Читать книгу Die Wächter der Teufelsbibel - Richard Dübell - Страница 25

3.

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Andrej hatte sich in Brünn verliebt. Er wusste nicht recht, weshalb. Lag es daran, dass die Stadt selbstbewusst zu dem steilen Burghügel emporstieg und sich weniger ihm zu Füßen zu ducken als sich vielmehr anzuschicken schien, ihn zu erobern? Oder daran, dass die Stadt stets eine willkommene Abwechslung bot, ob man sich nun aus dem Süden von Wien her näherte oder vom Norden her aus Prag? Kam man von Wien, beendeten die Hügelketten nördlich von Brünn die eintönige Ebene, die sich zwischen der Habsburgerstadt und der quirligen mährischen Handelsmetropole erstreckte. Kam man hingegen von Prag, waren die sanft in die Ebene auslaufenden Kuppen dem Auge des Reisenden, der sich zwei Tage lang durch enge Täler, dunkle Wälder, an schroffen Hängen entlang und durch abweisende kleine Dörfer gequält hatte, eine Wohltat.

Oder lag der Grund seiner Zuneigung mehr darin begründet, dass man in Brünn (und fast in der ganzen Markgrafschaft Mähren) beschlossen hatte, sich so lange wie möglich dem Irrsinn des Kampfes zwischen Reformation und Gegenreformation zu verschließen, und sich täglich daran zu erinnern versuchte, dass der Glaube etwas war, das die Menschen erhalten sollte, statt sie umzubringen? Seit Jahren freute er sich auf die erste Reise jedes Jahres, wenn die Luft nach frischer, nasser Erde roch, wenn in den waldbeschatteten Ecken nordwärtsgewandter Felder noch kleine Schneefelder lagen und die Kühle des letzten Winterhauchs mit der Sonnenwärme im Gesicht wetteiferte. Seit Jahren hatte er diese erste Reise so organisiert, dass der Rückweg ihn durch Brünn führte.

Andrej dachte resigniert daran, dass die Liebe, wenn man sie noch nicht ganz in sich abgetötet hatte, sich immer etwas suchte, woran sie sich hängen konnte. In seinem Fall hatte sie sich nicht mehr an eine Frau gehängt. Es war, als ob alles, was er jemals für eine Frau hatte empfinden können, mit Yolanta gegangen war. Er liebte Wenzel mit der heißen Leidenschaft eines Vaters für seinen einzigen Sohn, und über die Jahre war eine weitere, sanftere Liebe in seinem Herzen aufgegangen, die für die Menschen auf der Mährischen Höhe.

Was Letzteres betraf, so war er an diesem Tag nicht ganz sicher, ob er sich nicht plötzlich in der Rolle des enttäuschten Liebhabers wiederfand.

„Bitte“, sagte Vilém Vlach. „Wir zählen auf Sie.“

„Wer ist ‚wir’?“, fragte Andrej.

„Bitte“, sagte Vilém, der weiterhin das Eingangsportal zum Rathaus von Brünn aufhielt und einladende Bewegungen machte. Andrej behauptete seinen Platz vor dem Rathaus und machte nach Kräften den Eindruck eines Mannes, der keinesfalls vorhatte, der Einladung zu folgen. „Der Bürgermeister, der Stadtrichter und Landeshauptmann von Žerotín.“

„Ich denke, da ist genügend Kompetenz vorhanden“, sagte Andrej. Er grinste Vilém an. „Nicht zu reden von Ihnen, lieber Vlach.“

