Читать книгу Die Bewohner von Plédos - Richard Oliver Skulai - Страница 10

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Die Schlangenburg

Der Schlangenmenschenkönig Schlankerli befand sich hoch oben in seinem Gemach auf der Schlangenburg und betrachtete sein graues Gesicht in einem blitzenden Spiegel. „Ssön – ssöön – ssööön!“, lispelte er, wie das für Schlangenmenschen üblich ist. „Jedoss nisst sslank genug! Wer kann mir selfen, sslanker ssu werden?“

Wer den Schlangenmenschenkönig Schlankerli in seinem Spiegel gesehen hätte, der hätte dieses seltsame Wesen gewiss für schlank genug befunden, freilich auch für hässlich genug. Der Kopf quoll wie ein dicker Knoten aus einem enorm langen Halse, war aber immer noch schmal und niedrig genug, um zwischen jede Leitersprosse gesteckt zu werden. Die Augen waren geschlitzt, der Mund breit und mit zierlichen Kusslippen versehen, und die schmale Zunge zuckte und züngelte gespalten aus der Lücke. Haare fehlten ihm gänzlich. Die Gliedmaßen waren außerordentlich lang und konnten gedehnt und über alle Maßen gestreckt werden. Sie bestanden nicht aus festen Knochen, sondern aus Knorpelgewebe, von Muskelschläuchen umhüllt. Schlankerli betrachtete seine Arme und Hände im Spiegel. Er verlängerte seine Finger, beugte und streckte sie. Er ließ die dunklen Sterne seiner Augen in allen Formen spielen und lächelte sich selbst im Spiegel zu. „Ssön, Ssöön, ssööön! Aber nisst sslank genug!“

In diesem Augenblick eilte ein Bote in sein Gemach. „Soßeit Sslankerli! Eure Dursstlausstheit! Wir saben Menssen gesesen, genauer gesagt: Einen Menssen, einen Kuno und einen Affen!“

„Festnehmen, die sswei!“, donnerte Schlankerli.

„Soßeit! Es sind drei!“

„Sssssss!“, zischte Schlankerli ärgerlich. „Iss dulde nisst, dass ihr mir widerspresst! Iss meinte natürliss: sswei Menssen! Den Affen lasst laufen! Was soll iss mit einem Affen?“

„Soßeit! Der Affe sseint der Führer der sswei ssu sein!“

„Dann sind das aber sehr, sehr dumme Menssen! Bringt sie trotssdem! Kluge Menssen saben bisseer kein Sslankseitsmittel gefunden!“

„Eure Dursstlausstheit! Wie sollen wir dummen Menssen ein Sslankseitsmittel entlocken?“

„Mit Freundlisskeit!“, erwiderte Schlankerli. „Je dümmer desto unempfänglisser für Folter! Freundlisskeit ist das Mittel der Wahl!“ Sprach’s und eilte von dannen. Mit stolzen, weitausladenden Schritten ging er den Freunden entgegen. In der Abenddämmerung erblickten Idan und seine Gefährten die unheimliche, hoch aufgerichtete Gestalt. König Schlankerli war mit einem Gewand aus feinem Goldstaub angetan, das seine anmutig schlanken Formen recht gut zur Geltung brachte. Auf seinem breiten Schlangenhaupt war eine zierliche Krone befestigt. Die großen Schlangenaugen funkelten tückisch.

„Ssönen Abend, iss bin Sslangenmenssenkönig Sslankerli. Seid mir gegrüßt, ihr Reisenden! Iss lade euss ein auf mein Ssloss! Ihr müsst wissen: Fast mangelt es uns an nissts, iss bin ein sslanker Geselle! Ssön, ssöön, ssööön muss iss sagen, jedoss nisst sslank genug! Ihr könntet miss unterstütssen, noss sslanker ssu werden! Sabt ihr ein Mittel dassu?“

„Sie könnten es vielleicht einmal mit einer Diät versuchen“, meinte Kuno Weißhaar.

