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Die Donnerstadt

Der kleine Idan erwachte in einem durchlichteten Gebäude, dessen Wände aus metallenen Ranken bestanden. Der Abend dämmerte und ein rötlich glühender Feuerschein floss über den mit Holztafeln belegten Fußboden. Idan bemerkte, dass es ein erst kürzlich hergestellter Boden war, den die Kyruppen für ihre Gäste eigens bereitet hatten. Sie selber brauchten keinen solchen Boden. Man sah es daran, dass Holzscheiben in die Maschen eines starren Metallnetzes hineingetrieben worden waren. Erfinder-Äffchen und Kuno Weißhaar unterhielten sich mit einer Gruppe Kyruppen. Sie saßen um ein maschenartiges Metallgestell, das einem Tisch glich.

„Was ist eure Hauptbeschäftigung?“, fragte Erfinder-Äffchen gerade.

„Wir stellen Linsen her“, erwiderten die Kyruppen mit hohen singenden Stimmen.

„Und was macht ihr mit den Linsen?“

„Mit diesen Linsen brechen wir das Licht auf eine Weise, dass wir verschiedene Arten der Wirklichkeit sehen können, und zwar auch das, was unseren Augen normalerweise unsichtbar ist.“

„Was könnt ihr denn damit sehen?“, fragte Idan.

„Schau einmal selbst hindurch!“, forderte ihn Traula auf und hielt ihm eine Linse hin, die im Sonnenlicht die Farbe des Regenbogens spiegelte. „Du musst sie dicht vor das Auge halten“, sagte die Kyruppe. „Das andere Auge kneife am besten zu.“

Der kleine Idan folgte der Aufforderung und sah die ganze Umgebung von farbigem Licht durchflutet. Die Personen, die sich im Raum befanden, waren von einem farbigen Lichtkranz umgeben. Der Lichtkranz der Kyruppen war orange bis hellrot, der Lichtkranz von Äffchen gelbgrün und der von Kuno Weißhaar blau bis violett.

„Was hat das zu bedeuten?“, fragte Idan.

„Das ist eine Linse, die die Farben der Seele bricht“, erwiderte Traula. „Wenn wir sie als Brille tragen, erkennen wir, mit wem wir es zu tun haben.

„Und was bedeuten die Farben?“

„Rot ist die Farbe der Kraft, der Öffnung, des Anfangs, des festen Willens, des Zorns und der Leidenschaft. Ohne Rot gibt es keine Urkraft. Gelb ist die Farbe der Zündung und des durchdringenden Verstandes. Ohne Gelb gibt es keine Zeugung. Grün ist die Farbe der Gärung und Hoffnung. Ohne Grün gibt es kein Gedeihen. Blau ist die Farbe der Weisheit und der Geduld. Ohne Blau gibt es weder Ziel noch Ruhe. Violett ist die Farbe der Vollendung. Zwischen diesen Farben gibt es zahlreiche Zwischentöne und Schattierungen, die der einen oder anderen benachbarten Farbe zuneigen. Daneben gibt es auch noch unreine Farben in der Gestalt der vielen Braun- und Grautöne. Solche Farben entlarven eine verschattete Seele.“

„Aber ich dachte immer, dass es sieben verschiedene Grundfarben gibt“, sagte Erfinder-Äffchen, „und nicht nur fünf.“

„Wir unterscheiden fünf Grundfarben“, sagten die Kyruppen. „Alles andere ist in unseren Augen Willkür und entbehrlich.“

„Quatsch Grundfarben“, rief Kuno Weißhaar. „Es gibt viele Millionen Farben. Und jede Farbe ist anders und unvergleichlich! Jede hat ihre besondere Eigenschaft. Wenn wir Kunos einander Namen geben, dann schauen wir auf die Haarfarbe. Wir benennen jeden nach seiner Haarfarbe und schreiben ihm dadurch eine bestimmte Eigenschaft zu. Das ist meistens nicht gerecht. Besonders ich bin dabei schlecht weggekommen. Ausgerechnet weiß! Das ist ja überhaupt keine Farbe!“

„Wir kennen gar kein reines, ungetrübtes Weiß“, versetzte Gran.