Vilém Vlach war die pragmatische Ergänzung zu der Gruppe von Männern, die die Geschicke in der Markgrafschaft leiteten. Theoretisch trug Kaiser Matthias den Titel und die Verantwortung des Markgrafen von Mähren, praktisch verschwendete er täglich keinerlei Gedanken daran und verließ sich auf seinen Landeshauptmann Karl von Žerotín, der zwar Protestant war, aber zum gemäßigten Lager gehörte und sich im Bruderkampf im Hause Habsburg auf Matthias’ Seite geschlagen hatte. Theoretisch war Olmütz die Hauptstadt der Markgrafschaft, aber der Landeshauptmann zog seit Jahren das lebhaftere Brünn vor, und so waren dessen Bürgermeister und der Stadtrichter ganz natürlich zu seinen Vertrauten geworden. Vilém Vlach war lediglich ein in Brünn ansässiger Kaufmann, dem die halbe Stadt gehörte und vom Rest größere Anteile. Wer sicherstellen wollte, dass bei diversen Entscheidungen alle an einem Strang zogen und die Beschlüsse auch anschließend umgesetzt wurden, kam an ihm nicht vorbei, und die Troika an der Spitze Mährens war pragmatisch genug, dies nicht nur zu erkennen, sondern sich auch danach zu richten. Was Andrej betraf, der in den Jahren nach dem Tod Kaiser Rudolfs und dem Verlust seines Amts als fabulator principatus die Aufgabe übernommen hatte, die nötigen Geschäftsreisen für die Firma „Wiegant & Khlesl“ zu übernehmen, so war der äußerlich unscheinbare Vilém einer seiner wichtigsten und angenehmsten Geschäftspartner. Im Augenblick fragte Andrej sich allerdings, ob er nicht in all den Jahren Stück für Stück in ein aus Höflichkeit und lukrativen Geschäftsabschlüssen geknüpftes Spinnennetz gekrochen war, das Vilém Vlach nur zu dem einen Zweck gefertigt hatte, ihn, Andrej, wegen eines Gefallens in Verlegenheit zu bringen. Jedenfalls klebte er jetzt darin fest.

Er war entschlossen, nicht ohne Widerstand gefressen zu werden.

„Es ist die Kompetenz von außen, die zählt“, sagte Vilém.

Andrej hatte die Erfahrung gemacht, dass Vilém Vlach in seinem Meisterfach, dem des Tanzes der schönen Worte um den Busch herum, nicht zu schlagen war. Vlachs Schwäche war höchstens, an diese Art der Musik so gewöhnt zu sein, dass er mit Direktheit aus dem Takt gebracht werden konnte.

„Ihr braucht einen Sündenbock, das ist alles“, sagte er.

Vlach richtete sich auf, fünf Fuß in Freundschaft empörtes Gutmenschentum. „Sie kennen mich nun doch schon so lange!“, rief er.

Fast so lange, wie ich hierherkomme, dachte Andrej, aber auch lange Routine schützt nicht vor Überraschung, nicht wahr? Er hatte heute schon eine Überraschung erlebt: Leona war nicht da gewesen. Wann immer Andrej in Brünn haltmachte, gehörte ein Besuch bei Leona üblicherweise dazu. Er pflegte fünf Pfund Korrespondenz bei ihr abzugeben und nahm sieben Pfund mit – alles von und für Agnes Khlesl. Leona war einmal Agnes’ Kindermädchen gewesen, dann ihre Magd. Nachdem Cyprian und Agnes geheiratet hatten, hatte auch das alte Mädchen noch ein spätes Glück gefunden und einen Handwerker aus Brünn zum Mann genommen. Ihrer Verbindung waren keine Kinder entsprungen. Aber als Leona vor drei Jahren zur Witwe geworden war, hatte sie ein halbwüchsiges Mädchen aus dem Prämonstratenserinnenkloster bei sich aufgenommen, eine strahlende, ständig fröhlich lachende Schönheit. Das Mädchen hieß Isolde und war die wunderhübsche Hülle eines Menschen, dem das Schicksal jeglichen Verstand versagt hatte, der über den eines kleinen Kindes hinausgegangen wäre. Leona liebte sie abgöttisch, und Isolde liebte Andrej, seit er angefangen hatte, ihr bei jedem Besuch Geschichten zu erzählen. Irgendwie schien es Andrejs Bestimmung zu sein, gestörten Persönlichkeiten mit seinen Geschichten Glück und Frieden zu bringen. Vor zwanzig Jahren war es Kaiser Rudolf gewesen – heute Isolde. Ein Abstieg … Dafür war Isolde mit seinen Märchen zufrieden und wollte nicht immer wieder von dem Tag hören, an dem Andrejs Eltern ihrer Suche nach der Teufelsbibel zum Opfer gefallen waren.