„Alles sson ausprobiert mit ausgesussten Diäten“, erwiderte Schlankerli, „leider nur Misserfolge! Möglisserweise wisst ihr einen Ssaubertrank. Man sagt, die Kunos seien so weise! Ihr seid wohl keine Gelehrten, iss weiß, aber bewandert in Ssauberkünsten!“

„Ich bezweifle, ob man das Zauberkünste nennen kann“, versetzte Weißhaar bescheiden. „Ich bin zwar kein Gelehrter, wie du richtig bemerkst, doch haben wir einen Gelehrten unter uns.“

„Wer? Iss sehe keinen! Meinst du den smarten Jungen?“

Kuno Weißhaar wies auf Äffchen.

„Das ist ja kein Menss!“

„Aber ein Plédo-Affe! Er kann sprechen und dürfte dir weiterhelfen!“

„Ja“, sagte Erfinder-Äffchen, „ich habe auch schon ein paar Ideen für eine Diät! Ich denke schon, dass ich dir helfen kann!“

Da war der Schlangenmenschenkönig Schlankerli gar hocherfreut und geleitete die Gefährten den Hügel hinauf zu der Schlangenburg, deren hohe Zinnen in der Abendsonne gleißten. Der König ging ihnen voraus und die Gefährten bewunderten seinen anmutigen, federnden Gang, in dem sich Schlankerli schlangenlinienförmig vor ihnen herbewegte.

Auf der Schlangenburg bekamen die Freunde Gemächer zugewiesen, erhielten freie Kost und Logis, und Äffchen bemühte sich Diäten nach eigenem Rezept herzustellen. Als Gegenleistung hatte der König den Dreien freies Geleit, Lebensmittel und eine ausgezeichnete Landkarte versprochen. Erfinder-Äffchen entwarf und mixte einige Tinkturen, von denen Schlankerli Durchfall bekam. Aber auch nach einigen Tagen wollte der König nicht abnehmen, wie das tägliche Wiegen auf einer Waage bewies. Jeden Morgen schaute er von Neuem in den Spiegel und sagte: „Ssön, ssön, ssööön, jedoss nisst sslank genug!“

Er war sehr unzufrieden. Darum wurden die Freunde unter dem Vorwand, dass für neue Diener Platz zu schaffen sei, von einem Tag auf den anderen in weniger freundliche Gemächer geführt und dies wurde solange fortgesetzt, bis sich ganz unmerklich die Glasscheibe vor der Türe und die Vorhänge vor den Fenstern in Gitter verwandelt hatten. Als die Freunde es bemerkten, war es schon zu spät und sie waren seitdem in ihren Zellen gefangen. Die Ratgeber Schlankerlis drangen darauf, dass eine Entscheidung getroffen werden müsse, aber Schlankerli unternahm nichts. Er ließ sich zwar von Äffchen keine Tinkturen mehr zubereiten, aber er zögerte andererseits mit einer Bestrafung. In seinen Mußestunden ließ sich der König auf Idans Flöte Lieder vorspielen, woran er sich sehr ergötzte.

Eines Tages musste Schlankerli auf Drängen seiner Berater eine Versammlung einberufen, auf der das Problem mit den Fremden geregelt werden sollte.

„Noss immer saben die Reisenden siss nisst als nütssliss erwiesen!“, wurde ihm vorgehalten.

„Lasst uns noss ein wenig warten!“, beschwichtigte Schlankerli. „Der Bursse sspielt so ssön!“

„Wir saben genug gewartet. Das Gesetss besagt, dass diese ssterben müssen!“, erwiderte der Ratgeber des Königs. „So ist es gesetssliss besslossen!“

„Absolute Sseiße“, lispelte Schlankerli. „Iss mösste den Menssen besalten! Sseiß Gesetss!“

„Es lässt siss nun mal nisst ändern! Das Gesetss ist alte Tradission! Auss ein König muss siss danass rissten!“

„Äußerst bessissen! Kann man das nisst umgehen?“

„Leider keine Ssance! Menssen, die nisst nütssliss sind für Sslangenmenssen, müssen ssterben!“

„Aber er singt doss so ssön!“

„Sosswürden meinen, er sspielt!“

„Freiliss meinte iss das! Wie sollte iss es sonst meinen! Also, wenn er so ssön sspielt, ist das nisst ein Grund, ihn ssu ssonen?“

„Leider gar nisst! Flötensspielen ist als nütssliss noss nisst anerkannt. Das Gesetss sat kein Versständnis für die Kunst!“

