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Fünf

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Die Straßen waren immer noch mit einer dicken Schneeschicht bedeckt, obwohl es bereits früher Nachmittag war. Clara blies angestrengt die Wangen auf, als sie die Steigung in Richtung Merkurberg hochzockelte und der Wagen kurz wegrutschte. Die Reifen würden nur noch diesen Winter überdauern, hatte man ihr in der Werkstatt gesagt, und das auch nur mit viel gutem Willen. Dass der Kombi überladen war, machte es nicht einfacher. Ein paar Mal fürchtete sie schon, ihn stehen lassen zu müssen, aber dann ging es doch irgendwie weiter.

Vor der Villa war wenigstens eine Spur geräumt, weil die Stadtbusse dort verkehrten. Nahe dem elterlichen Grundstück parkte ein himmelblauer 2CV, und wie ein Blitz schössen Erinnerungen in ihr hoch. Wurden diese Autos wieder gebaut oder war dies das alte Modell, nur aufpoliert? »Enten« waren schon Kult gewesen, als sie noch Teenager gewesen war. Helmuts Exemplar war langweilig beigefarben gewesen, aber sie sah ihn wieder vor sich, wie er ihr vorführen wollte, dass eine Ente niemals umkippen kann, egal, wie eng oder schnell man sich auch in die Kurve legte. Er hatte Gas gegeben und wie wild gelacht, und sie hatte geschrien und sich an einer Handschlaufe festgeklammert und dann ebenfalls gelacht und mit ihm zusammen in einen Song im Radio eingestimmt. »San Francisco« von Scott McKenzie? Auf jeden Fall etwas aus der Flower-Power-Hippie-Ära.

Im Nu war alles wieder präsent. Clara war versucht, noch ein paar zusätzliche Minuten in den besseren alten Zeiten zu schwelgen, doch ihre Erschöpfung war einfach zu groß. Erinnerungen brachten einem außerdem keineswegs die Jugend zurück, im Gegenteil! Wachte man auf, fühlte man sich noch älter, als man tatsächlich war. Was für Gedanken! Und alles nur wegen eines alten Autos. Wem es wohl gehörte? Einem neuen Nachbarn? Einem chaotischen Lebenskünstler, für den es Ausdruck seiner kreativen Sorglosigkeit war? Himmelblau passte dazu übrigens viel besser als beige.

Ehe nun auch noch all die weniger romantischen Szenen hochkommen konnten, parkte Clara lieber vor dem hohen schmiedeeisernen Tor und stieg aus. Der Gehsteig entlang des Grundstücks war geräumt, sogar der Gartenweg und die Treppe zur alten, rosafarbenen Villa waren schneefrei. Die grünen Fensterläden waren zurückgeklappt, Rauch stieg aus dem Kamin und automatisch machte ihr Herz einen kleinen Satz, als sie das massive Gartentor mit der Schulter aufdrückte. Das war fast wie Weihnachten vor vielen, vielen Jahren. Mit Tannenbaum, Geschenken, den köstlichen Bäckereien ihres Vaters, mit Weihnachtsliedern, die er am Flügel anstimmte ... ach, schön war das gewesen. Es war das Jahr gewesen, in dem ihre Mutter über die Feiertage Gärten in Südafrika besichtigt hatte.

Clara kämpfte sich mit ihrem Koffer die Anhöhe hinauf. Die Villa ihrer Eltern stammte aus dem Beginn des letzten Jahrhunderts und erinnerte mit ihren Säulen, Baikonen, Vorsprüngen und Klappläden an die prächtigen, leicht verlotterten Villen entlang der norditalienischen Seen, die sie in den Bildbänden ihres Vaters bestaunt hatte. Schon längst hätte ein neuer Anstrich notgetan, auch an den Läden blätterte die Farbe ab. Aber so etwas war ihrer Mutter ja nie wichtig gewesen. Hauptsache, ihre Rosen hatten genügend Licht und Wasser.