„Und ich kenne Sie ebenso gut wie Sie mich“, sagte Vilém Vlach. „Deshalb weiß ich, dass Sie der Richtige sind.“

„Was immer hier passiert ist und wozu Sie mich auch als ‚Berater’ benötigen, ich bin sicher, dass es entweder der protestantischen oder der katholischen Fraktion ein Dorn im Auge ist. Wahrscheinlich beiden. Und welche Entscheidung auch immer fallen wird, wenn Sie alle nachher sagen können, jemand von außerhalb der Stadt habe daran großen Anteil gehabt, dann haben Sie eine gute Chance, die Ruhe hier weiterhin zu bewahren – und das Haus „Wiegant & Khlesl“ eine noch größere Chance, in Brünn nie mehr Geschäfte zu machen.“

„Die meisten Geschäfte machen Sie mit mir, von daher haben Sie nichts zu befürchten“, erklärte Vlach.

„Vilém, Sie bringen mich in eine verteufelte Lage. Warum tun Sie das?“

„Weil es wichtig ist.“

„Für wen? Für Sie? Für den Landeshauptmann? Für den Kaiser?“

„Für ein armes Schwein, das sonst hingerichtet wird“, sagte Vilém. Er hielt den Türflügel immer noch auf. „Bitte.“

„Was? Ich dachte, es geht um eine Kreditsache oder um eine ausbleibende Zahlung oder um schlechte Ware …“

„Lieber Herr von Langenfels“, sagte Vilém, „ich weiß, Sie meinen es nicht böse, wenn Sie uns unterstellen, mit solchem Kinderkram nicht intern fertig zu werden.“

Andrej funkelte ihn an, aber er brachte es nicht über sich, wirklich wütend auf den kleinen Kaufmann zu sein.

„Worum also geht es hier? Um Hochverrat? Um Totschlag? Was wollen Sie von mir? Soll ich raten, jemanden freizusprechen, der ein Verbrechen begangen hat?“

Vilém seufzte. Er machte das Gesicht, das er immer machte, wenn er einen Handel zum Abschluss bringen wollte und sich um die Hoffnung betrogen sah, dass sein Gegenüber sich rupfen ließ. „Kommen Sie schon herein, beim heiligen Kyrill!“, sagte er ungeduldig. „Das ist nichts, worüber man sich in der Gasse unterhält.“

Andrej sah unwillkürlich zum Giebel der Portalrahmung am Rathauseingang auf und zur Statue der Gerechtigkeit, die sich zu dem verkrümmten Giebeltürmchen über ihrem Haupt umwandte. Er kannte die Legende dieser architektonischen Merkwürdigkeit, und sie rief Beklommenheit in ihm wach, während er seinem Geschäftspartner durch die finstere Wagenzufahrt in einen weiten Innenhof folgte. Vlach führte ihn eine breite Treppe nach oben

Andrej kannte den großen Herrensaal im Brünner Rathaus mit der gemalten Gerichtslinde in der einen Ecke, aber zu seiner Überraschung bog Vilém davor ab und führte ihn in einen mangelhaft beleuchteten Gang.

„Mir wäre es lieber, der Stadtrichter würde es Ihnen sagen, aber Sie geben ja keine Ruhe.“

„Der Stadtrichter würde mir was sagen?“

„Sie haben ja recht, lieber Herr von Langenfels. Wir brauchen Sie als Sündenbock. Es wäre töricht gewesen anzunehmen, dass Sie den Braten nicht riechen würden.“

Andrej hatte mit einem Mal das Bedürfnis, stehen zu bleiben, die Arme vor der Brust zu verschränken und „aha!“ zu rufen, aber er kannte die Stimmung, in der Vilém Vlach sich jetzt befand. Wenn er schonungslos ehrlich war, dann stand wirklich etwas auf dem Spiel.

