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Sechs

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Als sie aufwachte, war es bereits nach sieben. Das Zimmer hatte sich endlich erwärmt und die Geister der Nacht waren auf- und davongeflogen. Schwungvoll stieß sie die Läden des Giebelfensters auf, um frische Luft hereinzulassen, auch wenn diese eiskalt war. Es war noch dunkel draußen. In der Nacht hatte es wieder geschneit und der Schnee schluckte die Geräusche der Stadt.

Clara drückte die Knie an die heiße Heizung und genoss den Blick von der Straßenseite des Hauses über Baden-Baden. Der Mond sorgte dafür, dass sie die Umrisse der Hügel klar erkennen konnte, die die Stadt umrahmten. Unter sich konnte sie den trutzigen Turm des Markgraf-Ludwig-Gymnasiums ausmachen, in dem sie zur Schule gegangen war, sowie die langgestreckte Zipfelmütze der Stiftskirche und dahinter erkannte sie die angestrahlten Säulen des Spielkasinos. Straßenlampen, Scheinwerfer, Bremslichter und Ampeln garnierten das Bild wie willkürlich verstreutes Konfetti und gegenüber auf dem Florentinerberg war das so genannte Neue Schloss verhüllt wie eine Skulptur von Christo. Laut Claras letztem Wissensstand hatte eine reiche Familie aus Kuwait den ehemaligen Sitz der Markgrafen von Baden gekauft und wollte ihn in ein Luxushotel umwandeln. Das gigantische, hell schimmernde Zelt sollte die sensiblen Arbeiten am Dachstuhl des Gebäudes schützen.

Clara runzelte die Stirn. Was ging sie der Klatsch der Stadt an! Sie hatte mit Baden-Baden nichts mehr zu tun und würde, sobald hier alles geregelt war, wieder nach Hause fahren.

Nach Hause? Wie gestern grub sich eine unsichtbare Faust in ihren Magen. Sie hatte kein Zuhause mehr. Ob Jan und Britta in diesem Augenblick den Hightech-Espressovollautomaten angeworfen hatten? Oder waren sie im Whirlpool oder gar noch im Bett? Bloß nicht darüber nachdenken! Spätestens in einer Woche würde Jan ihre gemeinsamen Gespräche vermissen, ihre Kochkunst und überhaupt alles, was ihnen zusammen Spaß gemacht hatte. Britta konnte noch nicht einmal eine Salatsoße anmachen und über kaum etwas anderes als über Sport und unverständliche Musikrichtungen reden – zumindest war das während der wenigen Gelegenheiten so gewesen, bei denen sie in den letzten Jahren aufeinandergetroffen waren. Das würde ihm schnell langweilig werden. Ja, bestimmt würde er in einer Woche hier vor der Tür stehen. Spätestens. Aber sie würde sich nicht umstimmen lassen. Es war aus, und sie würde ihn nicht zurücknehmen. Selbst wenn er darum betteln würde ...

Ach was – Träume waren das! Die Jugend hatte wieder einmal gewonnen. So war das eben. Das musste sie akzeptieren, basta.

Sie schloss das Fenster, zog sich schnell an und unterstützte dann ihren Vater beim Aufstehen. Wie dünn und leicht er war! Nur Haut und Knochen. Es war ihm anzumerken, wie unangenehm es ihm war, sich helfen lassen zu müssen, wie er jedoch gleichzeitig unendlich dankbar war, dass jemand hier war und ihn versorgte. Als sie ihn auf die Beine zog und ihm die Krücken reichte, stöhnte er leise, weigerte sich aber zuzugeben, dass er Schmerzen hatte.

Liebevoll brachte sie ihn ins Bad und wartete ein wenig ungeduldig, bis er signalisierte, allein zurechtzukommen. Dann hastete sie auf Zehenspitzen zur Spiegelkommode im Elternschlafzimmer, auf der wie eh und je das Schmuckkästchen stand. Es war mit dunkelrotem Leder bezogen und hatte die Größe einer Schuhschachtel. Ihr schlechtes Gewissen schlug laut, als sie die Hand ausstreckte. Von klein auf war es ihr strikt untersagt gewesen, diesen Gegenstand zu berühren, nachdem ihre Mutter sie einmal ertappt hatte, wie sie das Märchen von Ali Baba und den vierzig Räubern nachgespielt und den gesamten Schatz im Kinderzimmer unter einem Berg von Kissen vergraben hatte. Dies war das einzige Mal gewesen, dass ihre Mutter eine gewisse Gefühlsregung gezeigt hatte: Sie hatte ihr eine Ohrfeige gegeben und sie ohne Abendessen ins Kinderzimmer gesperrt.

