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Die Expedition

Silena hatte ein Geheimnis. Ihre Geweihansätze leuchteten bei Nacht wie kleine Glühbirnen. Und es war nicht dieses Leuchten allein, ein Leuchten in vielen Farben, das die Bewohner des Märchenwaldes erfreute, die Geweihansätze sangen auch, während sie leuchteten. Sie klangen in verschiedenen Tönen, wie der Wind klingt, wenn er durch eine geheimnisvolle Kraft geformt wird. Es war dieses Singen, Klingen und Tönen, das die Bewohner des Märchenwaldes vermissten. Und sie waren sich einig: Hätten sie diese Geweihansätze zurück, so würde wieder Freude herrschen unter den Bewohnern des Märchenwaldes, wie zu der Zeit, da Silena noch lebte. Es gab noch andere Gründe, warum gefordert wurde, dass man eine Expedition in die Ganganjer-Schlucht unternehmen sollte: Der Körper Silenas sollte einer ehrenvollen Beerdigung zugeführt werden. Da seit der Gründung des Waldes vor hunderten Jahren wie durch ein Wunder keiner seiner Bewohner jemals gestorben war, als hätte die hohe Lebensdauer der beiden Riesen auch auf die Tiere abgefärbt, so wusste natürlich niemand, was eine Beerdigung war – bis zu dem Tag, an dem Silena zu Tode kam. Danach hatten die beiden Riesen den Tieren von dem Brauch der Begräbnisse erzählt und es bedauert, dass der Körper der armen Hirschkuh fern von ihren Angehörigen in der Ganganjer-Schlucht verschollen war, statt eine ehrenvolle Beerdigung zu erhalten. Die Tiere hatten den Riesen sofort geglaubt, dass es etwas Herrliches sein müsse, beerdigt zu werden, und forderten nun, Silena müsse geborgen werden. Die Riesen sollten sie ihnen holen. Idan und Oler aber verbaten dies streng. Eine Reise in die Ganganjer-Schlucht sei viel zu gefährlich. Selbst wenn es dem Abenteurer gelänge, all die Gefahren zu überwinden, die auf dem Weg nach unten auf ihn lauerten, so warte dennoch am Grunde der sichere Tod. Denn wie in den schwindelnden Höhen der Berge der Luftdruck stetig abnimmt und man den inneren Druck der eigenen Ohren spüre, so sei am Grunde dieser unbeschreiblich tiefen Schlucht der Luftdruck um ein Vielfaches höher. Kein Wesen aus der oberen Welt könne den Druck überleben. „Bedenkt“, sprach Oler zu den versammelten Tieren, „die Tiefe der Ganganjer-Schlucht übertrifft die Höhe der höchsten Berge um das Mehrhundertfache. Vergegenwärtigt euch, wie bereits auf einem Berg von siebentausend Metern Höhe die Ohren wehtun wegen des geringen Außendruckes. Bär Porbulo, der schon so manche Reise unternommen hat mit seinen Getreuen, kann euch ein Lied davon singen. Nun stellt euch vor, dass in demselben Maße, wie mit zunehmender Bergeshöhe der Luftdruck abnimmt, derselbe mit wachsender Tiefe steigt, so könnt ihr erkennen, welcher immense Druck den Abenteurer am Grunde der Schlucht erwartet.“

Die Tiere des Waldes bestaunten die Weisheit Olers und glaubten ihm. Sie fügten sich in ihr Schicksal, wohl niemals wieder in den Genuss der glühenden Geweihspitzen Silenas zu gelangen oder ihr ein Grabmal errichten zu können. Auch würde ja sicher Silenas Geweih nicht mehr leuchten, wenn sie nicht lebte, versicherte ihnen der Riese.

Erfinder-Äffchen aber war anderer Meinung. Es war zu der Erkenntnis gekommen, dass das Geweih Silenas durch einen chemischen Prozess leuchte und singe und dass es einen Weg geben müsse, diesen Prozess auch künstlich in Gang zu setzen, sobald die Überreste der Hirschkuh gefunden würden. Auch ging es davon aus, dass die Ganganjer-Schlucht nur einen schmalen Spalt ausmachen würde im Verhältnis zur übrigen Erdoberfläche. Das Luftmeer könne daher auf diesem nicht auf dieselbe Weise lasten wie auf der Erdoberfläche und es dringe nur ein geringfügiger Teil davon in die Schlucht, der entsprechend verdünnt werde. Diese Luftverdünnung werde wiederum ausgeglichen durch die zunehmende Schwerkraft. Es müsse also möglich sein, am Grunde der Schlucht ganz normal zu atmen und zu überleben. Äffchen hatte diesen Einwand vorgebracht, aber er war von den Riesen Idan und Oler nicht anerkannt worden. Darum hatte es beschlossen, das Unternehmen heimlich und auf eigene Faust zu planen.