Der Vorgarten wirkte auf Clara nicht ganz so düster, wie sie ihn sich im Winter vorgestellt hatte. Natürlich drückten die beiden mächtigen Schwarzkiefern links und rechts des Hauses und die langweiligen immergrünen Rhododendren auf die Stimmung. Das Rosenmeer, das den Vorgarten im Sommer romantisch verzauberte, war nun kahl. Trotzdem sah alles so friedlich aus wie in ihren eigenen Kinderbüchern. Der Schnee hatte den beschnittenen Rosensträuchern, Buchshecken und Lavendelbüschen Häubchen aufgesetzt, um ein Vogelhäuschen tummelten sich Spatzen, Amseln, Grünlinge und Distelfinken, als habe sie jemand mit Futter versorgt, und die Sonne schob sich gerade durch einen Spalt der dicken Schneewolken, die den Merkurberg im Hintergrund wie in einen Wintermantel hüllten.

Als Clara die dicke Haustür aus Eichenholz aufschloss, schlug ihr der Geruch nach Kaffee und Sauerkraut entgegen. Sie blieb einen Augenblick in der eisigen Eingangshalle stehen, um sich einzubilden, ihr Vater sei zwanzig oder dreißig Jahre jünger und käme sogleich mit einem Geschirrtuch in der Hand aus der Küche, um sie zu begrüßen und ihr eine süße Leckerei zuzustecken. Er war zur Weihnachtszeit der Plätzchenbäcker der Familie gewesen.

Hirngespinste! Er lag hilflos oben in seinem Schlafzimmer und wartete auf sie. Leise setzte sie ihren Koffer ab, zog die Schuhe aus, stellte sie auf die kalte Heizung und eilte auf Socken die breite Eichentreppe nach oben.

Das Schlafzimmer war leer. Verblüfft musterte sie das gemachte Bett, das gekippte Fenster, den gestreiften Schlafanzug auf der glattgestrichenen Tagesdecke.

»Paps?«

Keine Antwort.

Das Badezimmer war ebenfalls aufgeräumt, aber leer. Er konnte die Treppen nicht allein gehen, das wusste sie. Es gab keine Wunder. Wo also war er?

Ratlos rannte sie die Treppe hinunter. Vielleicht saß oder lag er seit Tagen in der Bibliothek? Oh nein, bitte nicht!

In Panik durchquerte sie die Halle, holte tief Luft, um sich Mut zu machen, und stieß die Tür auf. Warme Luft schlug ihr entgegen, auch wenn kein Feuer im Kamin brannte. Ein Sonnenstrahl schien durch das bodentiefe Südfenster und ließ Staubkörner wie einen feinen Nebel vor den vollgestopften deckenhohen Bücherregalen tanzen. Einen kurzen Moment verharrte sie, ohne sich zu bewegen, mit angehaltenem Atem. Nichts war in diesem riesigen, vier Meter hohen Saal seit Jahrzehnten verändert worden, weder die dunklen Holzvertäfelungen oder die dunkelgrünen englischen Ledermöbel noch die groß geblümten Vorhänge oder die passenden Kissen auf dem breiten Sofa in der Ecke.

Auch ihr Vater saß wie vor zwanzig, dreißig, vierzig Jahren in seinem Ohrensessel und beugte sich über ein Schachspiel. Seine seit einem Unfall steife Hand schwebte, unterstützt vom anderen Arm, über den Figuren. Er sah auf, und seine Hand fiel kraftlos auf die Decke zurück, die seine dünnen Beine umhüllte. Seine Miene wechselte von tiefer Konzentration über Erstaunen zu blanker, kindlicher Freude, und seine blauen Augen strahlten hinter den dicken Brillengläsern, während sich sein schmales, bartloses Haselmausgesicht in abertausende fröhliche Falten legte.

»Bella!«

Paps war der einzige Mensch, der sie so nannte. Sie flog in seine ausgebreiteten Arme und war wieder seine Kleine, beschützt und getröstet.

»Mein Mädchen, du bist hier. So eine Überraschung«, hörte sie ihn seufzen, und es schwang Erleichterung in seiner tonlosen, asthmatischen Stimme mit.