„Wie fast überall im Reich sind auch hier die Bürger und der Adel – mit wenigen Ausnahmen – protestantisch. Wenn es nach ihnen geht, dann muss der Bursche für seine Tat sterben; einen anderen Richterspruch lassen sie gar nicht gelten, oder sie gehen auf die Barrikaden. Wenn wir ihn aber hinrichten, dann laufen die Bauern Sturm, denn diese sind erstens in der Hauptsache katholisch, zweitens betrachten sie den Gefangenen als einen von ihnen, und drittens sieht die katholische Fraktion überhaupt nicht ein, dass man schon wieder vor den Protestanten den Schwanz einzieht.“

„Was hat der Mann denn getan?“

„Die Gerichtsakten sagen, er habe ein junges Mädchen ermordet.“

„Du lieber Gott! Dafür muss er hängen. Das hat nichts mit der Konfession zu tun.“

„Sie sollen raten, dass er eingesperrt wird. Das wird die Protestanten nicht ganz besänftigen und die Katholiken nicht ganz aufregen, und wir können den Status quo aufrechterhalten. Sie sind doch Geschäftsmann, lieber Herr von Langenfels. Wissen Sie, was ein Kompromiss ist? Wenn alle Parteien am Ende unzufrieden sind. Allerdings hält er unser Gleichgewicht aufrecht.“

„Aber der Mann ist doch schuldig.“

„Eben nicht.“

Was?

„Sie sollen raten, dass ein Mann für eine Tat eingesperrt wird, die er allem Dafürhalten nach gar nicht getan hat“, erklärte Vilém geduldig. Sie waren jetzt am Ende des langen Ganges angekommen. An der Kopfseite befand sich eine Tür.

„Warum denn, um alles in der Welt?“

„Weil wir ihn sonst hinrichten müssen, um den Frieden zu wahren, und wir der Meinung sind, wenn es schon ein Justizopfer geben muss, dann soll wenigstens kein Blut fließen.“ Vilém packte den Türdrücker. „Dieses Arbeitszimmer ist für den Markgrafen reserviert, also für den Kaiser. Hier können wir in Ruhe beraten, ohne Lauscher befürchten zu müssen oder gestört zu werden. Hierher hat sich noch nie eine Menschenseele verirrt.“

Andrej verdrehte die Augen. Vilém hob die Hand.

„Noch etwas“, sagte er. „Wenn wir das Urteil verkünden, werden wir Sie nicht namentlich als Berater erwähnen. Es wird allerdings in den Protokollen stehen, dass uns ein enger Vertrauter von Kaiser Matthias unterstützt hat; als das haben wir Sie verkauft. Da Ihr Gesicht in der Stadt bekannt ist, werden die Leute glauben, Sie wären auch schon früher in kaiserlicher Mission hier gewesen, und das gibt Ihrer ‚Stimme’ noch mehr Gewicht.“

Andrej holte Luft, aber Vilém schnitt ihm das Wort ab. „Wir haben’s dem Wirt Ihrer Herberge schon gesteckt. Der Mann ist wie eine von diesen Buchdruckmaschinen – was Sie in ihn hineinsagen, repliziert er tausendfach. Benehmen Sie sich also etwas arroganter ihm gegenüber, nicht so, wie es sonst Ihrer Natur entspricht, lieber Herr von Langenfels.“

„Das kostet Sie beim nächsten Handel einen Rabatt von achtzig Prozent“, sagte Andrej.

Vilém zuckte unglücklich mit den Schultern, sagte: „Bitte!“, dann riss er die Tür auf und stürmte voran.

„Das sind die Fakten“, erklärte der Stadtrichter. „Komár ist ein Ziegenhirte. Wenn Sie wissen, wie gut Ziegen auf sich selbst aufpassen können, dann wissen Sie auch, von welchem geistigen Zuschnitt Komár ist. Man geht vermutlich nicht fehl in der Annahme, dass der Ziegenbock ihn als ein wenig zurückgebliebenes Mitglied seiner Herde akzeptiert hat.“

„Jeder Topf findet seinen Deckel“, sagte Andrej und erntete schiefe Blicke dafür.