Erfinder-Äffchen hatte heimlich zu einer Expedition in die Ganganjer-Schlucht aufgerufen. Es meldeten sich mehrere Freiwillige. Diese waren der kleine Idan, Kuno Weißhaar und sein Vetter Schwarzschopf und der große Bruder von Erfinder-Äffchen, den man unter dem Namen „Großer-Bruder-Affe“ kannte. Oler und der große Idan durften nichts davon erfahren, denn sie hätten gewiss sofort die Abenteurer an ihrem Unternehmen gehindert. Sämtliche Erkundigungen der Schlucht waren in der Vergangenheit daran gescheitert, dass die Wände zu glatt und zu steil waren. Und niemand kannte ein Seil, das lang genug gewesen wäre, um bis auf den Grund zu reichen. Darum hatte Erfinder-Äffchen anfangs an einen Heißluftballon gedacht, mit dem man hinunterschweben konnte. Aber dessen Herstellung wäre so aufwendig und der Ballon selbst so groß gewesen, dass es den Riesen sicher aufgefallen wäre. Darum hatte sich Erfinder-Äffchen ein neues Strickleitersystem ausgedacht. Dieses bestand aus einer langen ringförmigen Strickleiter, an deren beiden Polen sich künstliche Saugschrauben befanden. Was Saugschrauben waren, das wusste der kleine Idan anfangs auch noch nicht. Es handelte sich um wurmartige Tiere, die sich mit Hilfe extrem starker Saugnäpfe an glatten Wänden empor angeln konnten. Das Geheimnis, wie sich diese Saugnäpfe automatisch wieder lösen ließen, hatte Erfinder-Äffchen herausgefunden. Sie reagierten auf Spannung. Aber dieses Prinzip konnte im Falle der künstlichen Saugschrauben nicht angewandt werden. Erfinder-Äffchen hatte sich etwas anderes einfallen lassen. Es hatte nämlich eine kleine Klappe an der Oberfläche der großen künstlichen Saugnäpfe angebracht, die man öffnen konnte. Und wenn man sie öffnete, drang Luft in den Hohlraum zwischen Saugnapf und angesaugtem Gegenstand, es kam zu einem Druckausgleich und der Saugnapf sprang ab. Der Plan war nun folgender: Die Strickleiter sollte an ihrem oberen Pol mithilfe des Saugnapfes an der Wand des Abhangs befestigt werden. Dann würden die Expeditionsteilnehmer – zwei auf jeder Seite – an der ringförmigen Strickleiter herabsteigen und, unten angekommen, diese mithilfe ihres am unteren Pol angebrachten Saugnapfes an der Wand befestigen. Natürlich musste einer oben bleiben, der, nachdem die Strickleiter unten befestigt war, den oberen Saugnapf mithilfe der Klappe von der Wand lösen musste, und für diese Aufgabe hatte sich der Große-Bruder-Affe bereit erklärt, der sich durch besondere Geschicklichkeit im Klettern und Lianenschwingen auszeichnete. Nachdem er den oberen Saugnapf gelöst hatte, sollte er die Strickleiter an ihrem unteren Pol fassen und sich nach unten schwingen, während sich die anderen vier unten an der Strickleiter festhielten. Natürlich hätte ein solches Hinunterschwingen eigentlich zur Folge gehabt, dass der Große-Bruder-Affe unten mit voller Wucht an die Wand der Schlucht geprallt wäre. Um solches zu vermeiden, trug er an den Füßen große Sprungfedern, mit denen er gezielt auf der Felsenwand aufkommen musste und noch einige Zeit in Ruhe abfedern konnte. Natürlich wurden dadurch die vier anderen am unteren Pol der Strickleiter Hängenden ebenfalls erheblich erschüttert und mit dem Rücken gegen die Wand des Abhangs geschlagen, und um den Aufprall zu dämpfen, trugen sie ebenfalls Sprungfedern auf ihrem Rücken. Wenn sie abgefedert und zur Ruhe gekommen waren, sollten sie wieder – zwei auf jeder Seite – die Strickleiter hinunterklettern, um den einstigen oberen Saugnapf, der jetzt zu unterst hing, an der Felswand zu befestigten. Zur gleichen Zeit sollte der Große-Bruder-Affe nach oben klettern, um den oberen Saugnapf wieder zu lösen. Dieses Verfahren sollte solange wiederholt werden, bis sie unten angekommen waren. Und so wurde es auch gemacht. Da die Reise lange und beschwerlich werden würde und es nicht möglich war, so viele Lebensmittel mitzunehmen, hatte Erfinder-Äffchen ein kleines Gerät mitgenommen, das es „Rückwärtsgang“ nannte. Das war kein gewöhnlicher Rückwärtsgang wie bei einem Kraftfahrzeug – so dachte wenigstens Erfinder-Äffchen. Dieses Gerät sollte dazu dienen, die Zeit umzukehren, wie in einem Film. Erfinder-Äffchen hatte das Gerät aus dem Rückwärtsgang eines tatsächlichen ausrangierten Kraftfahrzeuges entwickelt, das die Kunos aus Gandovir, einer Touristenstadt an der Nordküste, herbeigeschleppt hatten. Es war ernsthaft der Auffassung, dass ein Vorgang, der für den Raum gelte, nämlich das Rückwärtsfahren, sich auch auf die Zeit anwenden lasse. Kuno Weißhaar und sein Vetter Schwarzschopf hatten dagegen eingewandt, dass man die Zeit nicht zurückdrehen könne. Dies sei deshalb nicht möglich, weil es nur Bewegungen, aber keine Zeit an sich gäbe, die man zurückdrehen könne. Aber Erfinder-Äffchen war anderer Ansicht. Wenn man in der Erinnerung zurückgehen könne, dann müsse man das auch in der Wirklichkeit können und dieses Zurückgehen in der Wirklichkeit sei ein Zurückgehen in der Zeit. Der kleine Idan wollte sich an solchen Diskussionen nicht beteiligen. Sie waren viel zu kompliziert für ihn. Jedenfalls hatte Erfinder-Äffchen seine eigene Meinung darüber, was Zeit war. Wenn man die Zeit zurückdrehen könne, so meinte es, dann müsse es möglich sein, einen Vorgang, der sonst Energie erfordere, auch ohne Zufuhr von Energie zu erzeugen. „Wenn ich ein Haus baue, stecke ich viel Energie hinein“, sagte Äffchen. „Wenn ich es zerstöre, brauche ich nur wenig Energie. Wenn ich es aber aus dem zerstörten Zustand wiederherstelle, indem ich die Zeit umkehre, brauche ich so gut wie keine Energie. Ich brauche also nur die Zeit umzukehren, die Träger der Bewegung ist, und schon hat sich die Sache!“ So argumentierte Äffchen.

„Man kann nicht die Zeit umkehren“, sagte Kuno Weißhaar. „Zeit bezeichnet nur Bewegungsdauer und wenn man etwas bewegen will, dann muss man Energie hineinstecken. Und man braucht mehr Energie, wenn man etwas aufbaut, als wenn man es zerstört. Eine bloße Dauer aber kann man nicht umkehren und wenn man die Sache recht betrachtet, dann gibt es so etwas wie Dauer eigentlich gar nicht, zumindest nicht in unserer Welt. Außer den Ideen hat noch niemals irgendetwas in unserer Welt überdauert. Dauer nennt man also einen Zustand, den wir noch gar nicht kennen. Und den willst du umkehren? Viel Glück dabei!“

„Du irrst dich“, hatte Erfinder-Äffchen entgegnet. „Bewegungen ereignen sich ja nicht im leeren Raum. Sie müssen in einem Zeitraum stattfinden. Sonst könnten sie nicht aufeinander bezogen werden. Und eben diesen Zeitraum möchte ich – zumindest streckenweise – mit meiner Maschine umkehren. Das ist gerade so wie mit den Filmen in zivilisierten Ländern. Und was ist der prinzipielle Unterschied? Was man vorwärts anschauen kann, das kann man auch rückwärts ansehen!“

„Nein“, hatte darauf der Kuno erwidert. „Es ist ein Unterschied, ob du dir eine Bewegung nur anschaust oder ob du sie ausführst. Die gesehene Bewegung ist nur ein Abbild und erfordert keine Anstrengung. Die ausgeführte ist eine Wirklichkeit und sie verbraucht Energie.“

„Nein“, hatte Erfinder-Äffchen gesagt. „Wie alles, was ist, sich in einem Raum befindet und in diesem in jede beliebige Richtung verschoben werden kann, so spielt sich auch alles in einem Zeitraum ab, in dem es nach vorn oder nach hinten verschoben werden kann, und das ist völlig unabhängig von der Energie, die eine Bewegung zu ihrer Ausführung benötigt.“

„Beweise das mal“, hatte Kuno Weißhaar noch gerufen. „Beweise, dass es so etwas gibt wie einen Zeitraum, in den man in zwei verschiedene Richtungen gehen kann. Das wirst du nie beweisen können!“

Aber Erfinder-Äffchen war bei seiner Meinung geblieben. Über das Für und Wider sollte ein Experiment entscheiden. In seinem Labor hatte es ein solches Experiment durchgeführt und Kot in köstliche Nahrung verwandelt. So hatte Äffchen jedenfalls behauptet und da es ein ehrliches und aufrichtiges Äffchen war, hatte ihm jeder geglaubt.