„Dann mösste iss wenigstens das Insstrument des Menssen besitssen!“, erwiderte Schlankerli trotzig. „Dies wird mein einssiger Trost sein!“

Noch am gleichen Abend eilte Schlankerli in das Verlies des kleinen Idan, um sich die Flöte geben zu lassen. „Du und deine sswei Genossen müssen leider ssterben“, sagte er, „drum gib mir dein Musikinsstrumen!Musikinsstrument! Du wirst’s nisst mehr braussen! Vielleisst finde iss sspäter einen anderen Menssen, der mir damit vorsspielen kann! Wäre sonst ssade drum!“

„Aber warum müssen wir denn sterben?“, rief Idan entgeistert.

„Weil ihr nisst von Nutssen für uns seid! Ihr sabt auf unsere Kosten gelebt und könnt nisst bessahlen dafür, darum auss die Sstrafe!“

„Aber ... aber wir könnten arbeiten, um für das Essen, das ihr uns gegeben habt, aufzukommen“, sagte der kleine Idan.

„Nisst nötig! Wir wüssten nissts, was ihr arbeiten solltet! Können wir alles besser! Das Problem ist, dass ihr Fremde seid! Fremde, die in unser Land eindringen, müssen ssterben! Es sei denn, dass sie von Nutssen sind! Aber das seid ihr nisst!“

„Aber ich könnte dir täglich auf meiner Flöte vorspielen!“

„Damit sab iss auss versusst, unser Gesetss ssu beugen. Jedoss geht das leider auss nisst! Kunst ssählt leider gar nissts!“


„Gnade, Gnade!“, schrie der kleine Idan und sank auf die Knie. „Ich will nicht sterben! Bitte schone unser Leben! Wir wollen das Land verlassen und auch bestimmt nicht wiederkommen!“

„Leider kann iss auf diese Wünsse nisst Rücksisst nehmen! Es ist sson Gnade, dass ihr morgen sterben dürft! Früher gab es erst lebenslängliss – und dann erst den Tod! Jetsst aber bitte – das Insstrument!“

Idan war einige Schritte zurückgewichen, aber Schlankerli verlängerte seinen Arm durch die Gitterstäbe, erhaschte die Flöte aus seiner Hosentasche und zog die Hand schnell zurück.

„Aber was soll denn aus unseren Eselchen werde?“,werden?“, rief Idan und Bäche von Tränen rannen ihm über die Wangen.

„Keine Sorge! Die werden versorgt! Die dürfen siss paaren. Und ersst ihre Kinder werden an Sslangen verfüttert!“

„Und unser Sabut, unser kleiner Mammutfresser?“, heulte Idan. „Er wird sterben, wenn wir ihm nicht Mammutfleisch besorgen!“

„Das ist leider nisst unser Problem“, erwiderte Schlankerli. „Warum habt ihr ihn nisst dort gelassen, wo er wohnt?“ Mit diesen Worten entfernte sich der König und ließ den kleinen Idan allein.

Also war es beschlossene Sache. Nichts konnte an dem unerbittlichen Schicksal ändern, das die drei Freunde erwartete. Die Hinrichtung war für den folgenden Tag geplant und noch am Abend hörte man bis zu der Schlangenburg herauf das laute Hämmern und Sägen der Zimmermannsleute, die die Galgen vorbereiteten. Dann, nach einer langen, schrecklichen Nacht, nahte endlich der Morgen, ein überaus trauriger Morgen.