„An dem Tag vor drei Wochen, um den es geht, gab es eine Jagdgesellschaft, die aus Gästen von Seiner Gnaden bestand.“ Landeshauptmann von Žerotín neigte den Kopf. „Die Herren waren im Wald unterwegs, als die Pferde plötzlich unruhig wurden. Sie dachten, es sei vielleicht ein Bär, aber wer hat schon um diese Zeit von einem Bären so nahe bei der Stadt gehört? Die Herren erforschten die nähere Umgebung, machten Lärm, schlugen auf die Büsche, kurz, taten, was sie konnten, aber die Pferde ließen sich nicht beruhigen. Sie wurden immer nervöser und immer aggressiver.“

Andrej hörte zu. Er konnte nicht verhindern, dass ihm ein leiser Schauer über den Rücken rieselte. Das Arbeitszimmer des Kaisers war ein großer Raum mit zugezogenen Vorhängen, in dessen Ecken Schatten lagen. Die Laterne auf dem Tisch flackerte in einem leisen Luftzug, den man nur wahrnahm, weil er einem fast unmerklich Hände und Füße kalt werden ließ. Draußen, jenseits der zugezogenen Vorhänge, war ein warmer Frühlingstag, aber hier drinnen herrschte tiefer Winter.

„Schließlich führten sie die Pferde so lange am Zügel zurück, bis diese sich beruhigt hatten. Das war das merkwürdigste Phänomen, das die Herren je erlebt hatten, und das Beunruhigendste daran war, dass sie selbst sich auch plötzlich leichter fühlten. Es war, als sei ein unangenehmer Geruch, den man weniger mit der Nase als mit dem Sinn wahrnimmt, erstorben. Als sei ein langsamer, dumpfer Trommelschlag, der einem die Eingeweide vibrieren lässt, auf einmal nicht mehr hörbar.“

Andrej sah den Stadtrichter bestürzt an.

„So war es doch, Euer Gnaden, oder nicht?“

„So hat man es mir berichtet“, sagte Karl von Žerotín.

„Haben Ihre Gäste es so gesagt? Das mit dem Vibrieren?“

„Äh…?“ Der Landeshauptmann schien befremdet über Andrejs unerwarteten Ausbruch.

„Ein Pochen? War es nicht eher ein Pochen, Euer Gnaden? So wie der langsame Schlag eines mächtigen, bösen Herzens, das halb aus dem eigenen Leib zu kommen scheint und halb aus einem Land jenseits unserer Vorstellungskraft? So als dränge sich eine andere Präsenz auf einmal in unser eigenes Sein?“

Die vier Männer rund um den Tisch starrten Andrej befremdet an.

„Ein Pochen, das an Kraft zunimmt, wenn unsere Gedanken sich mit Gewalt befassen? Haben Ihre Gäste ans Töten gedacht? An den Fangstoß für ein mit dem letzten Atem um sein Leben kämpfendes Tier?“

„Geht es Ihnen gut?“, fragte der Bürgermeister.

„Bitte“, sagte Vilém Vlach.

„Wir sollten uns an die Fakten halten“, meinte der Landrichter hörbar irritiert.

Andrejs Augen ließen die Blicke des Landeshauptmanns nicht los. Karl von Žerotín schien nachdenklich. „Nicht mit so vielen Worten“, sagte er schließlich. „Aber ich bin überzeugt, das haben sie gemeint.“

Die Blicke des Richters, des Bürgermeisters und Vilém Vlachs zuckten zwischen Andrej und Žerotín hin und her.

„Haben Sie dieses Phänomen schon einmal selbst erlebt?“, erkundigte sich der Landeshauptmann.

„Was ist dann geschehen?“, fragte Andrej.

Der Stadtrichter ordnete umständlich seine Kleidung und versuchte, den Faden wiederzufinden. Er maß Andrej unter gesenkten Brauen.

„Drei der Herren fassten sich schließlich ein Herz. Sie waren einem Trampelpfad durch das Dickicht gefolgt und hielten sich weiterhin an ihn. Keine dreihundert Schritte voraus tat sich eine Lichtung auf, in der eine Ziegenherde äste.“

„Die Ziegen standen in einem Kreis eng beieinander, die Böcke außen, die Lämmer innen, und waren so nervös wie vor einem Unwetter“, sagte Andrej.

Der Richter beäugte ihn noch misstrauischer.

„Ich habe schon Ziegenherden gesehen, wenn draußen ein Raubtier herumschleicht“, erklärte Andrej. „Ich habe recht, oder?“

Die Männer erwiderten nichts. Ihr Schweigen war Antwort genug. Der Bürgermeister und der Stadtrichter brieten Vilém Vlach mit Blicken, die laut und deutlich sagten: Was hast du uns denn da angeschleppt? Allein der Landeshauptmann betrachtete Andrej mit großem Interesse.