„Wir auch nicht“, sagte der Kuno. „Aber wenn den Haaren die Pigmente fehlen, sind sie weiß. Und Kunohaare ohne Pigmente sind immer gleich weiß. Es ist eben das spezifische Weiß von Kunohaaren ohne Pigmente. Sie können in der Sonne ein wenig gilben, das ist aber schon alles! Und leider bin ich der einzige Kuno, dessen Haare keine Pigmente haben. Ich bin eben eine Missgeburt!“

„Bist du nicht“, sagte der kleine Idan. „Dein Lichtkranz ist blau.“

„Tatsächlich? Welches Blau? Gib mir die Linse!“

Idan reichte sie ihm. „Aber du kannst dich doch nicht selber sehen!“ wandte er ein.

„Meinst du wohl? Ich kann meinen Arm ausstrecken. Dann sehe ich mich!“ Das wollte er tun, aber der Arm war zu kurz. „Oder ich kann mich im Spiegel ansehen“, ergänzte er. „Habt ihr einen Spiegel?“, wandte er sich an die Kyruppen.

Goa reichte ihm aus einem Fach einen ovalen Handspiegel aus blankem Metall. Kuno Weißhaar blickte hinein und bewunderte seinen Strahlenkranz.

„Wunderbar!“ rief er aus. „Das ist Hyazinth-Awara! Eine ganz seltene Farbe! Kommt in der Natur nicht vor! Nur an lichtreflektierenden Metallflächen! Kuno Hyazinth-Awara müsste ich mich nennen! Könnt ihr mir die Herstellungsanleitung für diese Linse verraten? Ich werde in ganz Rüsselschwein solche Linsen herstellen lassen. Künftig sollen alle Kunos nur noch nach ihren Farbenkränzen benannt werden!“

„Leider ist die Herstellung dieser Linsen ein Geheimnis, das wir den Menschen nicht preisgeben“, erwiderte Goa.

„Den Menschen?“, fragte Idan. „Aber seid ihr keine Menschen? Ja, offenbar nicht! Aber wie kommt es dann, dass ihr wie Menschen denkt? Und wie kommt es eigentlich, dass ihr alle einen roten Farbkranz habt? Wozu braucht ihr die Linsen, wenn jeder von euch gleich aussieht?“

„Es sieht nicht jeder von uns gleich aus“, erwiderte Gran. „Wir können unsere Farbenkränze unterscheiden.“

„Aber sie sind alle rot“, warf Idan ein.

„Ja, aber die Farbe Rot hat viele Zwischentöne. Und wir sind auch keine Menschen. Menschen denken immer wieder um, sie wandeln tagtäglich ihre persönliche Wahrheit, rätseln an der Wahrheit herum und erreichen sie nie. Das tun wir Kyruppen nicht. Unsere Kultur ist seit Jahrtausenden dieselbe. Unser Leben ist ein gleichmäßiger Schritt. Wir leben in der Wahrheit und leben uns immer tiefer in sie ein. Und so entwickelt sich unsere Kultur ganz langsam, während die Menschen tagtäglich um die Wahrheit herumtanzen und immer neuen Unsinn aushecken. Es ist klar, dass für euch Menschen Rot Rot und Grün Grün ist, aber nicht für uns Kyruppen. Da gibt es die größte Vielfalt!“

„Ihr sprecht einem Kuno aus dem Herzen“, sagte Kuno Weißhaar. „Farben gibt es Millionen!“

„Und fünf Grundfarben“, sagte Goa.

„Sieben“, beharrte Äffchen. „Der Regenbogen hat sieben Farben.“

„Wir unterscheiden fünf“, sagte Traula.

„Kann man nicht sagen, dass alles aus einer Farbe geworden ist?“, fragte Idan. „Aus der einen Farbe sind dann zwei geworden, aus der Mischung dieser eine dritte und aus deren Mischung und Verdünnung viele, viele Zwischenfarben!“

„Welches soll denn die eine gewesen sein?“, fragte Traula mit sirrender Stimme.