Während die Affen mit der kreisförmigen Strickleiter keine Schwierigkeiten hatten, kamen die beiden Kunos mit ihren kurzen, plumpen Gliedmaßen und Fingern nur langsam voran. In der Mitte lag der kleine Idan, der den beiden Kunos half.

Nachdem die Gefährten unter großen Anstrengungen an der Wand der Ganganjer-Schlucht eine gewisse Strecke zurückgelegt hatten, war es an der Zeit, den Rückwärtsgang auszuprobieren, und zwar noch bevor sämtliche Lebensmittel verbraucht waren. Es war Kuno Weißhaar, der diesen Vorschlag gemacht hatte. Er wollte auf Nummer sicher gehen. Alle anderen vertrauten Äffchen machten an einem Felsenvorsprung in der Nähe eines großen Adlernestes Rast. Erfinder-Äffchen holte den Motor aus seinem Rucksack, während Großer-Bruder-Affe mit Hilfe einer ausfahrbaren Angel ein wenig Kot aus dem Adlernest fischte. Erfinder-Äffchen steckte den Kot in die Maschine und drückte den Auslöser. Der Motor brummte. Dann kam ein wenig mehlige Substanz zum Vorschein und Großer-Bruder-Affe, der viel auf seinen kleinen Bruder hielt, verzog enttäuscht sein Gesicht zu einem verschämten Grinsen, während die beiden Kunos missmutig drein blickten. Schließlich huschte quiekend eine kleine graue Maus hervor.

„Das Experiment ist gelungen!“, schrie Äffchen. „Wieder ist es gelungen! Die Adler haben Mäuse verspeist!“

„Das hat gar nichts zu sagen“, wandte Kuno Weißhaar ein. „Die Maus kann schon vorher in der Maschine gewesen sein. Durch das Geräusch des anspringenden Motors wurde sie aufgeschreckt! Das ist eine graue Waldmaus, wie sie öfter bei uns vorkommt.“

„Willst du meine Intelligenz in Frage stellen?“, schrie Äffchen. „Also gut: ein weiteres Experiment!“ Äffchen zerdrückte eine Tomate zu Matsch und führte sie in die Maschine ein. Es drückte den Auslöser. Die Maschine gurgelte. Roter Tomatensaft spritzte heraus.

„Das war wohl zu viel des Guten“, bemerkte Kuno Weißhaar. „Diese Maschine ist ein einziger Humbug! Allein die Idee ist idiotisch! Ich wusste gleich, dass das nicht funktionieren kann!“

„Der Tomatensaft ist kein Gegenbeweis“, entgegnete Äffchen. „Die Maschine hat die Tomate nur in ihren Urzustand zurückversetzt. Und wie ich wissenschaftlich bewiesen habe, ist alles aus Wasser entstanden.“

„Bravo“, rief Kuno Weißhaar. „Du bist ein fantastischer Kerl, der keinem eine Antwort schuldig bleibt. Du kannst wohl alles erklären, sogar den vollendeten Unsinn, aber wir können nichts essen. Das eine ist Erfindung, das andere Wirklichkeit. Da fällt mir gerade ein: Das mit dem Hinuntersteigen war keine schlechte Idee, aber hast du dir schon einmal Gedanken darüber gemacht, wie wir wieder hoch kommen sollen? Das dürfte mit der Ringstrickleiter schwierig sein! Wer soll den oberen Saugnapf nach oben befördern, ohne zu springen?“

Erfinder-Äffchen schaute betroffen. Tatsächlich hatte es sich darüber noch keine Gedanken gemacht. Dass es nahezu unmöglich war, mithilfe seines ausgeklügelten Strickleitersystems wieder nach oben zu gelangen, kam ihm erst jetzt in den Sinn. Es blieb ihm förmlich die Spucke weg.

„Mein Gott“, schrie Kuno Weißhaar, „das Äffchen hat tatsächlich nicht daran gedacht! Ich bin ja selbst ein Idiot, dass ich nicht kritisch nachgefragt habe! Was bin ich für ein Idiot! Einem Affen trauen! Ich hätte viel früher daran denken sollen, dass wir ja wieder zurückkommen müssen! Selbst wenn wir den Grund der Schlucht erreichen, werden wir wohl unten bleiben müssen!“

Bei solchen Aussichten war es dem kleinen Idan ganz angst und bange zumute geworden. Vor Angst begannen ihm die Knie zu schlottern, und plötzlich wurde seine Hose nass. Erfinder-Äffchen reagierte geistesgegenwärtig. Es streifte Idan die Hosenträger mitsamt der Hose herunter und fing den Urin in einer Flasche auf. Diese goss es dann in die Maschine. „Jetzt werdet ihr ein Wunder erleben“, behauptete Äffchen. Es drückte den Auslöser, die Maschine brummte und Wasser spritzte heraus, das Äffchen in seiner Flasche sammelte.


„Was hast du gestern und heute getrunken?“, fragte Erfinder-Äffchen den kleinen Idan, während sich dieser wieder die Hose anzog.

„Quellwasser“, antwortete dieser.

„Hab ich’s nicht gesagt?“, rief Äffchen. „Das ist reines Wasser. Ein weiterer Beweis, dass meine Maschine funktioniert!“

„Schon probiert?“, fragte Weißhaar.

