilian zu fragen“, sagte sie. Ihr Blick verschwamm, als gehe er durch die Wände der Burg hindurch. „Er wird nur zu weiterem Stillstand beitragen, und der Zwist zwischen der katholischen und der protestantischen Kirche wird das Land immer noch auffressen wie ein Geschwür. Die Wissenschaft ist nicht der richtige Weg, auch wenn Rudolf erkannt hat, dass ein dritter Weg nötig ist zwischen dem Papst und den Protestanten. Die Menschen müssen an etwas glauben. An die Wissenschaft kann man nicht glauben. Gott aber hat sich abgewandt, und Christi Lehre ist zu einem perversen Glaubensbekenntnis machthungriger alter Männer geworden. Ich werde den Menschen den Glauben zurückgeben, den Glauben an die einzige Macht, die sich von Anfang an für die Menschheit interessiert und versucht hat, sie auf ihre Seite zu bringen.“

Sie legte ihre Hand erneut auf die aufgeschlagenen Seiten des Buchs, aber diesmal blieb die Wirkung aus.

„Er hat versucht, uns das Wissen zu geben, immer und immer wieder. Er ist am Aberglauben und an der Dummheit der Menschen gescheitert. Ich werde dafür sorgen, dass er diesmal triumphiert.“

Unvermittelt zeigte sich ein Lächeln auf ihren Zügen. Es spiegelte sich nicht in ihren erschöpften Augen wider. Heinrich empfand es als unheimlich. „Kennen Sie die Legende vom Jahrtausendkaiser, Freund Henyk?“, wisperte sie.

Heinrich zuckte mit den Schultern.

„Und ich sah den Himmel offen stehen, und siehe, ein weißes Pferd“, flüsterte sie, „und der auf ihm sitzt, richtet und kämpft in Gerechtigkeit. Seine Augen sind wie eine Feuerflamme, und auf seinem Haupt sind viele Diademe. Er trägt einen Namen, den niemand kennt als er selbst. Er ist umkleidet mit einem Gewand, das mit Blut getränkt ist, und sein Name heißt: das Wort.“

Sie lächelte erneut. Heinrichs Nackenhaare stellten sich auf, als er sah, wie Härte und Müdigkeit für einen Moment ihre Augen verließen und sie fast weich wurden. Er schluckte, als er einen winzigen Blick auf die Frau zu erhaschen meinte, die tief drin hinter der weiß geschminkten Hülle und der unnahbaren Seele lebte, die ihm und der Welt präsentiert wurde: eine Frau, die verzweifelt versuchte zu glauben – an sich und ihre Bestimmung. Es war ein Wesen, das ihm so fremd war, dass er sich davor fürchtete. Einen Herzschlag lang war der Gedanke zu flüchten ebenso übermächtig in ihm wie seinerzeit im Wartezimmer im Palais Lobkowicz, und er machte bereits einen Schritt rückwärts, da ging eine subtile Veränderung in ihrem Gesicht vor, und sie war wieder diejenige, die er kannte und deren wahren Namen er so selten nannte, dass er nicht einmal in seinen Gedanken an erster Stelle stand. Für ihn war sie Diana, die schönste Frau der Welt, seine Partnerin, seine Liebhaberin für einen ekstatischen, schrecklichen, alles offenbarenden Nachmittag – seine Göttin, die er manchmal hasste und die er über alles begehrte.

„Meine Mutter war streng katholisch“, sagte sie. „Wo andere Kinder die Geschichten von Prinzessin Libusze und Prinz Przemysl hörten, las sie aus der Bibel vor. In der Offenbarung heißt es, dass beim letzten Kampf ein König der Könige sich erhebt und die große Schlacht gewinnt; danach übergibt er den Thron dem, der Gericht halten darf, und dieser wird herrschen für tausend Jahre.“

„Der Jahrtausendkaiser, der den Weg freigibt für die Wiederkunft Christi“, sagte Heinrich.

„Ich werde der Jahrtausendkaiser sein“, sagte sie so ruhig, dass es eindringlicher wirkte, als wenn sie es deklamiert oder geschrien oder ihre Hände zum Beweis auf glühende Pflugscharen gelegt hätte. „Aber ich werde das Reich nicht Christus übergeben. Christus hat tausendsechshundert Jahre lang seine Chance gehabt und sie nicht genutzt. Ich gebe sie dem, der die wirkliche Macht innehat.“ Sie nahm ein paar Seiten des Buches und schlug sie um. Die riesigen Blätter ließen Modergeruch wie einen Windhauch in Heinrichs Nase steigen. Sie machte eine Kopfbewegung, und er trat unwillig näher. Auf einer mächtigen Doppelseite erhob sich links das Bild einer Stadt, umgeben von Mauerringen und bekränzt von Türmen. Rechts war das Abbild …

Heinrich bekreuzigte sich. Sie lachte und liebkoste die krallenfüßige, behörnte Gestalt. Deren Gesicht lächelte – siegessicher.