Clara hatte ihre Mutter, eine geborene von Hohenstein, stets glühend um die wundervoll schimmernden und glänzenden Stücke beneidet, die sich seit Generationen in Familienhand befanden und die sie schon als junges Mädchen von ihrer Großmutter geerbt hatte: antik ziselierte Ringe, filigrane Granatbroschen, dicke Perlenketten, Edelsteinarmbänder, mit Brillanten und Saphiren besetzte Ohrringe ... Ihre Mutter hatte sich immer geweigert, die Stücke in einen Safe zu geben.

»Ich brauche sie zu oft«, hatte sie das Thema schroff beendet, als Paps es einmal in Claras Beisein angeschnitten hatte, und es stimmte auch: Sie trug zu jeder Tageszeit Schmuck, selbst zur Gartenarbeit. Manchmal wechselte sie ihn zweimal am Tag, je nachdem, was ihr gerade durch den Kopf ging oder ob Gäste kamen, Reporter vorbeischauten oder Besucher den Garten besichtigen wollten. Nur die dünne, silberne Halskette mit dem kleinen Schlüssel hatte sie niemals abgelegt, selbst nachts nicht.

Hier war sie nun, die Kassette, direkt vor ihr. Wie still es plötzlich war! Wenn sie sich anstrengte, konnte sie im Bad leises Plätschern vernehmen und das entfernte Rumpeln der Heizungsanlage im Keller. Der Wecker auf dem Nachttisch tickte hingegen unerträglich laut; es klang wie: »Tu’s nicht. Tu’s nicht ...« Draußen fuhr ein Auto vor, der Motor klang dumpf, Reifen knirschten auf einem Stück Harsch. Eine Wagentür klappte, dann hörte sie das Schrappen eines Schneeschiebers.

Das Herz klopfte Clara bis zum Hals. Sollte sie wirklich nachsehen? Es würde leider nicht ausreichen, die Schatulle einfach ungeöffnet hochzuheben, um anhand des Gewichts zu prüfen, ob sie noch voll war, denn unter dem Lederbezug verbarg sich schweres Metall.

Ging es sie überhaupt etwas an, ob der Schmuck noch da war? Doch! Sie musste wissen, ob sie diesem Gregor trauen konnte. Einen besseren Beweis würde sie nicht finden. Trotzdem kam sie sich wie eine Diebin vor, als sie den Deckel endlich zaghaft berührte.

In dem Moment pochte ihr Vater mit der Krücke gegen die Badezimmertür. »Ich bin fertig, Bella, kommst du bitte?«

Ihre Finger zuckten zurück, als hätte sie sich verbrannt. Es war ein Omen, dass Vater sich ausgerechnet jetzt bemerkbar machte, es war nicht der richtige Zeitpunkt, nicht jetzt. Heute Abend vielleicht.

Aberglaube! Sie sollte aufhören, an solche Zeichen zu glauben. Sie würde die Kassette öffnen, sich den Schmuck ansehen und den Deckel wieder schließen. Bastal

»Bella?«

»Ich komme!«

Fast schon im Weggehen zuckten ihre Finger zum Deckel und schnalzten ihn hoch. Ungläubig zwinkerte sie, dann zwang sie sich, erneut hinzusehen.

Beim Frühstück nahm sie all ihren Mut zusammen.

»Wo ist eigentlich Mutters Schmuck?«, fragte sie möglichst beiläufig, während sie ihrem Vater Kräutertee eingoss.