„Ich glaube weiß“, erwiderte Idan. „Alles Weiße kann einen warmen oder einen kalten Ton enthalten. Der warme Ton ist gelblich. Wenn man Gelb weiter verdichtet, kommt man zu Rot. Der kalte Ton ist bläulich. Wenn man Blau und Gelb mischt, erhält man Grün, wenn man Blau und Rot mischt, Violett.“

„Womit wir fünf Grundfarben hätten“, flötete Traula befriedigt.

„Wenn man die Grundfarbe Weiß dazuzählt, sind es sechs“, versetzte der kleine Idan.

„Ist es wahr?“, rief Kuno Weißhaar. „Du betrachtest die Farbe meiner Haare als die Grundfarbe schlechthin? Ich, Kuno Weißhaar, vereinige in der Farbe meiner Haarpracht alle Millionen Farben der Kunos?“ Der Kuno jubelte förmlich.

„Ja“, sagte Idan verlegen.

„Wir rechnen Weiß nicht zu den Farben“, belehrte Traula. „Schwarz ist ja auch keine Farbe. Grundfarben gibt es nur fünf.“

„Sieben, wenn man Orange und Indigo hinzurechnet“, beharrte Äffchen.

„Gilt nicht, Orange ist ein verdünntes Rot oder verdichtetes Gelb“, warf Goa ein.

„Ebenso gut könnte man die Existenz der Farbe Rot als Grundfarbe abstreiten, weil sie ein verdichtetes Gelb ist“, entgegnete Äffchen. „Trotzdem erregt Rot einen völlig anderen Gefühlseindruck als Gelb, und es ist auch ein Unterschied, ob ich Gelb oder ob ich Rot mit Blau mische. Grün und Violett haben wenig miteinander gemein.“

„Richtig, aber mische mal Orange mit Blau“, erwiderte Traula, „da kommt nur dreckiges Braun heraus.“

„Jedenfalls unterscheiden wir sieben Farben im Regenbogen“, sagte Erfinder-Äffchen. „In der Mitte treffen sich in Grün das warme und kalte Spektrum. Nach außen hin verdichten sich die Spektren, das warme von Gelb zu Rot, das kalte von Blau nach Indigo und Violett.“

„Das ist eine reine Konstruktion“, erwiderten die Goldenen Drei.

„Mehr als eine Konstruktion“, erklärte Äffchen. „Die sieben Farben haben ihre Entsprechung in sieben Kristallen auf dem Insektenplaneten Pessian. Und dieser Planetenmond ist unser nächstes Ziel, wenn wir die erste Aufgabe erledigt haben, Nahrung für unser Haustier zu beschaffen.“

„Was hat es mit diesen sieben Kristallen auf Pessian auf sich?“, fragte Traula.

„Sie sind die Grundlage für ein Lebenselixier“, sagte Kuno Weißhaar. „Sonnenstrahlen, die zur gleichen Zeit durch alle sieben Kristalle fallen, müssen zu einem einzigen Strahl vereinigt werden. Wenn dann ein Mensch von diesem durchflutet wird, erhält er das ewige Leben. Das ist eine alte Kunoweisheit.“

„Du sprichst von den sieben Strahlen des Lebens!“, rief Traula erstaunt. „Dann sind also nach eurer Meinung die sieben Strahlen des Lebens Farbstrahlen und diese sieben Kristalle filtern sie heraus?“

„Es sind besondere Farbstrahlen“, sagte Weißhaar. „Es sind konzentrierte Farbstrahlen, die noch andere Eigenschaften des Lichtes enthalten. Alle diese Eigenschaften werden durch die Kristalle herausgefiltert. Und, wie gesagt, die Strahlen müssen gleichzeitig durch alle sieben Kristalle fallen, sich vereinigen und als ein Ganzer den Kandidaten treffen.“

„Und ihr seid sicher, dass sich diese sieben Kristalle auf Pessian befinden?“

„Ganz sicher!“, schnatterte Äffchen. „Das besagt die alte Plédo-Affen-Überlieferung. Und wir Plédo-Affen sind die intelligentesten Lebensformen auf Plédos.“

„Nimm den Mund nicht so voll!“, sirrte Goa empört.