Zu hilflosen Bündeln zusammengeschnürt wankten die Gefährten zum Ort ihrer Hinrichtung. Ihre Hälse steckten in Schlingen und waren in kurzem Abstand mit einem Strick verbunden, der sich zwischen ihren Füßen befand und deren Bewegungsfreiheit einschränkte. Eine zweite Schlinge, ebenfalls um den Hals geknüpft, war mit den hinter dem Rücken gefesselten Händen verbunden. Derart wohl verschnürt konnten sie sich nur in tapsenden Schritten und in gebückter Haltung fortbewegen. Es war ein langer Weg, denn der Burgplatz, auf dem die Hinrichtung stattfinden sollte, lag ziemlich weit unten und der kleine Idan kam durch die grausamen Fesseln behindert nur äußerst langsam voran. Ein wenig schneller war Äffchen, aber auch dieses war durch seine gebückte und gebundene Haltung äußerst behindert. Nur Kuno Weißhaar ging aufrecht. Sein Hals war zu kurz, als dass man eine Schlinge hätte darum legen können, ebenso waren die Arme zu kurz, als dass man die Hände auf seinem Rücken hätte übereinander fesseln können. Seine Füße waren nur mit einer einzigen Fessel verbunden, die ihm einen bequemen Spielraum ließ, gerade soviel, dass er nicht davonlaufen konnte. Ebenso ließen die Fesseln auf seinem Rücken ihm einen gewissen Spielraum. Es schien den Unglückseligen, als sollte ihre Reise enden, bevor sie richtig begonnen hatte. Endlich, nach langem, mühevollem Weg, hatten sie den Ort ihrer Bestimmung erreicht. Dem kleinen Idan stiegen Tränen in die Augen, als er die hohen Galgen auf dem Burgplatz sah. Sie waren mit stattlichen Halsschlingen ausgerüstet. „Wie wollen sie mich hängen?“, fragte Kuno Weißhaar. „Mein Hals ist zu kurz!“

„Der Kunomenss wird an den Füßen aufgesängt! Da sat er länger ssu ssappeln!“, sagte einer der Schlangenmenschen, die die Eskorte der Gefangenen an ihrem Bestimmungsort empfing.

„Nehmt dem Affen und dem Burssen die Halsslingen ab, die mit den Füßen verbunden sind“, befahl Schlangenmenschenkönig Schlankerli. „Sie sollen siss ausssapeln können!“

Die Henkersknechte, es waren drei, kümmerten sich rührend um die Gefährten und lösten ihnen die Schlingen mit sanfter Hand, sodass sie sich aufrichten konnten, aber nur, um ihren Kopf in die heruntergelassene Schlinge des Galgens zu stecken. Der kleine Idan schluchzte kläglich auf. Die Schlangenmenschen aber johlten, was in den Ohren normaler Menschen wie Zischen klang: „Ssssssss!“

Der König selbst verlas die Anklageschrift und das Urteil: „Diese mensslissen Versager saben versagt, ein Slankheitsmittel ssu finden, sie saben nisst gründliss danass gesusst und müssen büßen! Sie satten ihre geresste Ssance! Sie werden dessalb ssu Ssappelqualen verurteilt, ssu unserer Augenweide, damit sie ssu etwas gut sind.“ Die Begründungen und Urteile der Schlangenmenschen waren schon immer denkbar kurz, doch konnte sich der König nicht enthalten, noch seine persönliche Meinung bedauernd hinzuzufügen: „Iss sätte den Burssen verssont, doss will das Gesetss, dass er sstirbt! – Große Sseiße!“ Dann gab er mit ausgestreckter Hand das Zeichen für den Beginn der Hinrichtung. Die Henkersknechte lösten die Fesseln von Kuno Weißhaars Füßen, drehten ihn um, steckten seine Füße in die Galgenschlinge und hievten ihn hoch. Nun kam der kleine Idan an die Reihe. Der Henker legte ihm die Schlinge um den Hals und zog sie einmal kräftig an, damit sie auch straff saß. Idan schluckte und brachte ein leises Röcheln hervor. Es klang fast, als wollte er etwas sagen. Aber seine Kehle war ganz trocken.

„Ein lesster Wunss ssu wünssen?“, fragte Schlankerli.

Plötzlich fasste Idan wieder Mut. „Ja“, sagte er, „ich möchte noch einmal auf meiner Flöte spielen!“

Dem König Schlankerli trat ein Lächeln auf den breiten, schmallippigen Mund. „Ssehr ssön! Sspielen will der Bursse! Mag er sspielen! Wir sören es gerne! Sspielen mag er und ssingen!“

„Ich kann nicht singen, wenn ich spiele“, erwiderte Idan.