Er lächelte hilflos. »Wie meinst du das?«

»Die Kassette ist leer.«

»Hast du nachgesehen? Hm. Vielleicht hat sie ihn irgendwo verwahrt.«

»Weißt du, ob sie ein Bankschließfach gemietet hat?«

»Ach Kind, ich habe mich seit meinem ersten Herzinfarkt gar nicht mehr um finanzielle Dinge gekümmert, muss ich gestehen. Damals hat deine Mutter wochenlang alles allein erledigen müssen und danach hat sie stillschweigend weitergemacht. Ich war ihr sehr dankbar dafür. Früher war es einfacher, Geld zu verwalten. Da konnte man es aufs Sparbuch legen und wusste, es brachte Zinsen. Heute muss man sich mit Aktien, Obligationen, Festgeld, Anleihen, Schuldverschreibungen, Rentenfonds, Wertpapieren und Kurswechseln auskennen und dann auch noch Steuerersparnisse ausloten. Das ist nichts mehr für einen alten Mann, der nur noch seine Ruhe haben will.«

»Paps, mach dich nicht älter, als du bist!«

»Alt werden beginnt damit, freiwillig Verantwortung abzugeben und sich bewusst dafür zu entscheiden, gewisse Dinge nicht mehr lernen zu wollen. So gesehen müsste ich hunderteins sein!«

»Papperlapapp. Du bist vielleicht körperlich schwach, aber um deinen Verstand kann dich jeder beneiden. Weißt du noch, wie wir früher um die Wette Gedichte aufgesagt haben? Wenn wir damit anfangen würden, wären wir heute Mittag noch nicht fertig, und du würdest haushoch gewinnen. Genau wie im Schach.«

»Ja, ja. Die Freuden eines alten Mannes. Die machen dieses Haus aber nicht warm oder bringen den Schmuck zurück. Wo könnte er nur sein? Kannst du deine Mutter nicht einfach fragen, wenn du nachher in der Klinik bist?«

Clara merkte, wie sie rot wurde. Niemals könnte sie ihrer Mutter erklären, dass und warum sie nachgesehen hatte. Es würde wieder Streit geben und das wollte sie nicht. Fieberhaft suchte sie nach einem anderen Thema, aber ihr fiel nichts ein. Sie sehnte sich nach dem gewohnten Tageshoroskop.

»Habt Ihr die Zeitung noch abonniert?«

»Normalerweise bringt Gregor sie morgens mit herein, wenn er mit Brötchen kommt und mit mir frühstückt. Schade, dass er heute nicht hier ist. Meinst du, du könntest noch einmal mit ihm reden? Du findest ihn im Antiquariat.«

Clara durchfuhr es eiskalt. »Wo?«

»Im Antiquariat Morlock.«

»Du meinst ...« Clara brauchte eine Sekunde, um zu begreifen: »Er ist Helmuts Sohn?«

»Wusstest du das nicht? Ich dachte, das sei der Grund gewesen, warum du gestern so heftig geworden bist. Ich weiß ja, wie du damals gelitten hast.«

»Das ist Jahrzehnte her und Helmut ist tot. Ein Unfall, nicht wahr?«

»Ja. Frühmorgens auf der Schwarzwaldhochstraße. Wahrscheinlich war er zu schnell gewesen oder ...«

»Zu schnell! Typisch. Genau so war er. Verdammt.«

»Siehst du, es nimmt dich immer noch mit. Entschuldige bitte, ich hätte nicht davon anfangen sollen.« Ihr Vater legte seine Hand mit den steifen knotigen Fingern leicht auf ihren Arm und streichelte sie unbeholfen.

Clara ließ ihn gewähren. Sie spürte in sich hinein und fand – nichts. Keine Trauer, kein Mitleid, keine Genugtuung, nur gleichgültige Leere, und das erschreckte sie mehr als alles andere. »Ich gebe zu, der Schluss war nicht gerade prickelnd, aber es ist vorbei, schon so lange.«

»Armes Kind!«

Sie versuchte ein Lächeln. Hoffentlich fragte er jetzt nicht nach Jan. Das würde sie nicht aushalten. Deshalb stand sie schnell auf. »Ich seh nach, wo die Zeitung ist.«

In der Halle war es immer noch eisig, obwohl sie vorhin den Heizkörper bis zum Anschlag aufgedreht hatte. Sie fasste ihn an, er war immer noch kalt. Hatte ihn jemand aus Sparsamkeitsgründen abgeklemmt?