„Und wie wollt ihr die sieben Kristalle von Pessian holen?“, fragte Traula. „Wie wollt ihr das denn bewerkstelligen?“

„Wir werden versuchen, ihn über den Turm von Gorkan zu erreichen“, sagte Kuno Weißhaar.

„Über den Turm von Gorkan? Aber der ist doch eine Legende! Und falls er früher einmal existiert haben sollte, so ist er vor Jahrtausenden zerstört worden.“

„Das ist er nicht. Die Bewohner von Gorkan haben ihn damals nur mit einer Chamäleonfarbe bestrichen. Weiß der Teufel, wie sie in den Besitz einer solchen Farbe gekommen sind! Aber der Turm existiert noch. Und wir werden ihn finden.“

„Und das wäre wieder eine Wissensfrage, in der wir euch Kyruppen voraus sind. Wir sind eben doch die Schlausten!“

„Sei du doch ruhig!“, zwitscherte Gran.

Äffchen schnitt eine Grimasse zurück.

„Wir würden selbst diese Aufgabe für euch erledigen“, sagte Traula. „Leider aber liegt Gorkan in Íoland, das von Menschen bevölkert ist. Und Kyruppen werden von Menschen nicht gerade willkommen geheißen. Darum müsst ihr es für uns tun. Aber versprecht uns, zu uns zurückzukehren, wenn ihr die Kristalle gefunden habt. Ihr müsst es wohl tun, denn wir sind die Einzigen, die eine Linse besitzen, die von verschiedenen Seiten kommende Sonnenstrahlen vereinigen kann.“

„Die Schwierigkeit besteht hauptsächlich darin, dass es beinahe unmöglich ist, dass Sonnenstrahlen gleichzeitig von verschiedenen Seiten durch alle sieben Kristalle fallen“, sagte Kuno Weißhaar.

Aber Äffchen legte den Zeigefinger an den Mund und machte ein leises „Pssst“. Es ahnte nämlich, dass die Kyruppen sie nicht würden gehen lassen, wenn sie ihnen die Hoffnung auf das Lebenselixier nahmen.

Am Nachmittag nahmen die Kyruppenköniginnen Idan und seine Gefährten auf einen Streifzug durch die Stadt mit. Sie wurden von einer Eskorte gewöhnlicher Kyruppen, die als Diener fungierten, begleitet.

Alle Kyruppen, die den Goldenen Drei auf der Straße begegneten, grüßten sie mit einem hohen, sirrenden, ehrfürchtig klingenden Gesang und tanzten einige Male um sie herum. Auch die kleinen Kyrüppchen, kaum dem Säuglingsalter entwachsen, denen man kaum zutraute, reden zu können, vollführten mit heller Stimme flötend unbeholfene Tänze um die Goldenen Drei. Idan bemerkte, dass viele Kyruppen sich auf einem merkwürdigen Rollbrett fortbewegten, auf dem sie mit ihrem mittleren Bein standen, während sie sich mit den seitlichen Beinen abstießen. Sie erreichten hierbei hohe Geschwindigkeiten. Auch die Vorüberrasenden verlangsamten ihre Fahrt und huldigten den Königinnen. Übrigens waren alle Kyruppen bis auf die Goldenen Drei blass silbern bis bläulich und allenfalls bräunlich gefärbt. Keine von ihnen erreichte das Gold der Königinnen. Und alle waren von großer Ehrfurcht erfüllt, als die Eskorte vorüberschritt.

„Was machen sie da?“, fragte der kleine Idan.

„Sie erweisen uns die gebührende Ehre“, erwiderte Traula.

„Gebührende Ehre – warum?“

„Weil wir hier die Königinnen sind. In anderen Ländern gibt es einzelne Könige. Das halten wir für Unsinn! Königtum lässt sich nur in verschiedenen Personen praktizieren, nicht in einer einzigen.“

„Ich frage mich aber, ob es überhaupt nötig ist, einen König oder mehrere Könige oder Königinnen zu haben“, versetzte Idan.