„Am Rand der Lichtung“, sagte der Stadtrichter nach einer Weile, „entdeckten sie Komár …“

„ … und sein Opfer“, krächzte der Bürgermeister.

„… und die junge Frau“, verbesserte der Stadtrichter. Der Bürgermeister sandte einen aufgebrachten Blick zur Decke. „Sie war tot“, fügte der Stadtrichter ergänzungshalber an.

„Er hat sie umgebracht, das ist doch klar“, sagte der Bürgermeister.

„Ich bin nicht mehr so sehr in der Gnade des Kaisers wie früher“, sagte der Landeshauptmann leise. „Ich fürchte, ich werde bald abgelöst werden. Ich möchte das hier erledigt haben, bevor es so weit ist.“

„Aber Sie erledigen es nicht, Euer Gnaden“, erwiderte Andrej. „Erledigt wäre die Angelegenheit nur, wenn Sie Komár freisprechen oder zum Tode verurteilen würden. Mit dem, was Sie vorhaben, schieben Sie alles nur auf. Ihr Nachfolger wird als Erstes in das Gefängnis gucken, und wenn er zu den radikalen Anhängern der protestantischen Stände gehört, rollt er den ganzen Fall noch einmal auf – und dann wird Komár entweder gerädert oder in heißem Öl zu Tode gesotten, wie es das Gesetz für Notzüchter vorsieht. Wenn er Glück hat, hängt man ihn nur auf.“

Der Landeshauptmann wich Andrejs Blick aus. „Ich möchte sein Blut nicht an meinen Händen haben.“

„Sie wollen vielleicht wissen, was man der jungen Frau angetan hat“, sagte der Stadtrichter. Andrej las seinen Gesichtsausdruck und hatte das Gefühl, dass er es nicht wissen wollte.

Der Stadtrichter schob Andrej ein Blatt hin. Andrej strich es glatt; es war von den rastlosen Händen des Richters zerknittert, aber nicht so, dass man es nicht hätte lesen können. Er brauchte diese Geste, um genügend Mut zu fassen. Unvermittelt sah er sich selbst vor über zwanzig Jahren vor der Leiche einer jungen Frau auf dem Boden knien, ein halb verhungertes Kind im Arm. Er hasste es, wenn diese Erinnerungen kamen, sie besudelten den Rückblick auf die guten Zeiten, und es war ohnehin schwer, die Erinnerung an diese aufrechtzuerhalten, weil sie so kurz gewesen waren. Er holte Atem und las.

Als er fertig war, las er es noch einmal. Er war sich der vier Augenpaare bewusst, die ihn musterten. Er wusste, dass seinem Gesicht keine Regung anzumerken war. Die anderen wussten nicht, welchen Kraftaufwand dies für ihn bedeutete. Schließlich blickte er auf.

„Hier steht nichts davon, dass Komár nackt gewesen wäre“, sagte er.

„Er kann sich auch nur die Hosen runtergezogen haben“, sagte der Bürgermeister.

„Dann stünde es hier. Wer auch immer von Seiner Gnaden Gästen den Bericht abgegeben hat, er war ein genauer Beobachter.“

Der Bürgermeister brummte: „Er hatte Blut an den Händen.“

„Hatte er auch welches am Körper? Er müsste vollkommen durchnässt gewesen sein davon. Hatte er welches an seinem Glied? Der Beschreibung hier zu folgen …“ Andrej zuckte mit den Schultern. Das Schweigen wurde groß. Warum tue ich mir das an?, fragte er sich und versuchte vergebens, die Bilder zu verdrängen, die die Lektüre des Berichts heraufbeschworen hatte.

„Nein“, sagte der Landrichter.