Darum würde sie sich später kümmern. Sie zog ihren ebenfalls kalten Mantel über und schloss die Haustür auf, um zum Briefkasten am Gartentor zu laufen, doch auf der Fußmatte lag eine Tüte mit Brötchen, darunter die Zeitung. Der Weg zur Straße war geräumt, der Gehsteig vor dem Eisenzaun ebenfalls. Dieser Gregor wurde ihr allmählich unheimlich. Warum tat er das? Was verband ihn mit ihren Eltern? Konnte ein Sohn Helmuts überhaupt ein anständiger Mensch sein?

Clara hielt ihr Gesicht der kalten Sonnenscheibe entgegen, die gerade in der Senke zwischen Merkur und Staufenberg aufging, und entließ mit einem kleinen Seufzer ein Dampfwölkchen in die eisige Luft. Es war nie gut, in die Vergangenheit zurückzukehren. So viele Wunden. So viele unvollendete Geschichten. Die mit Helmut würde sie nie mehr abschließen können. Dabei wäre sie stolz gewesen, ihm ihre Bücher zu zeigen, all seinen Unkenrufen zum Trotz! Seine Bemerkung hatte damals den Ausschlag gegeben, dass sie unter einem Pseudonym schrieb. Aber eines Tages hatte sie in seinen Laden zurückkehren wollen wie in Dürrenmatts »Besuch der alten Dame«.

Auf dem Weg zur Bibliothek blätterte sie das Lokalblatt durch, aber sie fand kein Horoskop. Fast kam sie sich vor, als sei sie nun schutzlos dem Tag ausgeliefert, und sie musste über sich selbst lachen. Vor Jahren hatte sie angefangen, Horoskope zu lesen, und nun war es ihr so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie sich schon komisch fühlte, wenn ihr ein einziges Mal keines den Weg durch den Tag wies? Eigentlich war das lächerlich.

Aber es musste sein.

Da das Haus über keinen Internetanschluss verfügte und sie kein Analog-Modem besaß, würde sie sich gedulden müssen, bis sie in der Stadt oder in der Klinik war und eine andere Zeitung kaufen konnte. Plötzlich konnte es ihr gar nicht schnell genug gehen, ihren Vater in eine gemütliche Position auf dem Sofa zu verfrachten und loszufahren.

Der bequemere Weg ist nicht immer der bessere. Heute neigen Sie dazu, sich wie ein anlehnungsbedürftiges Kind zu benehmen oder sich zumindest so zu fühlen. Genießen Sie es, umsorgt zu werden! Falls niemand Geeigneter zur Stelle ist, sollten Sie jedoch selbst dafür sorgen, dass Sie sich rundherum wohlfühlen.

So war es schon besser. Clara saß auf der Holzbank vor der Intensivstation und versuchte sich zu entspannen. Es war zwar nicht das Horoskop aus der gewohnten Münchner Zeitung, aber besser als nichts. Trotzdem war sie weit davon entfernt, etwas zu genießen oder sich wohlzufühlen. Sie musste wieder einmal warten, diesmal auf einen Arzt, ohne den man sie nicht zu ihrer Mutter vorlassen wollte. Die Zeitung hatte sie schon durch, aber immer noch tat sich nichts.

Um sich abzulenken, begann Clara, im Geiste das Mittagessen zusammenzustellen. Es würde etwas Leichtes geben. Hähnchenbrust vielleicht. Dazu Champignons und Reis. Paps brauchte mittags etwas Warmes. Und für abends Brot und mageren Schinken.

Immer noch nichts. Nur ihr Magen begann zu rumoren.

Weitere zehn Minuten waren vergangen, seitdem sie zum vierten oder fünften Mal an der Stationstür geklingelt hatte. Diesmal war der Pfleger ziemlich pampig gewesen. Beim nächsten Mal würde er wahrscheinlich gar nicht mehr zur Tür kommen. Wozu brauchte sie überhaupt einen Arzt, wenn sie einfach nur still ans Bett ihrer Mutter huschen wollte? Hatte es Komplikationen gegeben?

Endlich öffnete sich die Tür. Diesmal näherte sich eine Göttin in Weiß, schwarzhaarig, jung, frisch, fröhliches Gesicht. Clara fiel ein Stein vom Herzen. Jemand, der so zuversichtlich aussah, würde keine schlechten Nachrichten überbringen, also musste es ihrer Mutter bessergehen. Bestimmt war der gestrige Anfall längst vergessen, auskuriert, und sie schlief einfach nur, deshalb durfte niemand zu ihr. Wenn es die Ärztin bis zur Bank schaffte, ohne auf die Linoleumfuge zu treten, dann war alles gut.

