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Der Dunkle Mond

An diesem Morgen eilte der kleine Idan mit großen Schritten zur Behausung von Erfinder-Äffchen. Erfinder-Äffchen begrüßte ihn freundlich und fragte ihn nach seinen Wünschen.

„Ach“, meinte der kleine Idan, „mir ist so entsetzlich langweilig. Wir führen hier alle ein so schönes, harmonisches Leben und ein Tag vergeht wie der andere. Ich weiß nicht, was ich gegen die Langeweile machen soll. Ich würde so gerne etwas Neues erleben. Vielleicht hast du ja eine Idee.“

„Langeweile ist etwas für Dummköpfe“, sagte Erfinder-Äffchen. „Im Übrigen kenne ich das Problem. Manchmal geht es mir ähnlich. Nur habe ich den Vorteil, mir meine Zeit mit sinnvollen Gedanken zu vertreiben. Die anderen Tiere sind furchtbar dumm und bemerken ihre Langeweile nicht. Sie leben ein Leben, in dem es nichts zu tun gibt. Flecki, der Waschbär, der schlaueste unter den Tieren, vertreibt sich seine Zeit mit lustigen Streichen. Du aber bist ein Mensch und weder mit Dummheit gestraft noch mit besonderen Gaben des Geistes gesegnet. Ich verstehe dein Dilemma wohl. Menschen sind eben seltsame Tiere. Und auch ich verspüre solch eine Verwandtschaft zur Seltsamkeit. Sind mir doch gerade kürzlich die guten Ideen ausgegangen und ich habe mich auf etwas Neues besinnen müssen. Es ist mir auch schon etwas eingefallen. Kürzlich las ich in einer uralten Chronik über einen wundersamen Schatz, der in dem finsteren Tal des Todes auf der Insektenwelt Pessian verborgen liegen soll. Dieser Schatz, so heißt es, soll seinem Besitzer geheimnisvolle Kräfte verleihen. Weißt du was, den wollen wir uns holen!“

Da machte der kleine Idan große, erstaunte Augen und fragte: „Was ist denn das, die Insektenwelt Pessian? Was ist eine Welt?“

„Auf welche Schule bist du denn gegangen“, meinte Äffchen, „dass du noch nicht einmal weißt, was eine Welt ist?“

„Was ist Schule?“, fragte der kleine Idan.

„Potz Blitz“, rief Äffchen, „dass einem da nicht der Geduldsfaden reißt bei soviel Ungelehrsamkeit! Aber ruhig Blut! Am besten, wir fangen einmal ganz von vorn an. Also: Eine Welt ist eine Welt wie die unsere auch.“

„Was heißt das: Wie die unsere auch? Was ist denn unsere Welt?“

„Eins nach dem anderen“, meinte Äffchen. „Also: Du weißt nicht, was eine Welt ist?“

„Schon“, sagte der kleine Idan. „Eine Welt ist der Boden, auf dem ich stehe, und alles, was darauf ist, und der Himmel über uns.“

„Und was glaubst du, wie das Ganze aussieht, wenn du es von hoch, hoch oben betrachtest?“

„Dann wird wohl alles viel kleiner aussehen und man hat einen weiteren Blick.“

„Und sonst, glaubst du, verändert sich nichts, nur, dass man immer mehr und mehr sieht, je höher man aufsteigt?“

„Es wird wohl schon so sein“, erwiderte der kleine Idan.

„Nun, gehen wir die Sache anders an“, sagte Äffchen. „Wenn du immer weiter und weiter in eine Richtung geradeaus gehen könntest, wie weit könntest du gehen?“

„Man kann immer weiter gehen“, meinte der kleine Idan.

„Gut! Sehr gut!“, rief Äffchen. „Man sieht: Ein Spekulant bist du nicht! Die Welt der Spekulanten ist begrenzt. Die Spekulanten warten nicht ab, bis sie etwas erlebt haben, sondern setzen an die Stelle dessen, was sie noch nicht erlebt haben, etwas anderes, das sie erlebt haben. Mehr wollen sie gar nicht wissen. Aber Leute wie du haben die besten Anlagen zum Wissenschaftler. Sie können sich auch in Dinge hineinversetzen, die sie noch gar nicht erfahren haben. Aber weiter! Du redest von einem Boden. Der ist für dich die Welt, auf der wir leben. Aber warum stehen wir denn darauf und schweben nicht einfach darüber?“

„Wir würden herunterfallen“, sagte der kleine Idan.