„Er kann es sich abgewaschen haben.“

„Der Bericht sagt, die Jagdgesellschaft habe ihn direkt neben der Leiche gefunden, nicht irgendwo am Wassertrog für die Ziegen. Und Komárs Kleidung war trocken.“

„Er kann es sich unterwegs abgewischt haben, auf dem Weg zur Stadt.“

„Hier steht, die Herren hätten ihn niedergeschlagen und gefesselt. Komár sei erst kurz vor den Stadttoren wieder zu sich gekommen.“

„Ach, verdammt noch mal!“, rief der Bürgermeister.

„Bitte“, sagte Vilém Vlach. „Worüber reden wir hier eigentlich? Wozu raten Sie uns, Herr von Langenfels? Wozu raten Sie uns in Ihrer Eigenschaft als Vertrauter von Seiner Majestät Kaiser Matthias?“

Viléms Hand schwebte über einem Blatt Papier, das mit ein paar hastigen Worten bekritzelt war – das Protokoll. In Viléms Hand zitterte ein Federkiel. Andrej machte schmale Augen. Er hatte keine Lust, die Scharade sogar hier zu spielen, wo sie unter sich waren. Aber dann verstand er, dass die Männer es brauchten. Sie mussten sich daran erinnern können, dass der Vertraute des Kaisers ihnen geraten hatte, den Ziegenhirten einzusperren. Sonst würden sie sich ewig an die Feigheit erinnern, die sie hier an den Tag legten, so wie Andrej sich ewig an den Anblick des rußgeschwärzten, leblosen Gesichts erinnern würde, aus dem der Regen zögernd den Dreck wusch.

„Was sagt Komár selbst dazu?“

Die Männer blickten ihn mit offenen Mündern an. „Was?“

„Was sagt Komár zu den Anschuldigungen? Er muss doch etwas gesagt haben.“

„Er hat gesagt, er war es nicht.“

„Ist das alles?“

Andrejs Gesprächspartner blickten sich an.

„Ist das alles?!“, fragte Andrej laut.

Zuerst dachte Andrej, es sei ein riesiger, zerfledderter Vogel, der auf dem Boden hockte, dann, als die hageren Gliedmaßen sich entfalteten und der Kopf sich aus der Deckung der Arme erhob, die ihn umfasst hielten, dachte er, es sei ein Affe. Schließlich sah es halbwegs wie ein Mensch aus, der seit vielen Tagen in der Dunkelheit eines Kerkers gefangen gehalten wurde, ohne dass er verstanden hätte, warum, und der mit Anstrengung genügend Grips zusammenbrachte, um zu erkennen, dass seine Besucher sich mit ihm befassten. Er strahlte Angst wie einen Gestank aus. An seinem Fußgelenk rasselte eine Kette. Man hatte ihm das Haar geschoren; es war bereits in einem wolligen Flaum nachgewachsen. Andrej schätzte ihn auf nicht viel älter als zwanzig Jahre. Ungefähr Wenzels Alter, dachte er. Ein aberwitziges Schicksal hat dich davor bewahrt, zu so etwas Ähnlichem zu werden wie dem hier, mein Sohn, dachte Andrej. Vor allem hat es dich davor bewahrt, schon als Säugling zu sterben.

„Komár …“, begann der Landeshauptmann.

Komárs Gesicht zuckte. „O Euer Gnaden, Euergnadeneuergnaden ...“, murmelte er und machte ein paar fahrige Bewegungen. Ein Idiotenlächeln stahl sich auf sein Gesicht und verschwand wieder, als er den Blick auf den Landrichter heftete.

„Komár, dieser Mann hier“, der Landeshauptmann zeigte auf Andrej, „ist ein Abgesandter des Kaisers.“

„O Majestät, o Euer Gnaden, o Majestät …“ Die fahrigen Bewegungen bekamen etwas Abgehacktes. Andrej sah zu Boden, weil er den Blick des Gefangenen nicht aushielt.

„Er möchte wissen, was du gesehen hast“, sagte der Landrichter.

Komár starrte von ihm zu Andrej und zurück. Sein Mund begann zu arbeiten, dann ruckte sein Kopf hin und her. „Nein“, grunzte er. „Neinneinneinnein …!“ Aus dem Rucken wurde ein Kopfschütteln, dass das Genick knackte. Das Schütteln war so grob, dass Spucke umherflog. „Neinneinnein ….!“

„Schluss damit!“, rief der Landrichter. Komar zuckte zusammen und wich einen Schritt zurück, dann duckte er sich.