„Nun, das sseint nisst so ssön!“

„Aber ich kann singen“, sagte Äffchen. „Ich kann singen, während er spielt.“

„Ssehr ssön! Ssehr ssön!“, sagte Schlankerli und er befahl, Mikrofone herbeizuschaffen und überall Schallverstärker aufzustellen, die die Musik des kleinen Idan im ganzen Schlangenreiche verbreiten sollten. Diener eilten durch die Menge, Mikrofone in den schlanken Händen, die sie vor Idan platzierten. Elektriker, die an ihren Mützen mit einem Zitteraalzeichen zu erkennen waren, legten Kabel aus. Eine mächtige Bewegung ging durch die ganze Runde der Schlangenmenschen.

„Ihr müsst mir aber noch die Schlinge und die Hand- und Fußfesseln abnehmen, sonst kann ich nicht flöten!“, sagte Idan.

„Sseiße, fast vergessen, wie konnte iss bloß! O Entssuldigung“, entschuldigte sich Schlankerli. „Entfernt die Fesseln!“

Die Henkersknechte gehorchten aufs Wort. Neben Idan zappelte und stöhnte Kuno Weißhaar.

„Und ihr müsst Kuno Weißhaar wieder abhängen, damit er genießen kann, was ich spiele!“, ergänzte Idan.

„O der brausst nisst ssu genießen! Ssoll sson mal ssappeln!“, erwiderte Schlankerli. „Ihr andern kommt auss noss dran!“

„Wenn ihr ihn nicht abhängt, spiele ich nicht!“ drohte Idan.

„Sson resst! Sson resst! So löst ihn also doss!“,loss!“, befahl der König den Henkersknechten. Der Kuno wurde sofort heruntergeholt. Er war ganz erleichtert und versuchte mit seinen gefesselten Armen die Haare zu ordnen, die jetzt hoch zu Berge standen. Freilich gelang ihm das nicht.

Die Schlangenmenschen posierten hoch aufgerichtet und aufmerksam vor den drei Galgen in einer Reihe.

„Meine Flöte bitte!“, forderte Idan.

„Oh, Entssuldigung! Vergessliss wie iss bin!“, seufzte der König auf. „Ssss! Sssss! Ssssss! Sssssss!“, pfiff er verlegen vor sich hin. Er befahl einem Leibwächter, zur Schlossburg zu eilen und aus dem Arbeitszimmer Schlankerlis die Blockflöte zu holen, die er dort zum Andenken an den wundersamen Knaben aufbewahrt hatte. Der Diener fand sie nicht gleich und musste den Weg einige Male machen. Und mit jeder neuen, ergänzenden Erklärung des Königs kam er der Sache um einige Schritte näher. Doch waren die Erläuterungen Schlankerlis leider nicht in allen Punkten ausreichend, denn der Knecht war ein wenig schwer von Begriff und hatte das meiste wieder vergessen, wenn er oben im Königsgemach angelangt war. Schließlich schrieb Schlankerli dem Knecht die Position der Blockflöte auf, aber der Knappe konnte nicht lesen und so war es wieder nichts. Drauf verfertigte der König eine Zeichnung, aber der Knappe war dreidimensionales Denken nicht gewohnt und konnte die Gegenstände auf der Zeichnung nicht mit den realen Objekten im Arbeitszimmer des Königs in Verbindung bringen. Am Ende eilte der König selbst von dannen. Nach einer Stunde kam er zurück. So waren inzwischen viele Stunden vergangen. Das Schlangenvolk, das begierig auf das zierliche Flötenspiel gewartet hatte, war mittlerweile ermüdet und viele von ihnen an allen Orten des Landes der gespannten Erwartung wegen in eine Art Trance verfallen. Manch einer war zuhause unter seinen Kopfhörern eingeschlafen und in den Reihen der vor dem Galgenplatz Wartenden waren viele in eine gelähmte Erstarrung gefallen. Endlich – es war schon Abend geworden – überreichte König Schlankerli persönlich dem kleinen Idan seine Blockflöte. Dieser prüfte sie, spitzte die Lippen und blies sie einmal kurz durch. Allein schon dieses Lippenspitzen des Jungen erregte das allgemeine Aufwallen einer Begeisterung, die wie ein magisches Licht aus den Augen der Zuschauer strahlte. Noch niemals hatte ein Schlangenmensch die Lippen gespitzt, um einer Flöte Töne zu entlocken. Dazu waren Schlangenmenschen gar nicht fähig. Es war für viele ein unbeschreibliches Wunder. Dann aber fing der kleine Idan an zu spielen. Er begann mit einer Melodie, die der König Schlankerli schon kannte, und Äffchen begleitete ihn mit kehliger Stimme. Die Schlangenmenschen begannen sich rhythmisch zu wiegen und ihre Wirbelsäulen schlängelten sich im Wechsel der Töne. Jetzt änderte Idan allmählich sein Lied. Die wogenden, zuckenden Bewegungen der Wirbelsäulen übertrugen sich unmerklich auf die Arme und schließlich auch auf die Beine der Schlangenmenschen. Die Arme verlängerten sich, verschlangen sich ineinander und bildeten am Ende Knoten ganz in der Nähe der Achselhöhlen, Knoten, die sich nicht mehr lösen konnten. Genau dasselbe geschah mit den Beinen. Solches aber widerfuhr dem ganzen Schlangenvolk im ganzen Schlangenland. Denn alle verfolgten sie Idans Flötenspiel über Kopfhörer und Schallverstärker. Niemand wollte sich die Sensation entgehen lassen, die darin bestand, dem Flötenspiel eines Menschenjungen zu lauschen, der so fein die Lippen spitzen konnte und kurz vor der Hinrichtung stand. Ein menschliches Wesen also, das angesichts des Todes sein Letztes gab, um sich zum Ausdruck zu bringen.