„Sehr richtig“, meinte Äffchen. „Aber der Boden – was ist mit ihm? Ist er vom Fallen befreit? Worauf steht er, damit er nicht fällt?“

„Der Boden? Ja, das ist der Boden. Ich glaube nicht, dass noch etwas darunter ist. Wahrscheinlich ist er unendlich dick. Wenn etwas darunter wäre, müsste darunter auch noch etwas sein und darunter auch noch etwas und immer so fort und das Allerletzte müsste fallen.“

„Das ist sehr gut bemerkt“, meinte Erfinder-Äffchen. „Und du bist damit der Wahrheit sehr nahe. Überlege: Kann es möglich sein, dass der Boden unendlich ist? Was ist überhaupt unendlich? Kann es unendlich viele Dinge geben, die zugleich sind? Dann wären sie doch irgendwie abgeschlossen. Wenn sie aber alle gleichzeitig abgeschlossen irgendwo vorliegen würden, dann wären sie ja nicht unendlich.“

„Das ist mir zu hoch“, sagte der kleine Idan und kratzte sich am Kopf.

„Aber es beweist, dass es kein Ding gibt, das unendlich ist.“

„Und der Weltraum?“, fragte Idan. „Kann der Weltraum endlich und begrenzt sein? Kann man nicht immer weiter und weiter fliegen?“

„Der Weltraum ist auch kein Ding“, sagte Äffchen. „Er ist mit Dingen gefüllt. Aber es könnte sein, dass der Weltraum, der mit Dingen gefüllt ist, irgendwo aufhört und alles, was sich darüber hinaus bewegt, erst einen neuen, zusätzlichen Raum bildet, der zuvor noch nie existiert hat. Jedenfalls ist der Boden, auf dem du stehst, nicht unendlich dick. Der Boden und alle Länder und Meere auf dieser Erde, die du bereisen kannst, sind kugelförmige Gebilde.“

„Eine Kugel?“, fragte ungläubig der kleine Idan.

„Eben das. Und der dunkle Mond Pessian und alle Planeten und Sterne, die du draußen am Himmel siehst, sind ebensolche Kugeln.“

„Was ist dann oben und unten?“, fragte der kleine Idan.

„Oben ist alles, was sich über der Oberfläche der Kugel befindet, und unten ist alles, was in Richtung ihres Mittelpunktes liegt.“

„Wenn ich aber jetzt anfange in der Erde zu graben“, sagte Idan, „und ich grabe immer tiefer und tiefer, bis ich zum Mittelpunkt komme, kann ich dann nicht auch noch über den Mittelpunkt hinaus graben, und zwar so lange, bis ich auf der anderen Seite herauskomme? Und müsste ich dann nicht auf der anderen Seite von der Erde herunterfallen? Oder kehrt sich im Erdmittelpunkt oben und unten einfach um?“