„Wieso? Das sieht man doch!“

„Wenn es reines Wasser ist, darf es nicht salzig schmecken!“, sagte Kuno Weißhaar. „Urin schmeckt unter anderem salzig!“

„Kannst ruhig probieren“, sagte Äffchen und streckte dem Kuno die Flasche entgegen. Dieser probierte tatsächlich. Er verzog das Gesicht, spie aus und wurde rot vor Wut. „Blöde Maschine!“, rief er und versetzte dieser einen Tritt, sodass sie den Felsenvorsprung hinuntergefallen wäre, wenn nicht Erfinder-Äffchen sie aufgefangen hätte. Um dies zu tun, musste es aber mit einem Satz nach vorne springen und dabei rumpelte es Idan an. Dieser verlor das Gleichgewicht, ruderte mit den Armen in der Luft – und fiel. Es brauchte eine Weile, bis der kleine Idan – unter den Schreckensrufen der anderen – realisiert hatte, was eine unabänderliche Tatsache war. Er stürzte tatsächlich.

Normalerweise bleibt einem Stürzenden nicht viel Zeit, sich während seines Sturzes allzu viele Gedanken über sein Schicksal zu machen. Nun war aber die Ganganjer-Schlucht fast tausend Kilometer hoch, und ein Stürzender musste mit fünf Stunden Flugdauer rechnen, bis er unten ankam. Zeit genug, um noch einmal in Ruhe sein Leben zu überdenken und es noch einmal ordentlich mit der Angst zu tun zu bekommen. Und so bekam tatsächlich auch der kleine Idan ordentliche Angst. Das Schrecklichste war seine gänzliche Hilflosigkeit. Er konnte absolut nichts tun und blickte nur mit großen Augen seinem sicheren Ende entgegen. Dabei gingen ihm so manche Gedanken durch den Kopf. Er bereute bitterlich, dass er nicht auf den Rat seiner Ziehväter gehört hatte und zu Hause geblieben war. Er stellte sich vor, wie die beiden Riesen um ihn trauern würden, und weinte bittere Tränen darüber, dass er daran schuld war und ihr Vertrauen missbraucht hatte. Ein kalter Zugwind wehte ihm entgegen und wenn dieser nicht gewesen wäre, so hätte der kleine Idan sich völlig schwerelos gefühlt. Er hatte sich auf den Bauch gelegt, um die Fallgeschwindigkeit zu drosseln und der Wind wehte ihm die Tränen aus den Augen, die immer wieder von Neuem flossen. Ganz bewusst konnte er erleben, wie er immer schneller und schneller wurde. Die rötlichen felsigen Klippen an den Wänden des Abgrundes rasten immer schneller an ihm vorbei. Und irgendwann einmal bemerkte der kleine Idan, dass er mit gleich bleibender Geschwindigkeit fiel. Der Zugwind hatte aufgehört, noch stärker zu werden, und blies ihm mit gleicher Stärke ins Gesicht. Und die Felsenformationen zogen jetzt gleichmäßig an ihm vorüber. Noch konnte er keinen Grund erkennen. Die Fluchtlinien des namenlosen Abgrundes verloren sich in einem unscheinbaren Punkt. Der kleine Idan betete zu Gott. Seine Ziehväter hatten ihm erzählt, dass alle Dinge aus einem gütigen Urwesen hervorgegangen seien und zu diesem als seine Kinder zurückgeführt werden sollten. „Bitte, lass mich leben“, schrie der kleine Idan, „ich will noch nicht sterben! Wenn du mich leben lässt, werde ich meinen Vätern auch gewiss keine Schande mehr machen! Bitte lass mich leben! Ich weiß nicht wie, aber du wirst schon irgendeinen Weg finden! Es heißt doch, dass dir nichts unmöglich ist!“

Idan blickte wieder in den namenlosen Abgrund, der immer neue Felsenformationen freigab, und plötzlich überkam ihn eine nie gekannte, selige Ruhe. Er schloss die Augen und war bald eingeschlafen.

Als er erwachte – es mochten mehrere Stunden seliger Träume verflossen sein – dauerte die Fahrt noch an. Er durchschwebte zarte Wolken. Und dann – dann nach vielen Minuten innerer Ruhe und vertrauensseligem Ausharren – erkannte er aus mehreren tausend Metern Höhe den Grund der Schlucht. Es bot sich ihm ein Bild der Zerstörung. Der Boden war über und über von wolkigem grauen Staub bedeckt. Der kleine Idan schrie laut auf. Aber es nützte ihm nichts. Er sah dem unabwendbaren Ende entgegen. Idan hatte insgeheim gehofft, dass sich auf dem Grunde der Schlucht der Staub schon meterdick aufgetürmt hätte und dass er mit ein wenig Glück eine weiche Landung haben würde – trotz einer gleich bleibenden Geschwindigkeit von zweihundertfünfzig Stundenkilometern, wie sie Äffchen berechnet hatte. Aber er hatte sich getäuscht. Der Staub berührte den Boden nur hauchdünn und fetzenartig und gab den nackten Lavaboden frei. Und an manchen Stellen war er zu flockigen, Furcht erregenden Gebilden aufgetrieben. Diese aber waren wohl ebenso wenig geeignet seinen Sturz abzubremsen. Vergeblich hielt Idan nach einem Gebilde Ausschau, das dazu vielleicht in der Lage gewesen wäre. Von Äffchen hatte er gelernt, dass es dem aus großer Höhe Fallenden möglich war, den Ort seiner Ankunft selbst zu wählen, wenn er mit Armen und Beinen durch die Luft ruderte. Hätte er solch einen gewünschten Ort erspäht, er hätte es versucht. Aber er fand nichts. Wie er nun abschätzen konnte, war seine Fallgeschwindigkeit schon weitaus höher, als die von Äffchen errechnete, und keine der flockigen Formationen konnte ihn davor bewahren, gänzlich zerschmettert zu werden. Idan rang nach Atem. Der Angstschweiß rann ihm aus allen Poren. Noch einmal erhob er sein Herz flehend zu Gott. Er schrie um Hilfe. Noch war er nur noch knappe tausend Meter vom Ziel seiner Reise entfernt. Da sah er plötzlich zwischen den nebeligen Gebilden aus grauem Staub so etwas wie eine Brunnenöffnung, groß genug für einen Menschen, um sich bequem darin bewegen zu können. Hastig ruderte er mit Armen und Beinen, um möglichst über der Brunnenöffnung zu liegen zu kommen. Da bemerkte der kleine Idan, dass er schräg durch die Luft schwimmen konnte, der kleinen abgrundartigen Öffnung entgegen, die seine letzte Rettung zu sein schien.