Als Idan endete, gab es ein böses Erwachen. Mit dem letzten ausklingenden Flötenton wurden sich die Schlangenmenschen schlagartig ihrer Situation bewusst. Des kleinen Idan Lied war mit dem letzten Schein der Dämmerung verklungen und die darauf einsetzende Stille führte innerhalb weniger Sekunden zu einem urplötzlichen Erwachen. Ein langes, züngelndes Zischen ging durch die Reihen der Zuhörer: „Sssssss!“ Dann wanden sie sich und versuchten ihre Arme und Beine freizubekommen, was aber nur den Erfolg hatte, dass sie der Länge nach hinstürzten und nicht wieder aufstehen konnten.

„Ssu Silfe!“, rief der König Schlankerli. „Das war ein falsses Sspiel! Man sat uns verarsst! Iss befehle sofort, unsere Fesseln ssu lösen! Iss, König Sslankerli, sabe gesprossen! Meine Besslüsse gelten!“

Aber niemand konnte helfen. Sie waren alle gefesselt. Nun befreite Idan unverzüglich seine Freunde von ihren Stricken.

„Jetzt seid ihr in unserer Gewalt“, sagte der Junge. „Wenn wir wollen, wird euer ganzes Volk in dieser gefesselten Stellung verhungern. Das wird dann eine Diät sein, die wirklich schlank macht! Sollen wir euch verhungern lassen?“

„Nein, bitte nisst! Iss bitte um Gnade!“, schrie Schlankerli.

„Ich habe dich gestern auch um Gnade gebeten und du wolltest sie mir nicht gewähren. Meinst du, dass du nun deinerseits Gnade verdient hast?“

„Versseisung“, lispelte Schlankerli, „Versseisung! Dies war nisst meine Ssuld! Iss sätte dir Gnade gewährt! Das Gesetss sat es verlangt! Iss sätte diss ja sonst als Sklave angenommen! Iss sätte diss leben lassen!“

„Und meine Freunde? Hättest du die auch leben lassen?“

„Wossu? Sie waren nisst nütssliss! Nisst einmal künstleriss!“

„Und du erwartest, dass wir dir Gnade gewähren? Ist es nicht viel gerechter, dass wir dich und dein ganzes Volk in euren Knoten verhungern lassen, ihr herzlosen Schlangenmenschen?“

„Mein Volk kann nissts dafür“, keuchte der König. „Es ist die Ssuld des Gesetsses! Das Volk sat das Gesetss ja nisst gemasst! Iss weiß, nass deiner Meinung sabe iss und alle meine Berater verdient, ssu ssterben. Aber iss bitte um Gnade für mein Volk! Risstet miss und die, die euss verurteilt saben, überlasst uns meinetwegen unserm Ssicksal, doss ssonet das Volk! Es ist nisst ssuldig!“ Bei diesen Worten kullerten dem König große Schlangentränen über die Wangen.