„Du kannst gar nicht bis zum Erdmittelpunkt graben“, sagte Äffchen. „Je näher du dem Mittelpunkt kommen würdest, desto schwerer würdest du, und in der Mitte würdest du ganz zu einer Kugel zusammengepresst. Nun aber sollst du auch wissen, was es mit dem Planetenmond Pessian auf sich hat. Dieser Pessian oder auch Pessima, wie ihn die grünen Eingeborenen von Ómuo nennen, wurde in Urzeiten von unserer Heimatwelt Plédos ausgestoßen, damit sich auf dessen Oberfläche das Leben in weichen Formen und in all seiner heutigen Vielfalt bilden konnte. Diese neu entstandene Welt Pessian, der dunkle Planetenmond, enthält alles Böse, Schlechte und Finstere, das damals noch mit unserer Welt von Plédos vereinigt war und der Entfaltung des Lebens ein starkes Hindernis bot. Auf Pessian dagegen haben sich wundersame und schreckliche Lebensformen gebildet, über die ich dir gleich berichten werde. Während die meisten Monde der anderen Welten beinahe tote Körper sind, ist Pessian zu einem echten, selbstständigen Planeten geworden, der sogar beinahe die gleiche Atmosphäre hat wie unsere Welt. Auch das Leben auf ihm ist ein selbstständiges und allerdings recht wunderliches geworden. Du musst dir nämlich vorstellen, dass große Teile der Oberfläche des Planetenmondes Pessian – einige größere Inseln und die schleimigen Meere ausgenommen – mit einer Schicht winziger, sechzehnbeiniger Gliedertiere verschiedener Farbe und Größe überzogen sind, die dort überall herumwimmeln. Das sind zurückgebildete Windruten, wie sie auf vielen Welten zuhause sind. Windruten sehen tatsächlich aus wie zusammengebundene Ruten, die oben und unten in je acht spinnenartige Beinchen auslaufen, sodass man oben und unten nicht unterscheiden kann. Man könnte sagen, sie haben in ihrer Entwicklung den Gipfel der Kopflosigkeit erklommen und stehen in ihrer Lebensweise noch unter den Pflanzen, bei denen man ja wenigstens Wurzeln und Blüte unterscheiden kann. Den Mineralien und Steinen schon ähnlicher und dennoch wie Tiere belebt, bilden sie das Nahrungsangebot und zugleich die äußeren Häute der intelligenten Bewohner des Planeten, der schrecklichen Pessianer. Diese Pessianer sollen so furchtbar anzuschauen sein, dass sie jeglicher Beschreibung spotten und dass selbst in der uralten Chronik, aus der ich mein Wissen über den Planetenmond Pessian entnehme, nichts darüber verzeichnet ist. Am ehesten ließen sie sich noch, so heißt es, mit riesigen, gespenstartigen Insekten vergleichen, die entfernt an Menschen erinnern. Sie bewegen sich aufrecht und in ständiger Drohgebärde und pfeifen dabei durch ihre Tracheensysteme wie ausgewachsene Windruten in Íoland oder in Totenmund, was sich dann anhört wie das Heulen des Windes. Außerdem rasseln und klappern sie ständig dabei, als schlügen die blanken Zähne von Totenschädeln aufeinander. Dieses Zähneklappern ist übrigens ein ganz typisches Geräusch der Pessianer.“

„Das ist ja grausig!“, rief da der kleine Idan.

„I wo“, erwiderte Äffchen, „es ist ja nur halb so schlimm! Zwar riechen die Pessianischen Weltmeere nicht besonders gut und es empfiehlt sich auch nicht, an ihren Stränden zu baden, zumal der Sand dort aus winzigen Windrütchen besteht, die nur darauf warten, die Badegäste mit einem dicken Kokon zu überziehen, während sie sich sonnen. Und so ist es nicht wenigen unserer Vorfahren während ihres Sommerurlaubes auf Pessian ergangen. Das war zu einer Zeit, als es noch eine Wissenschaft von der Raumfahrt gegeben hat. Aber ich habe dir die Hauptsache, nämlich die wundersame Schönheit des Planetenmondes Pessian, noch gar nicht erzählt. Es muss ja wohl auch einen Grund gehabt haben, dass es dazumal so viele Feriengäste nach Pessian gezogen hat und dass sogar mein Vorfahr, der hundertvierundvierzigmal Urgroßaff, der als ein rechter Pingelfritze bekannt war, die klare, frische Luft auf Pessian in seiner Chronik lobend erwähnt. Tatsächlich soll dort im Allgemeinen das herrlichste Wetter herrschen und zu gewissen Jahreszeiten pflegen sich die Kontinente des Planeten mit den kunstreichsten, wunderbarsten und farbenprächtigsten Burgen und Türmchen zu überziehen, in denen sich vor Jahrtausenden zahllose Feriengäste während ihres Sommerurlaubes durchaus heimisch fühlen konnten. Sie sonnten sich inmitten von skurrilen Gebäuden, Kapellchen und beweglichen Kathedralen, die sich durch das Ineinanderflechten von Billionen jener windrutenartigen Gliedertierchen wie von selber bildeten. Es war das reinste Ferienparadies.“

„Und die Pessianer haben den Wesen unserer Welt von Plédos nichts getan?“, fragte zögernd der kleine Idan, und sein Gesicht begann sich aufzuhellen.