„Komár, sag Seiner Exzellenz, dem Botschafter des Kaisers, was du gesehen hast.“

„O Majestät …“ Komár hob die Hände und streckte sie in Richtung Andrej aus, die Handflächen nach oben. „Oh, Majestät …“

Andrej drehte sich brüsk um. Er funkelte den Landrichter an. „Gehen wir!“, zischte er. „Lassen wir den armen Kerl in Frieden!“

Der Landrichter schüttelte den Kopf.

„Komár, was hast du gesehen?“

Komárs Hände blieben nach Andrej ausgestreckt. Andrej wurde sich bewusst, dass er mehrere Schritte zurückgetreten und Komár ihm gefolgt war, bis sich die Kette an seinem Fußgelenk spannte. Komárs Kopf machte eine ruckende Bewegung.

„Komár, was hast du gesehen?“

„N… nein. N… nein. Neinneinnein …!“

„Komár, was hast du gesehen?“

Komár nahm das schreckliche Kopfrucken wieder auf. Seine Hände sanken herab, und sein Körper krümmte sich.

„Komár, was hast du gesehen?“

„Nein! Nein! Nein …“ Komárs Stimme reduzierte sich zu einem Wimmern, kaum dass er sie erhoben hatte. Er sank in sich zusammen, die Knie hochgezogen, die Arme um den Kopf geschlungen, die Schultern angespannt. „Nein“, wimmerte er. „Ich war’s nich’! Ich war’s nich’!“

„Komár, was hast du …“

„DEN TEUFEL!“, schrie Komár. Sein Kopf fuhr hoch, und sein Blick durchbohrte Andrej. Die Angst darin machte Andrej atemlos und ließ ihn erschauern. „Ich hab den TEUFEL GESEHEN!“ Er begann zu schluchzen. „O Majestät … o Euer Gnaden … ich hab den Teufel gesehen, so wahr mir Gott helfe, ich hab ihn gesehen, er hat sie umgebracht, er hat ihr den Leib aufgeschlitzt, und das Blut … o Majestät, das viele Blut … Der Teufel war’s, nicht ich, ich war’s nich’, der Teufel hat’s getan. Ich hab IHN GESEHEN, DER TEUFEL WAR’S, MAJESTÄT, UND ER HAT GELACHT UND GETANZT!“

„Das kommt jedes Mal dabei raus“, sagte der Landrichter, als sie wieder vor der Tür zum Stadtverlies standen. Er machte eine abwehrende Geste, aber seinem Gesicht war anzusehen, dass er bei Weitem nicht so unberührt war, wie er tat.

„Er war es nicht“, sagte Andrej.

„Bitte“, erwiderte Vilém. „Das hatten wir doch schon.“

„Hier ist ein Verbrechen geschehen“, sagte Andrej, „aber statt es aufzuklären, vertuscht ihr es aus Feigheit und aus politischem Opportunismus. Ihr macht es sogar noch größer. Ich habe die Geschichte von dem Baumeister, der das mittlere Türmchen über dem Rathausportal aus Wut über die Verlogenheit des Brünner Stadtrats so verkrümmt gehauen hat, immer für ein Märchen gehalten. Heute beginne ich, meine Zweifel zu überdenken. Vilém, ich habe gern mit Ihnen Geschäfte gemacht, aber wenn der Preis dafür ist, dass ich an eurer Feigheit teilhabe, dann kann ich ihn mir nicht leisten. Ihr müsst eure Entscheidung selbst fällen.“

Andrej wandte sich ab und stapfte davon. Sie blieben vor der Tür stehen und starrten ihm nach. Falls sie ihm noch etwas nachriefen, hörte er es nicht. Was er hörte, war das schmerzhafte Klopfen seines Herzens – und das Echo eines anderen, fremden, mächtigen Pochens, das zu hören er geglaubt hatte, als er in der Kerkerzelle gestanden und einen Atemzug lang den Gedanken erwogen hatte, nachzugeben und dafür zu sorgen, dass ein unschuldiger Mensch für den Rest seines Lebens eingesperrt wurde.

Die Wächter der Teufelsbibel

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