„Wie meinst du das?“, fragte Goa ein wenig barsch.

„Ich meine das so: Könige regieren zwar, aber am Ende müssen sich ja auch die Könige nach einem Gesetz richten, das die Mehrheit des Volkes sich ausgedacht hat. Und ob dieses Gesetz richtig ist, das ist die Frage! Nehmen wir doch zum Beispiel den Schlangenmenschenkönig Schlankerli. Der wollte uns töten lassen. Und das begründete er so: „Diese drei Sslawiner müssen hingerisstet werden! Ssappelqualen sind vorgesehen für sie! Den jungen Burssen hätte iss ssonen lassen, aber das Gesetss sieht es nisst vor! Ssöne Sseiße! Sseiß Gesetss!“ Dabei wusste der kleine Idan die Lispelstimmen der Schlangenmenschen so trefflich nachzuahmen, dass den Kyruppen vor Lachen die Tränen in die Augen traten.

„Wer soviel Witz hat wie ihr, dem sind wir auch etwas schuldig“, sagte Traula später. „Ihr dürft euch einige Linsen nehmen, mit deren Hilfe ihr in der Lage sein werdet, zu beurteilen, wer euch böse oder gut gesonnen ist. Aber die eine große Linse, die die Lichtstrahlen der sieben Kristalle bündeln und vereinigen kann, wird euch noch vorenthalten bleiben. Die werdet ihr dann erhalten, wenn ihr die sieben Kristalle gefunden habt und hierher zurückkehrt!“

Äffchen schwieg und Kuno Weißhaar nickte den Goldenen Drei dankbar zu, denn er wollte die Kyruppen im Hinblick auf ihr großzügiges Angebot nicht verstimmen. Aber der kleine Idan war noch immer nicht zufrieden.

„Ihr habt noch nicht die Frage beantwortet, warum Königinnen und Könige notwendig sind“, sagte er.

„Sie sind notwendig, weil die Geschöpfe unvollkommen sind und jemanden brauchen, zu dem sie aufblicken können“, erwiderte Gran. „Geschöpfe können eben alles nur in gebrochenem Zustand wahrnehmen, haben daher über alles eine unterschiedliche Meinung und brauchen daher jemanden, zu dem sie aufblicken können und der für sie Einheit und Gesetz repräsentiert.“

„Würde es aber nicht genügen, wenn sie alle zu Gott aufblicken würden?“, fragte Idan.

Traula stieß ein sirrendes Lachen aus. „Gott? Gott ist ein wenig zu groß für sie! Sie können ihn nicht hören, sie können ihn nicht begreifen! Darum müssen Klügere, als sie es sind, an seiner Stelle den göttlichen Willen verkünden.“

„Aber woher wissen die Geschöpfe denn, ob diese Leute wirklich so viel klüger sind als sie?“

„Das ist eine Frage der Wissenschaft“, antwortete Goa. „Man kann eben nachprüfen, was ein Klügerer sagt. Wenn es richtig ist, vertraut man ihm.“

„Aber es könnte auch etwas sein, was alle anderen glauben zu kennen“, versetzte der kleine Idan. „Und es könnte sein, dass diese angeblich Klügeren nur deshalb gewählt und anerkannt werden, weil sie genau das sagen, was die anderen hören wollen.“

Kuno Weißhaar stieß einen leisen Zischlaut aus und gab Idan durch Handzeichen zu verstehen, dass er die Kyruppen nicht verärgern solle. Er wünschte nicht, die vielen versprochenen Linsen aufs Spiel zu setzen. Aber der kleine Idan ließ sich nicht von seiner Frage abbringen.