„Und ob sie denen was getan haben“, rief Äffchen, „und ob! Über sie hergefallen sind sie! Mit Haut und Haaren haben sie sie aufgefressen!“

„Au weh!“, ließ sich da der kleine Idan vernehmen.

„Der einzige Überlebende“, fuhr Äffchen fort, „war mein Vorfahr, der hundertvierundvierzigmal Urgroßaff, der später die uralte Chronik verfasst hat. Mit knapper Not gelang es ihm, über den Raumbruch – so nannte man damals die Methode der interplanetarischen Raumüberbrückung – nach Plédos zurückzukehren. Da er aber seine Pubertät schon hinter sich hatte und ein alter, dummer Aff geworden war, hat er die Reisetechnik vollständig vergessen und das Geheimnis der interplanetarischen Raumüberbrückung ist der Nachwelt nicht überliefert worden. Er war der Einzige, der das hätte tun können, denn sämtliche Wissenschaftler, die davon wussten, waren aus Neugier nach Pessian übergesiedelt, wo sie alle umgekommen sind. Und mein hundertvierundvierzigmal Urgroßaff war eben der letzte Überlebende dieser Wissenschaftler, deren Siedlung an jenem schicksalsschweren Sommernachmittag vor siebentausend Jahren von Pessianern überfallen wurde. Es war ein teuflisches, organisiertes Massaker, das allen Abkömmlingen unserer Welt auf Pessian den Garaus machen sollte. Nun waren ja die Plédo-Affen zumindest damals gewiss die klügsten Wesen auf unserer Welt, vorausgesetzt sie waren noch in jugendlichem Alter. Und mein hundertvierundvierzigmal Urgroßaff hatte das Pech, gerade die Geschlechtsreife erlangt zu haben. Das hat nämlich bei uns Affen mit besonderer Reife gar nichts zu tun, sondern ist die Ursache für allgemeine Verdummung. So war es wenigstens damals. Es ist in diesem Falle auch der Grund, warum seit siebentausend Jahren kein Bewohner unserer Welt mehr nach Pessian gelangt ist.

Kurze Zeit vor diesem schrecklichen Ereignis war übrigens schon eine ganze Schar von Plédo-Affen auf der Suche nach dem verborgenen Schatz im Tal des Todes spurlos verschwunden, alles Verwandte meines hundertvierundvierzigmal Urgroßaff. Das muss dem armen Manne einen zusätzlichen Schlag versetzt haben. So brachte er es auch am Ende nur noch zu Gestammel und tatsächlich bricht er gegen Schluss der Chronik in wildes Gegacker aus. Man hat die größte Mühe, etwas zu verstehen, und am Ende kann man nicht einmal die Schrift mehr lesen, da muss er völlig den Verstand verloren haben.

Mit dem Tal des Todes hat es nun etwas ganz Besonderes auf sich, wie aus der Chronik hervorgeht: Es liegt am Fuße des riesenhaften, finsteren Berges Krogull, der weit über die Atmosphäre des Planeten hinausreicht und alles ringsherum mit seinem tiefen, schwarzen Schatten ertränkt, und es ist gewiss der grauenvollste Ort auf Pessian. Da der Berg Krogull sich auf der Morgenseite des Tales befindet und so den Sonnenaufgang verdunkelt, kann man dort überhaupt nur am Nachmittag oder gegen Abend die Hand vor Augen sehen.

Dies ist das Tal, das dir kein Name nennt,

das finstre Tal, das keinen Morgen kennt!

So schrieb der hundertvierundvierzigmal Urgroßaff in seiner Chronik, während er heftig mit der geistigen Umnachtung seiner Spätpubertät zu ringen hatte. Wehmütig blickte er dem drohenden Verlust seiner Denkkraft entgegen und erinnerte sich dabei an die Finsternis des schrecklichen Todestals. Und weiter heißt es in dem Gedicht:

Doch wie der Abend auf den Morgen weist

und Morgensonnenlicht den Abend speist,

so leuchtet auch das Gute auf im Bösen

das finstre Tal vom Tode zu erlösen.