Eine Weile kniete sie vor seinem Sessel, spürte, wie seine Hand sich durch ihr Haar wühlte, und kuschelte sich an seine uralte braune Strickjacke, die Fäden und Knoten zog. Die Wolle roch nach Wärme, herbem Rasierwasser und auch etwas muffig. Aber so hatte sie schon immer gerochen, denn sie durfte nur in Notfällen gewaschen werden. Es gab nur wenige Wünsche, die ihr Vater jemals äußerte, und diese wurden strikt befolgt.

Ihre Finger fanden wie von selbst die Stelle, die sie vor zwei Jahren heimlich gestopft hatte. Mutter hatte für solche »Unsitten« gar kein Verständnis und hatte ihm früher, als Clara die Feiertage noch zuhause verbrachte, alljährlich eine neue Jacke geschenkt, die er auch brav am Heiligen Abend getragen hatte. Am nächsten Morgen aber war er regelmäßig wieder in brauner Krümelwolle erschienen.

Wie es wohl dieses Jahr an Weihnachten sein würde? Würde ihre Mutter dann noch leben?

Clara nahm ihren ganzen Mut zusammen, um ihren Vater über ihren Besuch im Krankenhaus zu unterrichten. Doch bevor sie beginnen konnte, ließ sie ein Geräusch hinter ihrem Rücken zusammenzucken. Jemand hatte die Tür geöffnet!

Erschrocken fuhr sie herum. Ein sehr junger, großer, schlaksiger Mann mit Rollkragenpullover und abgetragenen Jeans starrte ebenso erschrocken zurück. An seinem Kinn hing ein albernes Flusenbärtchen, seine dunkelbraunen halblangen Haare hatte er hinter die Ohren gestrichen. Er hatte ganz offensichtlich vergessen, dass er einen Suppenteller in der Hand hielt, denn der neigte sich in gefährliche Schieflage.

Clara hatte den Mann nie zuvor gesehen. »Wer sind Sie?«, wollte sie rufen, stattdessen brach ein »Vorsicht, die Suppe!« aus ihr heraus.

Der Eindringling grinste spitzbübisch und balancierte den Teller auf das Schachtischchen, legte ihrem Vater eine Serviette auf den Schoß und wischte sich dann die Hand an seiner nicht ganz sauberen Hose ab, bevor er sie ihr hinstreckte.

»Ich bin Gregor«, sagte er und machte einen Diener.

Clara freute sich, wie warm und fest sein Griff war. Junge Leute hatten heutzutage leider oft Hände wie Butter, schlaff und ohne Gegendruck, und seine etwas weiche Erscheinung hatte auf einen von ihnen schließen lassen. Wenn man ihn näher betrachtete, sahen seine grauen Augen uralt aus und um seinen Mund lag ein ernster, trauriger Zug.

Doch das war nebensächlich. Wichtiger war die Frage, wie dieser Kerl hier hereinkam. Er benahm sich, als gehörte er seit Urzeiten in dieses Haus. Wer hatte ihn hereingelassen? Hatte er etwa einen Schlüssel? Und warum rückte er Vaters Jacke zurecht und ordnete die Decke neu? Das war ihre Aufgabe, ihr Vater, ihr Elternhaus. Nur deswegen war sie hergekommen.

Sie stemmte die Hände in ihre Hüften. »Und was machen Sie hier? Wer hat Sie hereingebeten?«

»Gregor hilft uns schon eine ganze Weile, Bella. Er besorgt den Garten, und seitdem deine Mutter krank ist, kümmert er sich auch um mich.«

»Sie sind der neue Gärtner? Haben Sie mich heute Nacht angerufen?«

»Bella, sei nicht so streng mit ihm. Gregor ist ein sehr lieber, netter Junge. Ohne ihn wären wir die letzten zwei Jahre nicht zurechtgekommen.«

»Aber jetzt bin ich da, und ich werde für dich sorgen, Paps. Du müsstest dich doch längst hinlegen. Siehst ganz müde aus. Komm, ich helfe dir hoch.«

Ihr Vater machte eine schwache Abwehrbewegung. »Lass mich erst essen, Kind. Und dann trinken wir alle zusammen einen richtig schönen starken Bohnenkaffee, nicht wahr, Gregor?«

»Sie geben ihm Kaffee? Wissen Sie nicht, dass er es am Herzen hat? Und was riecht da draußen? Sauerkraut? Das darf er nicht, er verträgt nur leichte Kost.«