Tatsächlich erreichte er sie. Statt auf dem Grund aufzuschlagen, was sein sicheres Ende bedeutet hätte, raste er durch die brunnenähnliche Öffnung in eine finstere Tiefe hinab. Was er nun hier beobachten konnte, überstieg sein Vorstellungsvermögen. Der Schacht, den er durchraste, war nicht unbewohnt. An seinen Wänden türmten sich Balustraden empor. Sie waren mit Säulen versehen und Gänge führten tiefer in das Innere der Lavafelsen hinein. Manchmal bekam er auch ihre Bewohner zu Gesicht. Es waren Wesen mit roter, lederner Haut und spitzen Ohren. Einige von ihnen hatten ihn erblickt, wie er durch ihren Schacht fiel. Lächelnd entblößten sie ihre scharfen Reißzähne und grüne, leuchtende Augen blitzten ihn an. Erfinder-Äffchen hatte Idan von einer Hölle erzählt, von der die südländischen Stiefelburger sprachen. In diese Hölle, so glaubten sie, gelangten die bösen Menschen nach ihrem Tod. Niemand wusste genau, wo man sie zu suchen hatte, aber einige vermuteten sie tief unter der Erde. Idan zweifelte keinen Moment: Gewiss passierte er gerade diese Hölle. Es musste so sein! Und wie er tiefer und tiefer stürzte, an all den Balustraden vorbei, die nur ein züngelnder Lichtschein erhellte, fragte er sich, ob er in Wahrheit vielleicht gerade gestorben war. Vielleicht war er am Grunde der Schlucht zerschmettert worden und war nun in Wirklichkeit tot. Möglicherweise führte sein Weg direkt in die unterste Hölle, wo er nun bei all den bösen Teufeln wohnen musste. Bei diesem Gedanken schauderte es Idan gewaltig. Aber er hatte doch das väterliche Urwesen um Rettung gebeten. Konnte es denn sein, dass Gott so unbarmherzig war? Nein, es durfte nicht sein! Vielleicht war dies alles ein Traum!

Von Balustrade zu Balustrade sah Idan gierige Augen auf sich gerichtet. Der Schacht selber war stockdunkel, aber die Gänge, die von den Balustraden aus in die Wände hineinführten, waren hell erleuchtet, und voll unterirdischer, sie kreuzender Lavaströme, die von den Teufelswesen gebändigt wurden. Idan erkannte dies daran, soweit er es im Vorüberfliegen beurteilen konnte, dass diese Teufel sich an der glühenden Lava zu schaffen machten. Die meisten von ihnen hielten metallene Dreizacke in ihren Klauen bewährten, schuppigen Händen. Manch einer streckte seinen Dreizack in den Schacht hinein, um damit nach Idan zu angeln. Doch sie verfehlten ihn stets. Der Schacht schien kein Ende zu nehmen. Und jeden Moment war sich der kleine Idan der Möglichkeit bewusst, dass er plötzlich aufschlagen und sein Fall ein abruptes Ende nehmen konnte. Dann wäre er, sofern er nicht schon tot war, sicher tot gewesen. Aber auch diese grausame Erwartung sollte sich nicht erfüllen.

Nach einer bangen Weile hörten die Säulengehänge und Balustraden auf und Idan flog nackte Wände entlang. Jedenfalls zeigte ihm dies seine Taschenlampe, die er im Flug aus dem Rucksack gezogen hatte, weil er die Ungewissheit über den Ort seines Aufenthaltes nicht mehr ertrug. Die Wände des Schachtes waren nun grau und glatt. Und die finstere Tiefe darunter war nicht zu erhellen. Dann durchflog der kleine Idan einen Hohlraum, der vollkommen leer und stockdunkel war. Das Licht der Taschenlampe wurde nicht mehr reflektiert und Idan steckte das Gerät in den Rucksack zurück. Der Zustand dauerte wohl mehrere Stunden, und betend fiel Idan wieder in eine tiefe Betäubung. Diesmal war es die Angst, die seine Ohnmacht erzeugte.

Als er wieder zu sich kam, war es ihm, als könne er oben und unten nicht unterscheiden. Er hätte nicht sagen können, ob er nach unten fiel, oder ob er einen hohen Schacht hinaufflog. Es schien ihm fast das Letztere der Fall zu sein, obwohl der Verstand ihm sagte, dass es nicht sein konnte. Aber die Balustraden, die er jetzt wieder auf allen Seiten des Schachtes erblickte und auch die zwielichtigen Teufelswesen, die sich bisweilen zwischen den Säulen zeigten, schienen mit ihren Köpfen nach unten zu hängen. Wenn er allerdings den Kopf voran nach unten fiel, kehrte sich die ganze Szene um. Jetzt war er der Fliegende, der alles unter sich zurückließ. Dies konnte Idan daran erkennen, dass ihm die Teufelswesen mit staunend aufgerissenen Glühaugen nachblickten und sie die Köpfe nach oben reckten, um seinem Sturz zu folgen. Der kleine Idan mochte wohl zwei Tage nichts gegessen und getrunken haben und es dürfte wohl keinen wundern, dass er in der entsetzlichen Lage, in der er sich befand, keinen großen Hunger verspürte. Der Appetit war ihm schon lange vergangen. Doch machte sich allmählich großer Durst bemerkbar, denn viel länger als drei Tage kann man ohne Flüssigkeit nicht überleben. Die ganze Mundhöhle war wie ausgetrocknet und die Zunge klebte brennend am Gaumen.

„Wasser“, rief Idan, „Wasser! Gebt mir doch Wasser!“

Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass die zähen Lederteufel, die er gleichsam unter sich zurückließ und die ihm sprachlos und ihn offenbar bewundernd hinterher starrten, auch nur ein Wort seiner Sprache verstehen würden. Ob er nun flog oder fiel, das wusste Idan schon lange nicht mehr. Aber er hatte herausgefunden, dass er sich mehr Respekt verschaffte, wenn er mit dem Kopf voran fiel, was im Verhältnis zur Lage der Teufel bedeutete, dass er denselben nach oben hielt. Denn wenn er auf dem Bauch lag oder mit den Beinen voran fiel, verzogen sich die Teufelsgesichter in missbilligendem Mienenspiel. Wenn er aber seinen Kopf nach unten hing, relativ zu den nach unten gerichteten Balustraden, zollten sie ihm Achtung und Respekt. Staunend rissen sie die ledernen Mäuler auf, dass die Reißzähne in ihnen blitzten und manch einer warf sich beim Anblick Idans auch betend nieder, wie vor einem emporstrebenden Gott. Es lag außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit, aber offenbar mussten ihn einige dieser Wesen doch verstanden haben. Denn sie holten große metallene, mit Flüssigkeit gefüllte Wasserzuber herbei und huldigten niederkniend Idan, indem sie sie ihm entgegenschütteten. Es war so, als sprengten sie Weihwasser aus, wie solches die Pfarrer in Stiefelburg aus Furcht vor den Teufeln tun. Oler und Äffchen hatten davon erzählt. Idan brauchte nur den Mund zu öffnen und es erreichte ihn labende Flüssigkeit. „Danke! Danke!“, rief er, und ein Strom erfrischenden Wassers traf ihn von oben. Oder sollte er sagen, dass es von unten kam. Das Wasser fiel jedenfalls in die entgegengesetzte Richtung wie er. Flog er tatsächlich nach oben? Hatte sich alles umgekehrt? Was war geschehen? Weiter und weiter flog er und von überall her leuchteten ihm Gesichter entgegen, die voll Demut und Ergebenheit zu ihm hinab und später zu ihm hinaufblicken, je nach dem, wie man es haben wollte.