Das Böse muss aus gutem Grunde sein,

denn alles mündet in das Gute ein.

Es ist die Harmonie, die alles hält

und stützt, was lebt und atmet in der Welt.

Aus ihrer Wahrheit ist die Wirklichkeit,

mit Tod vermischt entsprang aus ihr die Zeit.

Das Böse stammt aus Falschem, ist nicht wahr,

hör, wie aus gutem Grund es trotzdem sich gebar:

Die Freiheit lag zugrunde allem Sein,

in Freiheit schloss das Böse selbst sich ein,

und hat, als drin der Urgrund ward entleert,

in einen finstren Kerker sich verkehrt.

Der Schatz des innern Grundes glüht im Tal,

glüht in der Nacht und leuchtet ihr zur Qual.

Das Tal des Todes muss er überwinden

und sich in hehrer Eintracht wieder finden.

Einst wird die Nacht aus diesem Tale schwinden,

und in der Morgenröte wird sich finden,

dass aller Welten Grund die Liebe heißt,

im Sieg erst ihre Gnade sich erweist.“

„Das verstehe ich nicht“, sagte der kleine Idan.

„Ich auch nicht“, sagte Äffchen. „Weißt du, wenn die Affen noch ganz klein sind, dann liegt so etwas wie ein seltsames Leuchten in ihren Augen, das sich bald darauf verliert. Sie sehen aus, als stammten sie aus einer fernen, anderen Welt und seien gar nicht von Affen geboren. Später dann, in jugendlichem Alter, werden sie Erfinder, Wissenschaftler und Vielwisser, wie ich einer bin. Dann werden sie sentimentale Dichter, die Dinge schreiben, von denen wir Jungen kein Wort verstehen, dann denken sie nur noch ans Essen und Trinken und schließlich verblöden sie vollends. Weißt du, ich glaube, das hat nicht immer so sein müssen, ich meine, das mit dem Verblöden. Es muss etwas mit dem Tal des Todes zu tun haben. Hauptsache aber, dass in dem Gedicht vom Schatz des innersten Grundes die Rede ist. So wissen wir wenigstens, dass es ihn gibt und welche Kräfte er in sich trägt. Den wirren Rest der Dichtung kann man wohl vergessen. Es sind bestimmt die ersten Symptome der Geistesschwäche.“

„Merkwürdig kommt es mir aber doch vor“, sagte der kleine Idan. „Dass aller Welten Grund die Liebe heißt, im Sieg erst ihre Gnade sich erweist? Was soll das bedeuten?“

„Musst nicht alles so ernst nehmen, was der alte Wirrkopf aufgeschrieben hat“, meinte Äffchen. „Viel wichtiger ist, in welchem Verhältnis der Komponische Märchenwald zu diesem Tal des Todes auf Pessian steht. Als nämlich in Urzeiten unsere Welt sich spaltete und Pessian aus ihr herausgerissen wurde, da trennte sich auch der riesenhafte Berg Krogull von ihr ab und riss eine tiefe Wunde in unsere Welt. Diese planetarische Wunde aber ist keine andere als die tausend Kilometer tiefe Ganganjer-Schlucht vor unserem Wald. Und an derselben Stelle, wo auf Pessian das Tal des Todes liegt – zu Füßen des Berges Krogull – da entstand auf unserer Welt der Komponische Märchenwald. So ist Pessian tatsächlich der dunkle Spiegel unserer Welt von Plédos. Was bei uns tief ist, das ist dort hoch. Was bei uns hoch ist, das ist dort tief. Die ganze Oberfläche des Planetenmondes ist ein negativer Abdruck unserer Welt. Und es ist schon ein besonderes Geheimnis, dass gerade an der Stelle, wo auf Pessian das Tal des Todes liegt, bei uns der Komponische Märchenwald steht, der die größte Vielfalt der Lebensformen enthält. Wenn es uns also gelänge, nach Pessian zu reisen, könnten wir die Forschungen meines Urahnen fortführen. Wir könnten dann herausfinden, woher der Tod und das Böse kommen. Wir müssten dazu den Schatz des inneren Grundes heben. In der uralten Chronik befindet sich ein Lageplan.“

„Aber wie sollen wir dort hinkommen?“ fragte Idan.