„Sie wollen die Voraussetzungen für einen Krieg schaffen“, sagte Heinrich schließlich mit trockenem Mund.

„Ich habe sie schon lange geschaffen“, sagte sie und machte eine wegwerfende Geste. „Glauben Sie doch nicht, dass ich die ganzen Jahre lang nur über der Teufelsbibel gebrütet habe. Ich brauche sie, das ist wahr. Aber ich brauche sie erst dann, wenn das Reich in Flammen aufgegangen ist, um es aus der Asche emporzuheben. Bis dahin habe ich Zeit. Und damit das Reich in Flammen aufgeht, braucht es nichts als eine ausreichend große Menge engherziger Hohlköpfe, die alles hassen, was nicht so denkt wie sie. Ich habe dafür gesorgt, dass an allen wichtigen Stellen des Reichs solche Menschen sitzen. Der Reichskanzler hat die Macht dazu, und die Macht über den Reichskanzler hat die Frau, die im Bett in sein Ohr flüstert.“

Heinrichs Augen zuckten; er konnte es nicht verhindern. Ihr Mund verzog sich zu einem winzigen Lächeln.

„Die neuen königlichen Statthalter, Graf Martinitz und Wilhelm Slavata: einfältige, glühend katholische Dummköpfe ohne Weitblick, die ihrem Herrn, König Ferdinand, in nichts nachstehen. Auf der Gegenseite: Graf von Thurn, der Anführer der böhmischen Stände, der nicht einmal richtig böhmisch sprechen kann, ein Phantast, ein Schwätzer, in seine eigene Stimme verliebt und fanatisch protestantisch gesinnt. Das einzige Talent, das er hat, ist, mit seinen hochfliegenden Plänen auch die misstrauischsten Geister einwickeln zu können. Und das sind nur die prominentesten Vertreter. Haben Sie gedacht, eine solche Anhäufung von Inkompetenz auf beiden Seiten wäre reiner Zufall? Es wird einen Krieg geben. Für all die, über die er hinwegzieht, wird er sein wie der letzte Kampf aus der Offenbarung. Ich aber werde der Kaiser sein, der aus seinen Ruinen aufersteht.“

„Ein Herrscher über Millionen Tote.“

„Da es nicht Skrupel sind, die aus Ihnen sprechen können, mein Freund – was wollen Sie mir damit mitteilen?“

„Wenn Sie einen Glaubenskrieg unter der Christenheit entfachen – und nichts anderes höre ich aus Ihren Worten –, dann wird am Ende niemand mehr übrig sein, der irgendetwas glaubt. Der Teufel hat seine Macht von Gott, und Gott wird nach diesem Krieg ebenso tot sein wie alle, die an ihn glauben.“

„Deshalb habe ich vorgesorgt.“

„Die Kinder“, sagte Heinrich, der das Gefühl hatte, dass ihm plötzlich ein Licht aufging. Er hielt den Atem an. Er hatte sie einmal mehr vollkommen unterschätzt.

„Die Kinder“, nickte sie. „Die Kinder der Hofbeamten, die Kinder der reichen Händler, die Kinder der Adligen, die Kinder der Familien der Bischöfe und Kardinäle. Mit Alexandra Khlesl machen wir den Anfang. Wenn wir die Macht über sie erringen können, werden wir es auch bei allen anderen vermögen. Kardinal Khlesl ist der Einzige, der sich mir zum jetzigen Zeitpunkt in den Weg stellen und die Rückkehr der Teufelsbibel verhindern könnte. Er hat es schon einmal getan. Alexandra ist die Tochter seines Lieblingsneffen. Er wird nicht zulassen, dass ihr etwas geschieht; er wird gar nicht ahnen, dass sie längst eine von uns ist, wenn er sich mir unterwirft.“

Das Unbehagen kroch erneut in Heinrich hoch, als sie Alexandra erwähnte. Er schüttelte es ab, aber es kam sofort wieder.