Schließlich kam lange Zeit nichts mehr. Die Balustraden und Säulengehänge an der Wand des Schachtes hatten aufgehört. Um ihn herum war nur noch schwarzes, massives Lavagestein.

In der Ferne konnte Idan so etwas wie einen kleinen blauen, leuchtenden Teich erkennen, in den der Schacht zu enden schien. Die Balustraden mit den Teufelswesen hatten nun längst aufgehört und ein mildes Tageslicht, das von dem Teich zu kommen schien, erleuchtete die Wände des Schachts. Er stürzte oder flog geradewegs auf diesen Teich zu. Der kleine Idan fürchtete schon, dass er in kaltes Wasser fallen und unweigerlich ertrinken musste, denn aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich um einen unterirdischen Gebirgsbach. Er würde den Aufprall auf die Wasseroberfläche wohl nicht überleben. Und selbst wenn er ihn überlebte, so hatte er doch keine Möglichkeit, jemals wieder nach oben zu gelangen. Vorsichtshalber kramte er jetzt doch die kleine Atemmaske aus seinem Rucksack, die er von Äffchen bekommen hatte und die für den Fall vorgesehen war, dass der Luftdruck mit zunehmender Tiefe doch immer stärker werden würde. Eigentlich hätte er sie bei der Tiefe, die er erreicht hatte, schon längst aufsetzen müssen, aber es war nicht nötig gewesen. Jetzt tat er es. Vielleicht nützte sie ihm etwas, wenn er in den Teich fiel. Idan schloss die Augen. Er raste direkt auf den Teich zu. Hinter den geschlossenen Lidern schien es taghell. Wider allem Erwarten kam es zu keinem Aufprall. Als Idan die Augen öffnete, fiel er mitten in den blauen Himmel hinein. Er blickte zurück und unter ihm gähnte ein rauchender Krater. Noch ehe er sich von seinem Schrecken erholt hatte, wurde er plötzlich abgebremst. Der Sturz in den Himmel hörte auf und er purzelte unsanft auf das karge Moos am felsigen Kraterrand. Idan raffte sich auf und blickte sich um. Der Krater, aus dem er gekommen zu sein schien, war äußerst ausgedehnt. Gelbe Schwefelschwaden stiegen auf. War dies nun die unterste Hölle? Immerhin sah der blaue Himmel über ihm viel freundlicher aus als die vielen Balustraden, an denen er vorübergeflogen war. Idan erkundete die Gegend. Unterhalb des Kraterrandes lag eine ausgedehnte, grüne Wiesenlandschaft. Nein, das konnte nicht die Hölle sein. Sein erster Gedanke war, dass er – so unwahrscheinlich es klang – mitten durch den Planeten hindurch gefallen sein musste. Eine andere Erklärung gab es nicht. Ganz in der Nähe weideten Hirsche und Rehe in einer idyllischen Landschaft. Jetzt erst nahm Idan seine Atemmaske ab, die er die ganze Zeit getragen hatte. Und – er traute seinen Augen nicht: Ja konnte es denn sein? – da sah er Silena. Er erkannte sie sofort an ihren sanften Augen. Die Spitzen ihrer Geweihfortsätze leuchteten selbst in der Nachmittagssonne ein wenig. An den Rändern des Kraters sah Idan einige wandernde Feriengäste. Etliche von ihnen deuteten mit dem Finger auf ihn und sprachen mit aufgeregter Miene zueinander. Da sie so weit entfernt waren, konnte Idan nichts verstehen. Aber das kümmerte ihn nicht weiter.

„Silena!“, rief Idan. „Bist du es wirklich?“

Die Hirschkuh drehte sich um. „Idan“, sagte sie in ihrer sanften, kaum hörbaren Gefühlssprache, die der Junge verstand, „der kleine Idan! Wie kommst du denn hierher?“

„Das frage ich dich!“, erwiderte der Junge. „Sind wir denn beide gestorben und befinden uns in einem jenseitigen Land?“

„Nicht, dass ich wüsste“, sagte Silena. „Ich bin durch die Mitte der Erde hindurchgefallen. Du auch?“

„So scheint es gewesen zu sein“, sagte der Junge kleinlaut. „Ich habe es mir fast gedacht. Aber es schien mir so unwahrscheinlich, dass ich eher glaubte, ich müsste gestorben sein.

„Ich weiß, dass ich noch lebe“, sagte Silena.

„Ich wusste gar nicht, dass man von der anderen Seite der Erde nicht herunterfallen kann“, grübelte Idan. „Wo sind wir denn hier?“


„Weiß nicht!“

„Hast du denn gar keine Lust, nach Hause zurückzukehren? Wir alle haben so große Sehnsucht nach dir.“

„Oh, nein! Mir geht es hier gut! Ich habe genug zu fressen und ich habe einen stolzen Mann gefunden und viele kleine Kinder bekommen.“

„Da wir gerade davon sprechen“, sagte der kleine Idan. „Ich habe großen Hunger bekommen, denn ich habe wohl ganze vier Tage nichts mehr gegessen. Ob ich hier wohl etwas Essbares finde?“

„Komm mit“, erwiderte Silena. „Ich will dir zeigen, wo es was zu fressen gibt.“ Und sie führte ihn auf eine grüne, saftige Wiese, die sich zu Füßen des aufgeworfenen Kraterrandes nach allen Seiten ausbreitete. Hier fand Idan herrliche Obstbäume, deren Früchte er mit ausgestreckter Hand leicht pflücken konnte. Sie schmeckten ihm köstlich. Danach ruhte er sich im Schatten der Bäume aus. Silena war inzwischen weggegangen, um ihre Familie zu holen. Die wollte sie dem kleinen Idan zeigen. Mittlerweile waren die Feriengäste, die Idan in der Ferne gesehen hatte, immer näher gekommen und er konnte jetzt ihre Stimmen deutlich vernehmen und unterscheiden. Idan war gerade ein wenig eingedöst, erschöpft von der langen Reise, als ihre Worte deutlich an sein Ohr klangen und ihn aus seinem Schlummer rissen. „Verfluchter Junge“, schrie einer, „er hat die Hirschkuh vertrieben! Das wird er teuer bezahlen!“

„Die hat doch immer so schön mit ihrem Geweih gesungen und hat am Abend geleuchtet!“, hörte er eine andere, weibliche Stimme kreischen.