„Nun, ich weiß nicht recht“, überlegte Äffchen. „Freilich ist die Methode des Raumbruchs nun seit Jahrtausenden verschollen, und niemandem ist es gelungen, sie wieder zu entdecken. Aber vielleicht gibt es andere Möglichkeiten. Einige davon habe ich mir schon durch den Kopf gehen lassen.“

„Woran hast du gedacht?“, fragte der kleine Idan.

„Nun, zum Beispiel habe ich mir überlegt, dass wir uns eine dieser Flugechsen einfangen könnten, nun, du weißt schon, eine von denen, wie sie regelmäßig über den Komponischen Märchenwald fliegen. Dann müssten wir dieser Flugechse natürlich einen Raumanzug verpassen. Über den Kopf käme ein großer ausgebuchteter Helm. Wir selbst müssten uns ebenfalls in Raumanzügen auf ihren Rücken setzen. Durch eine besondere Schaltung, die sich im Raumanzug der Flugechse befinden müsste, könnten wir dem Tier mit einer Nadel in den Rücken stechen. Die Flugechse würde dann vor Angst und Schmerz immer höher und höher fliegen und wenn sie seitlich ausweichen wollte, könnten wir per Knopfdruck unseren Wünschen Nachdruck verleihen. Wir würden sie also zwingen immer höher und höher zu fliegen und wenn sie die Anziehungskraft unserer Erde überwunden hätte, würde sie mit derselben Geschwindigkeit weitersegeln, mit der sie gestartet ist – bis nach Pessian.“

„Aber das ist Tierquälerei“, sagte der kleine Idan.

„Eben das dachte ich auch. Also vergiss es lieber!“

„Hast du noch eine andere Idee?“

„Nun ja – möglicherweise könnten wir eine große luftdichte Kapsel bauen, diese dann an einen großen, starken Baum hängen und die Kapsel mit starken Tauen nach unten ziehen, sodass sich der Baum zur Erde beugt. Dann schließen wir uns in der Kapsel ein, unsere Freunde kappen unten die Taue, während gleichzeitig mein Bruder oben die Taue zerschneidet, die die Kapsel mit dem Baum verbindet, und – lassen die Kapsel schnalzen.“

„Glaubst du, dass so etwas funktionieren kann?“

„Wenn der Baum groß und stark genug ist und die Geschwindigkeit, mit der die Kapsel geschnalzt wird, so hoch ist, dass sie die Anziehungskraft der Erde überwindet – dann vielleicht! Natürlich dürfen wir auch einen Fallschirm nicht vergessen, den wir allerdings erst auf Pessian einsetzen dürfen.“

„Aber wie sollen wir dann von Pessian wieder nach Hause zurückkommen?“, fragte Idan.

„Da hast du auch wieder recht. Also vergiss es lieber!“

„Es gibt noch eine andere Möglichkeit“, meldete sich da eine Stimme. Äffchen und Idan blickten sich um. Es war Kuno Weißhaar.

„Soviel ich weiß, ist es noch vor wenigen hundert Jahren einigen Abenteurern gelungen, eine Reise nach Pessian zu unternehmen“, sagte er.

„So? Und wie?“, fragte Äffchen.

„Über den Turm von Gorkan.“

„Der große Himmelsturm von Gorkan, in Íoland? Aber der wurde vor dreitausend Jahren zerstört.“

„Ja, das sagt man, aber das ist ein Gerücht. Der Turm von Gorkan steht, das haben mir meine Verwandten bezeugt. Er ist im südlichen Urwald verborgen. Gorkan ist vor dreitausend Jahren zerstört worden, das ist wahr, aber der Turm ist erhalten geblieben. Er ist bis zum Blätterdach des Waldes von Schlingpflanzen umwachsen.“

„Aber wie kommt es, dass er nicht aus der Ferne oder von einem Flugzeug aus gesehen wird?“, fragte Äffchen.