„Woher wissen Sie das alles?“, fragte er. „Vier Jahre haben Sie hier verbracht mit allen möglichen Zauberritualen, ohne einen Schritt vorwärtszukommen. Woher stammt plötzlich das Wissen über Kardinal Khlesl und seine Familie? Als Sie mich losgeschickt haben, um mich auf die Spur der Tochter zu setzen, wussten Sie das alles bereits.“

Sie zögerte einen winzigen Augenblick, dann sagte sie: „Folgen Sie mir.“

Sie führte ihn durch das Labyrinth der Burg zu der schwankenden Holzbrücke, die den Bergfried mit dem Haupthaus verband. Der Bergfried war innen geräumiger als manches Wohnhaus eines einfachen Bürgers in der Stadt. Sie machte sich an einer Tür zu schaffen und schloss sie auf. Der Raum dahinter war leer bis auf ein Bett, verblasste Gobelins an den Wänden und einen Kamin, in dem ein Feuer brannte. Trotz der Kälte, die die Mauern ausstrahlten, war es stickig warm. Eine Gestalt saß in einer der engen Fensternischen und wandte sich zu ihnen um. Heinrich zog die Augenbrauen in die Höhe. Die Gestalt war eine schlanke, hübsche, junge Frau, die ein Kleid trug, das vor vierhundert Jahren in Mode gewesen sein musste. Ihr Anblick zusammen mit der altertümlichen Anmutung des Raumes ließ ihn einen Augenblick orientierungslos werden.

Die junge Frau klatschte in die Hände und lachte. Sie deutete dabei aufgeregt zum Fenster hinaus.

Die weiße Gestalt an Heinrichs Seite trat zu ihr und beugte sich über sie. „Ja, gewiss“, hörte Heinrich sie sagen. „Dort draußen kommen die Ritter vorbei – Lanzelot, Gawain, Erec … Du musst Geduld haben, dann kommen auch König Artus und Königin Guinevere. Du musst einfach nur Geduld haben.“

Die junge Frau umarmte Diana und kicherte aufgeregt. Sabber lief ihr über das Kinn. Fassungslos sah Heinrich, wie Diana ihr das Gesicht abwischte. Die junge Frau setzte sich und nahm ihren Beobachtungsposten wieder auf. Dann wandte sie ihm das Gesicht zu und lächelte erneut, und niemand hätte sagen können, dass mit ihr etwas nicht richtig war. Er ließ sich von Diana hinausschieben. Sie schloss die Tür hinter sich zu.

„Eine Idiotin“, sagte sie. „Es heißt, sie habe im Wald gelebt, bis eine Jagdgesellschaft sie fand und zu den Prämonstratenserinnen in die Nähe von Brünn brachte. Dort hat sie eine Bürgerin von Brünn herausgeholt und als ihr eigenes Kind angenommen.“

„Sie ist eine Schönheit“, sagte Heinrich.

„Ihr Hirn ist vollkommen leer. Nur zwei Dinge habe ich darin gefunden: die Geschichten von König Artus – ich weiß nicht, wer sie dort eingepflanzt hat – und die Überzeugung, dass ich ein Engel bin.“

„Was spielt sie für eine Rolle?“

„Die Frau, die sich ihre Mutter nennt, hätte sie gern wieder zurück. Das junge Ding – sie heißt Isolde – ist nicht ganz freiwillig hier, auch wenn sie selbst das gar nicht merkt und denkt, der ‚Engel’ habe sie eingeladen, damit sie die Ritter der Tafelrunde kennenlernen kann.“

„Es geht also um die Frau, die sie an Kindes statt aufgenommen hat?“

„Ich bin nicht sicher, ob die alte Kuh mir alles erzählt hat. Mit dem Mädchen habe ich sie weiterhin in der Hand. Aber sobald Melchior Khlesl meine Macht anerkannt hat, brauche ich weder sie noch die Kleine.“ Ihr Lächeln war kalt. „Können Sie überzeugend den Tristan für unsere Isolde spielen? Sie wird sich nicht allzu schwer täuschen lassen. Wenn ich sie nicht mehr brauche, gehört sie Ihnen. Kohlenbecken, Zangen, Messer, Sägen – was immer Sie benötigen, werden Sie dann irgendwo hier finden können.“

„Vielleicht will sie ja in Gegenwart ihres Engels den Weg zum Himmelstor antreten?“ Heinrich fand, dass es einen Versuch wert war. Er war überrascht, dass sie sich plötzlich an ihn drückte, ihren Mund auf seinen presste und ihn küsste. Er erwiderte den Kuss keuchend und voller Leidenschaft, packte mit der einen Hand ihr Gesäß und mit der anderen ihre Brust. Sie schob ihn von sich.

„Wer weiß“, erwiderte sie. Er stierte die verwischte Schminke auf ihrem Mund an; es sah aus, als habe sie Blut getrunken. „Wer weiß, mein schöner Tristan. Aber bis dahin haben Sie noch jede Menge Arbeit zu tun.“

Die Wächter der Teufelsbibel

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