Gespannt starrte Clara auf den Boden. Direkt vor ihr zerquetschte der weiße Schuh all ihre Hoffnungen und sie sackte ein Stück in sich zusammen. Was, wenn ihre Mutter tot war? Wie sollte sie das ihrem Vater beibringen? Sechsundfünfzig Jahre waren sie nun schon fast auf den Tag genau verheiratet. Selbst wenn es keine besonders glückliche Ehe gewesen war – wie sollte ein Einundneunzigj ähriger ohne seine Lebensbegleiterin existieren? Und wo?

Der zweite Schuh stellte sich neben den ersten. Birkenstock. Der Kittel der Frau war weiß wie ein Hochzeitskleid. Ihre Augen aufmerksam und klar, stahlblau, kein Mitleid. Das war schon mal gut.

Clara erhob sich halb, doch die Ärztin machte eine Handbewegung und setzte sich zu ihr.

»Sie sind die Tochter von Frau Funke?«

Clara nickte und versuchte, etwas herunterzuschlucken, das ihren Hals wie ein trockenes Papiertaschentuch verstopfte.

»Sie können heute nicht zu ihr. Sie braucht Ruhe. Wir haben sie gestern intubiert und in ein künstliches Koma versetzt.«

Clara nickte wieder. Etwas anderes fiel ihr nicht ein.

»Kommt sie durch?«, hörte sie sich mit fremder Reibeisenstimme fragen.

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter, schwer wie Beton. »Wir wissen es nicht. Wir können nur hoffen. Und selbst wenn – sie würde ein Pflegefall sein.«

Dieser Kloß im Hals drohte, sie zu ersticken. Sie räusperte sich, aber es half nichts.

Der Druck auf ihre Schulter verstärkte sich. »Morgen können Sie zu ihr. Reden Sie mit ihr. Es ist wissenschaftlich nicht bewiesen, aber wir glauben, dass Komapatienten hören, wenn man mit ihnen spricht. Es wird Ihrer Mutter guttun. Es tut mir leid.«

Clara versuchte, sich gerade zu halten, als die Ärztin ihre Hand wegnahm und aufstand.

»Wollen Sie beten? Die Kapelle befindet sich am Ende des Gangs im zweiten Stockwerk«, hörte sie noch, dann lehnte sie ihren Kopf zurück an die Wand und schloss die Augen.

Künstliches Koma, intubiert, wirbelte es in ihrem Kopf. Beten? In einer Kapelle? Seit ihrer Kindheit hatte sie nicht mehr gebetet. Es hatte ja doch nicht geholfen. Aber unwillkürlich glitten die Finger ineinander, und wenigstens ein inständiges »Bitte« gestattete sie sich. Dann stand sie auf und ging langsam den Gang entlang zum Aufzug. »Hähnchen, Champignons, Schinken, Brot«, murmelte sie sinnlos vor sich hin, nur um ihre Gefühle irgendwie im Zaum zu halten. Sie hatte Angst vor dem Sturm, der sie überfallen könnte, wenn sie sich ihren Erinnerungen an vergebliche Hoffnungen, an kindliche Sehnsucht nach Liebe, an Einsamkeit und Trotz hingeben würde.

»Hähnchen, Champignons, Schinken, Brot«, murmelte sie immer noch, als sie ihr Auto fast erreicht hatte. Die Vormittagssonne hatte mittlerweile eine hellgelbe Farbe angenommen und leckte an den Schneebergen am Rand des inzwischen geräumten Parkplatzes. Ihr rechter Fuß versank in einer Pfütze und sie humpelte die letzten Meter zum Auto. Nasse Kälte biss sich in ihren Zehen fest. Sie zog den Schuh aus, versuchte, den Strumpf auszuwringen, ohne ihn auszuziehen, und setzte sich auf den Fahrersitz. Dann starrte sie hinaus, ohne den Motor anzulassen.

Falls niemand Geeigneter zur Stelle ist, sollten Sie jedoch selbst dafür sorgen, dass Sie sich rundherum wohlfühlen.

Eine schwarze Katze jagte über den Platz, von links nach rechts.

Manchmal waren Horoskope zum Kotzen.

Das Kalte Haus

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