„Das hängt damit zusammen“, erwiderte Kuno Weißhaar, „dass die Erbauer des Turmes diesen mit einer wetterfesten Tarnfarbe angestrichen haben. Es handelt sich um eine sogenannte Wechselfarbe, die die Eigenschaft besitzt, sich an die Farbe der Umgebung vollständig anzupassen, sodass der Turm nicht gesehen werden kann.“

„Das heißt, der Turm ist unsichtbar?“, fragte der kleine Idan.

„Gewissermaßen. Allerdings kann man nicht durch ihn hindurch sehen.“

„Und wie kommt es, dass noch kein Flugzeug mit ihm zusammengestoßen ist?“

„Der südliche Urwald von Íoland ist für den Flugverkehr gesperrt“, erwiderte Kuno Weißhaar. „Er war es schon immer, denn die Íoländer wollen ihren Urlaub in den Urwäldern ungestört verbringen. Sie verabscheuen fremde Geräusche, wie sie von Flugzeugen ausgelöst werden.“

„Wie war es möglich, dass der Turm damals nicht mit der Stadt zusammen zerstört worden ist?“, wunderte sich Äffchen.

„Du kennst doch die Geschichte! Als Gorkan von Feinden belagert wurde, wurden die Bewohner gezwungen, ihre Stadt zu zerstören bis auf den Turm. Den wollten die Feinde zu ihrem Zweck verwenden. Nun heißt es, die Einwohner Gorkans hätten auch den Turm zerstört, um zu verhindern, dass er in den Besitz der Feinde gerät. Das haben sie aber nicht, sondern sie haben ihn mit einem Material bestrichen, das die Farbe der Umgebung annimmt, bis in die Wolken hinauf. So konnte er von den Feinden nicht entdeckt werden und man hat ihnen gesagt, der Turm sei zerstört worden. Viele Einwohner von Gorkan sind in dem Turm den Feinden entkommen und wurden nicht mehr gesehen.“

„Und der Turm von Gorkan ist tatsächlich hundertfünfzigtausend Kilometer hoch?“, fragte Äffchen.

„Hunderttausend Kilometer. Er ist hunderttausend Kilometer hoch!“

„Sehr schön! Und die restlichen fünfzigtausend Kilometer können wir dann wohl nach Pessian springen?“

„Du beliebst zu scherzen“, sagte Kuno Weißhaar. „Der Turm enthält einen Fahrstuhlschacht. In diesem können Fahrstühle auf eine so hohe Geschwindigkeit beschleunigt werden, dass sie aus der Spitze des Turmes nach Pessian abgeschossen werden können. Sie sind auch oben mit einem Fallschirm versehen.“

„Sehr schön. Was für ein Glück, dass Pessian eine Atmosphäre hat und der Fahrstuhl durch den Fallschirm gebremst werden kann. Aber – wenn wir schon mal dort sind – wie kommen wir wieder zurück?”

„Die Fahrstuhlkapsel enthält, soviel ich weiß, ein eigenes Triebwerk. Damit kann man zumindest bis zur Spitze des Turmes zurückfliegen.“

„Gut“, sagte Äffchen, „unter dieser Bedingung können wir es wagen. Die Frage ist jetzt nur noch: Wie kommen wir nach Íoland?“

„Auch das dürfte nicht weiter problematisch sein. Ich habe Beziehungen zu Kuno-Stämmen an der Küste, die ständig mit Seeleuten in Verbindung stehen. Diese Seeleute aus Íoland treiben Handel mit meinem Volk. Manchmal kommen auch Abenteurer nach Rüsselschwein, allerdings nur selten, sehr selten Touristen. Vielleicht haben wir Glück, und es schließen sich uns einige Abenteurer an. Für die Reise zur Küste könnte ich euch einige Reittiere zur Verfügung stellen.“

„Abgemacht“, sagte Äffchen. „Kommst du denn mit?“

„Was wird mir anderes übrig bleiben?“, erwiderte Kuno Weißhaar. „Ohne mich findet ihr nie den Turm von Gorkan.“

Die Bewohner von Plédos

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