„Er hat sie verjagt, der Lump!“, hörte er eine dritte. „Wer weiß, ob die wiederkommt!“

„Wahrscheinlich nie mehr im Leben!“, rief die erste Stimme. „So abscheulich hässlich, wie der ist! Ich habe ihn durch meinen Feldstecher beobachtet. Es handelt sich zweifelsohne um einen Menschen!“

„Mein Gott! Ich kenne keinen Menschen, der tierlieb ist!“, sagte die weibliche Stimme. „Die fressen ja Tiere! Was für Barbaren!“

„Und habe ich es nicht gesagt? Er ist tatsächlich einer! Habt ihr gesehen: Als er hier auftauchte, hatte er eine Maske auf!“

„Wahrscheinlich, um seine Hässlichkeit zu bedecken!“, rief der zweite.

„Jedenfalls führt er etwas im Schilde“, mutmaßte der dritte. „Und jetzt fühlt er sich sicher. Er hat sich hingelegt. Auf die faule Haut seiner Übeltaten. Na, das wird wohl ein böses Erwachen!“

Als Idan die Augen öffnete, schrak er zusammen. Das hätte er nicht erwartet. Die vier Gestalten, die über ihm standen, waren abscheulich hässlich. Er hätte eigentlich viel eher schöne Gesichter erwartet, denn das wäre logisch gewesen, wenn sie das seine als hässlich empfanden. Aber ihr Begriff von Schönheit schien verkehrt zu sein. Ihre Köpfe waren struppig und die Gesichter schrecklich aufgedunsen, zäh und lederartig und ihre Zähne groß und abstoßend. Die Haut war graugelb bis graubraun und faltig wie Baumrinde und offenbar durfte man ihre Körperkräfte nicht unterschätzen.

„Er hat Angst vor uns, der Lump!“, krächzte das alte Weib und verpasste Idan eine pfeifende Ohrfeige. „Und dieses war nur der erste Streich!“

„Ja“, bestätigte ein anderer, der aussah, als sei er aus Wurzeln zusammengesetzt, mit der Stimme des ersten, der die anderen aufgehetzt hatte, und verabreichte dem Jungen einen klatschenden Hieb auf die andere Backe. „Ich wollte neue Tonaufnahmen machen vom Gesang der Hirschkuh. Wozu habe ich denn meine Tonträger mitgebracht? Ich bin Hobbyforscher und möchte Vergleiche anstellen, ob sich die wunderbaren Eigenschaften dieses Tieres ändern. Gestern habe ich Tonaufnahmen gemacht und heute wollte ich es wieder tun. Jedes Jahr reise ich extra hierher. Ohne die Hirschkuh ist doch mein ganzer Urlaub versaut! Wer weiß, wann sie wiederkommt!“

Die Wange des Jungen brannte. Sofort machte er sich auf seine Füße, raffte seinen Rucksack auf die Schultern und wollte davonrennen. Aber die Schreckensgestalten zupften ihn von hinten an seinen Kleidern und wollten ihn am Rucksack fassen und festhalten. Idan verhinderte dies, indem er einen Purzelbaum schlug. Als er wieder auf die Füße kam, waren ihm die schrecklichen Gestalten von Neuem dicht auf den Fersen. Das seltsame wurzelartige Wesen, dem die Stimme des Hetzers gehörte, fuhr ihm mit einem schwarzen Holzknüppel zwischen die Füße und versuchte ihm ein Bein zu stellen. Idan stolperte wieder zu Boden und raffte sich wieder auf. Dann duckte er sich vor ihren Griffen und lief davon. Die Feriengäste aber begannen mit Gegenständen nach ihm zu werfen. Sie holten sie aus ihren Rucksäcken. Es hagelte Messer, Gabeln, Feilen, Hammer und Meißel und nur wiederholtes, nicht zu früh ausgeführtes Ducken verhinderte Schlimmeres. Als den Unholden die Gegenstände ausgegangen waren, rissen sie sich ihre goldenen Knöpfe von den Strickjacken und schleuderten sie auf Idan. Manch einer traf ihn empfindlich, aber die Knöpfe waren zu klein, um größeren Schaden zu verursachen. Unter den Protestrufen der Schreckensgestalten bückte sich Idan bei jedem Wurf, dem er zu entgehen trachtete, sammelte die schon gefallenen Knöpfe auf und steckte sie in seinen Rucksack. Der Wurzelsepp drohte mit seinem Prügel, den er dann endlich auch schleuderte. Er verfehlte Idan nur knapp am Kopf. Der Wurzelsepp heulte vor Wut. Goldene Knöpfe hatte er keine mehr. Schließlich kramte er einige silberne Scheiben aus seinem Rucksack hervor und schleuderte sie – eine nach der anderen – nach dem Jungen. Die Scheiben zischten wie scharfe, sich drehende Wurfgeschosse durch die Luft. Sie verfehlten ihn um Weniges. Idan sammelte sie alle und verstaute sie im Rucksack. Mittlerweile hatte sich der Junge hinter das Geröll am Kraterrand zurückgezogen und hatte die Krateröffnung erreicht. In namenloser Wut sprang ihm der Wurzelsepp entgegen. Die alte Alraunenhexe machte ein Foto von ihm. „Nein, nein, nicht auflesen!“, schrie der Wurzelsepp. „Das gehört mir! Rück es heraus!“ Er wollte Idan, der zurückwich, mit seinen derben Klauen am Hals packen und der Junge stolperte nach hinten und verlor das Gleichgewicht. In diesem Augenblick kam Silena, die Hirschkuh, zurück. Ihr Ehemann war ein gewaltiger Hirschbock und süße, kleine Kinder folgten ihnen. „Halt! Halt! Aufhören! Was macht ihr da!“, rief Silena. Leider aber war der Wurzelsepp der Sprache der Tiere nicht mächtig. Nur wenige Sekunden ließ er von Idan ab, erstaunt über die vermeintliche Zutraulichkeit der wundervollen Tiere und diese mit seinen Kumpanen begaffend, gerade soviel Zeit, wie der Junge brauchte, um sich wieder aufzuraffen. Dann stürzte sich der Wurzelsepp erneut auf Idan.

„Meine Knöpfe! Meine Silberscheiben! Rück sie heraus! Sie gehören mir!“

„Herausrücken?“, rief Idan, mutiger geworden durch Silenas Gegenwart.