„Ich sehe, du hast doch ein Herz!“, sagte der kleine Idan. „Da können wir, denke ich, Milde walten lassen! Gut! Wir werden euch befreien! Aber nur unter einer Bedingung: Du, als der König dieses Volkes, musst vor allen Anwesenden feierlich versprechen, dass du uns das Leben schenkst und uns ziehen lässt.“

„Ja“, sagte Kuno Weißhaar, „genau das verlangen wir. Außerdem fordern wir Lebensmittel und Verpflegung für unsere weitere Reise. Und – wir fordern eine Weltkarte, eine gute Weltkarte, auf der alle Kontinente von Plédos verzeichnet sind. Willst du uns das versprechen?“

„Iss verspresse es feierliss“, lispelte König Schlankerli, während ihm Idan eines der Mikrofone hinhielt. „Iss leiste den Sswur eines Fürsten! Vor allen diesen Sseugen sswöre iss, dass euss nissts gessehen wird, wenn ihr die Knoten löst. Wir werden alle eure Forderungen sösst getreu erfüllen!“

„Das ist ein Wort“, sagte Idan und begann den König aus seinen Verwindungen zu befreien.

„Vorsicht, Schlangenmenschen lügen“, warnte Erfinder-Äffchen.

„Er wird sich an seinen Schwur halten“, sagte Idan. „Er hat vor tausenden Zeugen geschworen. Er wird die Ehre als König verlieren, wenn er den Schwur bricht.“

„So ist es“, bestätigte Schlankerli.

Endlich hatten die Gefährten sowohl den König als auch seine Diener, Getreuen und Henkersknechte von ihren Verknotungen befreit und die Diener begannen sofort, ihren Volksgenossen zu helfen. Bald waren zahllose Schlangenmenschen wieder bewegungsfähig.

König Schlankerli aber hielt eine große Ansprache über das Mikrofon an alle Genossen seines Volkes.

„Wahrliss, iss salte mein Versspressen“, sagte er, „und iss bin froh darüber. Unter diesen außergewöhnlissen Umsständen ist das Gesetss nisst mehr gültig und das ist auss gut so – sseiß Gesetss – Versseisung! Iss bin froh, dass dieser Menssenbursse nisst ssterben muss! Auss der Affe sat ja ssön gesungen! Und dieser Kuno ist gar ein lustiger Kerl. Mögen sie noss viele Menssen mit Gesang und Flötensspiel beglücken! Iss wünsse es ihnen! Dieser Menssenbursse sat viel Edelmut gesseigt! Er sätte uns alle ssterben lassen können! Er und seine Gefährten sätten uns ausrauben können! In wenigen Tagen wäre das gansse Volk der Sslangenmenssen vernisstet gewesen, vernisstet durss einen einssigen Burssen. Es sätte ihm niemand übel genommen, denn wir sind ja bei den andern Völkern unbeliebt. Er sätte uns einfass versungern lassen können. Sstattdessen sat er uns gessont und einen besseidenen Preis verlangt!“ König Schlankerli schluchzte vor Rührung laut auf. „Dieser Edelsinn ist beißpielhaft! Wir waren selbstsüsstig! Wir saben gesündigt! Der Bursse aber sat uns nisst Gleisses mit Gleissem vergolten. Iss werde eine Änderung unsrer Gesetsse im Namen des Volkes bessließen. Dieser Tag soll in das Gedässtnis unserer Nassion als der Tag der Besinnung eingehen! Iss werde alle Forderungen der Fremden erfüllen!“

Am nächsten Morgen schon waren die beiden Esel mit neuen Sätteln versehen und darauf ein Proviant mit den vorzüglichsten Speisen aus der Schlangenburg aufgeladen. Schlankerli selbst überreichte dem kleinen Idan eine nagelneue Weltkarte, auf der alle Kontinente abgebildet waren. Der König selbst sprach ihnen den Segen aus. Dann zogen sie mit den Eseln davon. Tausende Schlangenmenschen blickten ihnen nach.

Die Bewohner von Plédos

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