Clara erschrak selbst, als sie sich so keifen hörte, aber sie konnte einfach nicht aufhören. War das Eifersucht, die in ihr bohrte? Sie versuchte, sie herunterzuschlucken, aber es ging nicht. Vor ihren Augen begann ihr allzu bekannter Jähzorn zu flimmern, höchstes Alarmzeichen. Verzweifelt begann sie zu zählen und innerlich um Ruhe zu flehen. Früher, als sie die Technik noch nicht beherrschte, waren in solchen Augenblicken Teller oder Vasen durch die Luft geflogen. Manchmal taten sie es auch heute noch.

Ihr Vater zupfte sie von hinten am Rock. »Bella!«, flüsterte er ahnungsvoll.

»Das muss jetzt gesagt werden. Hören Sie, junger Mann! Dies ist ein alter und kranker Mensch. Ich finde es verantwortungslos, was Sie da treiben!«

Die Ohren des jungen Mannes färbten sich rot, und seine Augen verwandelten sich in tiefgraue Löcher, aus denen die Freundlichkeit und Nachgiebigkeit verschwand, sein Mund wurde ein dünner Strich. Er machte eine knappe Verbeugung, dann drehte er sich steif um und verließ den Raum, ohne etwas zu sagen.

»Mir ist kalt«, flüsterte ihr Vater in ihrem Rücken. »Geh ihm nach. Sag, dass du es nicht so gemeint hast.«

Doch ehe Clara seinen Rat befolgen konnte, hörte sie schon die Haustür klappen, dann wurde draußen auf der Straße ein Wagen angelassen, die Ente, unverkennbar.

Clara schnappte nach Luft. »Oh Mann! Der dreht sich einfach um und geht. Das ist doch keine Art! Was ist das für ein Kerl?«

»Jetzt setz dich erst einmal und komm zur Ruhe«, bat ihr Vater und deutete auf den Lehnstuhl ihm gegenüber, nahe dem unbenutzten Kamin. »Es ist wunderbar, dich zu sehen. Was ist passiert? Warum bist du hier?«

»Jemand hat mich heute Nacht angerufen und mir gesagt, dass Mutter im Krankenhaus liegt.«

»Lieber Himmel, du Arme. Mitten in der Nacht? Du musst dir schreckliche Sorgen gemacht haben. Probier meine Suppe. Ich habe keinen großen Hunger.«

»Nein, nein, die Suppe ist für dich. Sie sagen, dass Mutter schon Anfang Oktober in die Klinik eingeliefert wurde. Stimmt das? Warum hast du mir nicht Bescheid gegeben?«

Ihr Vater beugte sich über den Teller und aß sorgfältig. Trotzdem tropfte etwas vom Löffel und kleckerte auf die Serviette. Er bemerkte es nicht, sondern machte bedächtig weiter.

»Ich wollte dich nicht beunruhigen. Du hast einen anstrengenden Beruf, für den du alle Kraft brauchst. Was macht dein neues Buch über den ›Troll mit den grünen Haaren‹? Ist es schon gedruckt? Ein köstlicher Titel! Erzähl mir mehr darüber. Schade, dass du uns nie eines deiner Bücher mitgebracht hast.«

»Mutter hätte es nicht gewollt.«

»Nein, nein, das siehst du falsch! Das ist ein Missverständnis.«

Ehe er nun wieder seine Gebetsmühle »Mutter liebt dich doch« drehen konnte, stand Clara lieber auf und räumte den geleerten Teller in die Küche. Am Herd blieb sie verwundert stehen. Das Sauerkraut roch überaus lecker. Sie konnte nicht widerstehen und kostete kritisch. Es war sahnig mild und schmeckte nach Apfel, Wacholderbeeren und einer Spur Lorbeer. In einem anderen Topf stand cremiger Kartoffelbrei bereit, in der Pfanne schmurgelte etwas, das wie Forellenfilet aussah. Gregor, Gärtner und Koch? Und die Küche glänzte noch sauberer als bei Jan.