„Aber ich kann sie ja nicht aus meinem Rücken rücken, sie sind ja auf meinem Rücken, nicht in ihm!“ Durch solche Scherze glaubte Idan die Atmosphäre ein wenig aufzulockern. Er war überzeugt davon, dass sich das Missverständnis bald aufklären würde, jetzt, da Silena und ihre Familie anwesend waren. Doch leider war dem nicht so. Vielmehr hatte durch Idans Bemerkung der Wurzelsepp jede Beherrschung verloren und versetzte dem kleinen Idan einen solchen Fußtritt, dass er über den Kraterrand flog. Er war bloß froh, dass er sich zuvor satt gegessen hatte. Denn diesmal wusste er, welch lange Reise ihm bevorstand. Es braucht nicht nochmals geschildert zu werden, welche wundersamen Dinge dem kleinen Idan auf dieser Reise begegneten, denn er erlebte sie alle ein zweites Mal, nur diesmal in der umgekehrten Reihenfolge. Die roten Teufel, die ihn zuletzt nach oben hatten emporstreben sehen, sahen ihn nun aus seiner vermeintlichen Höhe fallen und machten vergrämte oder verächtliche Gesichter dazu, zogen Fratzen oder drückten ihre Verachtung durch das Herausspeien von Spucke aus. Leider aber traf ihn diese Spucke nicht, da sie ihm stets hinterher eilte und ihn nie einholte. Und so musste der kleine Idan wieder mindestens zwei Tage durstig sein. Manch einer der Teufelsburschen warf ihm auch einen Götzen aus gebranntem Ton hinterher, der genau die Züge Idans trug und ihnen nunmehr entthront dünkte. Nachdem der Junge den dunklen Hohlraum im Mittelpunkt der Erde passiert hatte, erwartete ihn ein besseres Schicksal. Die Teufel auf den Balustraden der anderen Höllenhälfte sahen den einst Gestürzten fliegen, huldigten ihm und schütteten Weihwasser aus. Da dieses ihm entgegenflog, so konnte er sich erfrischen und seinen Durst stillen. Die einstigen Spötter zollten ihm plötzlich Achtung. Die Nachricht vom Flug des göttlichen Jünglings verbreitete sich wie ein Lauffeuer, wahrscheinlich durch ein ausgeklügeltes Signalsystem. Und als Idan die oberen Stockwerke erreichte, präsentierten ihm die Kreaturen Götzenbilder, die ihm glichen, und verneigten sich vor ihm. In wenigen Stunden hatten die Teufel diese Figuren angefertigt. Wasserfontänen, die als eine besondere Form der Huldigung galten, trafen ihn von allen Seiten, sodass er nicht Durst litt.

Endlich hatte Idan den Schacht passiert und fiel in die freie Höhe hinauf, den Grund der Ganganjer-Schlucht hinter sich lassend. Er durfte nun hoffen, dass seine Reise ein glückliches Ende nehmen würde. Aber nirgends sah er seine Kameraden. Weder am Grunde der Ganganjer-Schlucht noch irgendwo an ihrer steilen Felsenwand waren sie anzutreffen. Idan strebte den Wolken entgegen. Dabei hatte er streng genommen nicht einmal die Erdoberfläche erreicht. Es dauerte noch einige Stunden, bis er am Rand der Schlucht angekommen war. Idan machte einen Purzelbaum nach vorn, um nicht in die Schlucht zurückzufallen, und überschlug sich im Gras. Dann raffte er sich auf und wanderte in den Komponischen Märchenwald zurück. Dort fand er alle Tiere versammelt in großer Trauer um seinen Verlust. Wie groß war da die Wiedersehensfreude! Erfinder-Äffchen hatte so manche Träne vergossen und alle Tiere des Waldes hatten ihm große Vorwürfe gemacht. Besonders die beiden Riesen hatten es hart getadelt. Sie waren untröstlich gewesen. Jetzt aber waren alle überglücklich. Als Erstes fragten sie ihn danach, ob er die Geweihspitzen der Hirschkuh mitgebracht habe. Als Idan verneinte, waren sie erst enttäuscht. Umso erfreuter zeigten sie sich aber, als er berichtete, dass Silena auf der anderen Seite der Erde in Glück und Frieden lebe. Sie fragten Idan, wo denn das sein könne. Aber dieser wusste es nicht zu sagen. Er zeigte ihnen aber die goldenen Knöpfe, die er aufgelesen hatte. Sie trugen unbekannte Ornamente. Aber auch Oler und der große Idan hatten als Schüler in Erdkunde nie so richtig aufgepasst und konnten nicht sagen, aus welchem Lande die goldenen Knöpfe stammten. Als der kleine Idan seinen Rucksack entleerte, fielen die silbernen Scheiben heraus. Und alle fragten, worum es sich dabei handle. Der kleine Idan konnte es nicht sagen. Aber die Riesen wussten Bescheid. „Das sind Ton erzeugende Scheiben“, sagte der große Idan. Wenn man sie mit dem Loch in der Mitte auf einen Stab setzt und sie zum Schwingen bringt, erzeugen sie Töne. Das wurde dann auch gemacht. Erfinder-Äffchen hatte in seinem Labor einen Stab, den es mithilfe einer Maschine drehen konnte. Und auf diesen Stab setzten sie die Scheiben. Da hörten sie die wunderbaren Lieder, die der Wind in dem Geweih Silenas gesungen hatte und alle Bewohner des Märchenwaldes waren mehr als genug entschädigt für den Verlust der sanften Hirschkuh.

„Jetzt möchte ich aber noch wissen, wie ihr es geschafft habt, von dem Felsenvorsprung aus wieder nach oben zu kommen“, sagte Idan zu Äffchen.

„Gewusst wie!“, erwiderte Äffchen stolz und reckte den Zeigefinger in die Höhe.

„Hast du die Zeit zurücklaufen lassen?“, fragte der kleine Idan.

„Nein, aber wir haben den beiden Riesenadlern, als sie in ihr Nest zurückkehrten und wir uns vor ihrem Angriff verteidigen mussten, die beiden Enden der Strickleiter mit den künstlichen Saugschrauben um die Hälse gelegt. Sie standen dabei so über ihrem Kopf, dass sie glaubten, echte Saugschrauben würden über ihnen davonfliegen. Und um sie zu erhaschen, jagten sie ihnen nach und nahmen die Strickleiter und uns, die wir daran hingen, mit nach oben.“

Da lachten alle und umarmten sich. Und sie durchlebten noch schöne Tage.

Die Bewohner von Plédos

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