„Könnte es nicht sein, dass unvollkommene Geschöpfe genau solche Könige bekommen, die zu ihnen passen?“

„Wir werden nicht gewählt“, verteidigte sich Traula. „Demokratie funktioniert nicht. Das Volk kann nicht lehren, es muss belehrt werden. Und darum sind wir da. Die Nachfolge erfolgt durch Erbrecht. Zu diesem Zwecke paart sich jede Königin einmal im Leben mit einem der klügsten und kräftigsten Kyruppenmänner unserer Wahl. Wir kennen natürlich genau die Bedingungen, unter denen ein Mädchen gezeugt werden wird, und richten uns streng nach denselben. Selbst wenn das einmal schief gehen sollte und ein Junge geboren wird, ist das nicht weiter schlimm, und wir werden es auf eine weitere Paarung ankommen lassen. Die als Nebenprodukte erzeugten Jungen werden freilich eine besondere Erziehung am königlichen Hof genießen und später in ausgezeichnete Ämter eingesetzt.“

„Wie kommt es, dass ihr so versessen auf Petersilie seid?“, fragte der kleine Idan weiter.

„Wir sind nicht versessen auf Petersilie“, erwiderte Traula entrüstet. „Nie kämen wir auf den Gedanken, sie zu verspeisen. Vielmehr ist es der überaus wundersame Geruch dieser Pflanze, der uns zu Kunst und Wissenschaft inspiriert. Aber dafür seid ihr Menschen gänzlich unzugänglich.“ Weiter sagte die Königin nichts, und sie sprachen während des ganzen Spazierganges kein Wort mehr.

Nach weiteren drei Tagen erhielten die Reisenden Bescheid, dass sie nun genug der Ehre erfahren hatten und wieder abreisen müssten. Als Abschiedsgeschenk erhielten sie eine einzige Linse, die ihnen die seelische Verfassung möglicher Feinde sichtbar machen sollte. Diese Linse, so meinte Traula, sollte ausreichend sein.

„Wer zu viel fragt, kriegt wenig“, fügte sie hinzu. „Nur der Bescheidene wird belohnt.“

Mithilfe der Kyruppen erreichten sie in wenigen Tagen den Löwensee. Dessen Ufer waren von Korkenzieherpalmen bewachsen. Das waren Palmen, deren Blätterkronen sich wie Korkenzieher nach oben wanden. An seinem Schaft war dieses Gewinde von einem breiten Kragen aus Palmblättern begrenzt. Hier wuchsen exotische Nüsse. Äffchen holte für die Freunde einige davon herunter.

Der Löwensee wurde auch das Löwenmeer genannt, weil er so groß wie ein Meer war. Freilich war es ein Süßwassermeer. Mit bloßem Auge konnte man weder Länge noch Breite abschätzen. Es war das einzige Binnenmeer der sieben Kontinente. Nur in Íoland gab es eine Reihe größerer Seen, die aber weit davon entfernt waren, die Größe des Löwensees zu erreichen.

Am Ufer des Löwensees trafen sich zahlreiche Löwenfamilien, aber auch anderer Tiere. Es gab rote, goldene, orange, hellgelbe und silberne Löwen von unterschiedlicher Größe. Auch Herden großer, gehörnter Büffel und Rudel von Wölfen und Bären konnten der kleine Idan und seine Gefährten beobachten. Sie versammelten sich friedlich, um zu trinken. Keiner tat dem anderen etwas zuleide.

Die Kyruppen begleiteten die Freunde noch weiter nach Osten, bis in die Gegend, in der das vordere Ufer des Löwensees endete. Von da an ging es geradeaus. Da der See ein Dreieck bildete, das sich nach Norden verjüngte, wäre es nicht von Vorteil gewesen, das Ufer weiter entlang zu wandern. Das hätte nur einen Umweg bedeutet. Allerdings versäumten sie nicht, sich einen gehörigen Vorrat an Trinkwasser mitzunehmen. Die Gegenden, durch die sie kamen, waren fast paradiesisch zu nennen. Hier gab es verschiedene Halbaffenarten, die lustige Kunststückchen vollführten und sich mit Nüssen bewarfen. Von Erfinder-Äffchen wurden sie verächtlich als „Halbaffenfritzen“ und „Gesindel, das nur Unsinn im Kopf hat“ bezeichnet. So zogen sie weiter und gelangten unbehelligt zur Nordküste.

Die Bewohner von Plédos

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