Ein heftiger Stich in den Magen sagte ihr, dass sie dieses Thema nicht vertiefen, sondern stattdessen besser das Essen mit ihrem Vater teilen sollte. Der Kartoffelbrei hatte genau die richtige Menge Salz, Respekt! Das war eine kleine Kunst. Auch vom Muskat spürte man nur einen Hauch. Allerdings hätte sie unter anderen Umständen einen kräftigen Stich Butter zugefügt, doch das würde ihr Vater nicht vertragen.

Als sie mit den Tellern in die Bibliothek kam, war ihr Vater eingeschlafen. Die dicke Kassengestellbrille hing schief auf seinen übergroßen Ohren und war ihm halb über die Nase gerutscht, auf seiner rosigen Glatze spiegelte sich die fahle Sonne, sein kleiner Mund stand halb offen und entließ kleine gepresste Töne eines chronischen Asthmatikers. Seine Hände gaben selbst jetzt im Schlaf keine Ruhe und huschten über die Wolldecke wie Ameisen.

Clara ging bei diesem Anblick das Herz auf. Nie hatte sie je einen gütigeren, selbstloseren Menschen getroffen als ihn. Nie hatte er sich über die Launen seiner Frau beklagt, immer hatte er versucht, zwischen ihnen beiden zu vermitteln. Ein böses Wort war ihm noch nie entschlüpft. Ungeduld war ihm fremd.

Viel hatte sie nicht von ihm geerbt, leider!

Leise schlich sie mit den Tellern in die Küche zurück und setzte sich an den Tisch. Erst jetzt merkte sie, wie hungrig sie war, und schlang das Essen hinunter. Als der Teller leer war, bedauerte sie ihre Gier und sehnte sich nach dem gewohnten Espresso. Gleich morgen würde sie ihren kleinen Kocher in Betrieb nehmen und die nötigen Utensilien besorgen. In diesem Haushalt gab es ja leider weder eine Maschine noch das richtige Kaffeepulver. Ihre Mutter hatte alles gehasst, was auch nur im Entferntesten mit Italien zu tun gehabt hatte. Dumme Vorurteile, denn sie hatte sich zeit ihres Lebens geweigert, objektive Informationen aufzunehmen, geschweige denn jemals einen Fuß über den Brenner zu setzen.

Clara seufzte leise. Natürlich hatte sie schon aus Opposition heraus von klein auf alles aufgesogen, was es über Italien zu erfahren gab. So hatte, genährt durch ihren Vater, eine unstillbare Sehnsucht von ihr Besitz ergriffen. Merkwürdig, dass auch sie es nie geschafft hatte, ihr gelobtes Land zu besuchen. Immer war etwas dazwischengekommen, zuletzt Jans Vorliebe für die Schweizer Bergwelt, der sie sich brav untergeordnet hatte.

Claras Blick wanderte über das Tal hinüber zum Friedhof mit seinen mächtigen Bäumen. Bislang hatte sie sich nie Gedanken über die Aussicht gemacht, die man von der Rückseite der Villa hatte, aber nun fragte sie sich, wie es ihrem Vater ergehen würde, wenn er irgendwann in der Küche saß und direkt den Ort im Blick haben würde, an dem seine Frau beerdigt sein würde. Das musste doch unerträglich sein! Wahrscheinlich würde er auf dieser Seite des Hauses sämtliche Vorhänge zuziehen und im Dunkeln leben.

Wie würde es überhaupt mit ihm weitergehen? Er konnte unmöglich hierbleiben, allein und unversorgt. Sie würde es aber auch nicht übers Herz bringen, ihn von hier wegzubringen, in ein Pflegeheim womöglich, in dem er keine Ansprache hatte und vereinsamen würde. Aber würde es ihm besser gehen, wenn er hierbliebe? Wurden ihn hier nicht seine Erinnerungen an bessere Tage erdrücken?

Genug gegrübelt! Er würde ihr die Frage selbst beantworten, wenn es so weit war. Es war wirklich ein Segen, dass er geistig so auf der Höhe war und sie solche Dinge wie Heimaufenthalt oder ambulante Pflege nicht allein entscheiden musste.

Halb erleichtert holte sie ihre restlichen Sachen aus dem Auto und trug sie ins eiskalte ehemalige Kinderzimmer, das nun als ungenutztes Gästezimmer für Besucher bereitstand, die sowieso nie kamen. Fröstelnd schaltete sie die Heizung auf fünf. Aber bis der Raum einigermaßen warm und bewohnbar sein würde, würden Stunden vergehen, wahrscheinlich sogar ein ganzer Tag. Das Bettzeug war klamm, aber unwiderstehlich. Eine Stunde ausruhen, das erschien ihr plötzlich als der größte Hochgenuss, den sie sich nur vorstellen konnte.

Es war dunkel, als Clara aufwachte. Das Haus war still, ihr Zimmer wie erwartet immer noch kalt. Fröstelnd und mit schlechtem Gewissen, weil sie ihn so lange allein gelassen hatte, schlich sie nach unten zu ihrem Vater in der Bibliothek. Der Raum lag im Dunkeln, aber es war bullig warm.

»Ah, Kind, da bist du ja. Hast du geschlafen?«, hörte sie die tonlose Stimme ihres Vaters.

Mitleid mit dem armen alten einsamen Mann erfasste sie und sie machte sich schnell am Kamin zu schaffen. Viel Holz war nicht mehr da, aber für heute und morgen würde es reichen, ehe sie draußen hinterm Haus Nachschub holen musste. Wieder verschob sie es, ihn über den Zustand ihrer Mutter aufzuklären, sondern machte Abendbrot, saß anschließend bei ihm und starrte schweigend in die Flammen, während sie Rossinis »Barbier von Sevilla« lauschten, eine Aufnahme mit dem grandiosen Hermann Prey sowie mit Teresa Berganza und Luigi Alva, und mit Claudio Abbado als Dirigent. Ihr Vater liebte italienische Opern genauso wie sie. Früher waren sie manchmal zu zweit zu Aufführungen nach Karlsruhe gefahren, sehr zum Unmut ihrer Mutter, die ihnen die Ausflüge ganz offensichtlich missgönnte und die Italiensehnsucht von Mann und Kind mit ärgerlichem Zungenschnalzen kommentierte. Leider hatten sie es nie geschafft, ins Baden-Badener Festspielhaus zu gehen. Es war erst gebaut worden, als sie selbst bereits in München wohnte und ihr Vater zu gebrechlich war, um den Weg dorthin zu bewältigen und dann stundenlang im Zuschauerraum auszuharren. Sie würde ihn ohne Hilfe überhaupt nicht aus dem Haus bekommen.

»Wer ist eigentlich dieser Gregor?«, fiel ihr ein, als Prey sein berühmtes, ansteckend fröhliches »Largo al factotum« trällerte.

Ihr Vater schloss die Augen, ein Zeichen, dass er seinem Lieblingsbariton bis zum Ende lauschen wollte. Erst nach dem letzten Ton sah er sie an und ein herzliches Lächeln legte sich wie eine Sonne über sein zerfurchtes Gesicht.

»Deine Mutter hat vor ein paar Jahren eine Anzeige aufgegeben, weil sie einen kräftigen Burschen suchte, der ihr ein paar Rosenbögen in Ordnung bringen sollte. Nach und nach half er auch beim Pflanzen und beim Umgestalten der Wege. Er ist gelernter Landschaftsgärtner, musst du wissen. Schade, dass er nicht in seinem Beruf arbeitet. Er hat den grünen Daumen, und so hat er natürlich sofort das Herz deiner Mutter gewonnen.«

Clara bemühte sich, keine Miene zu verziehen. Das Herz ihrer Mutter gewinnen – das konnte niemand! »Eher wird er ihr Geld gewollt haben, oder? Umsonst hat er es wohl nicht gemacht.«

»Nein, nein, soweit mir bekannt ist, hat er nur ein Taschengeld bekommen. Du weißt ja, in Finanzdingen ist sie eigen.«

»Außer wenn es um den blöden Garten geht!«

»Es ist gut, wenn Menschen eine Leidenschaft haben.«

»Aber dir hat sie deine Leidenschaften ausgetrieben.«

»Nachsicht, bitte. Sie ist deine Mutter.«

»Dann hätte sie sich auch so benehmen sollen.«

Ihr Vater legte den Kopf schief und streckte seine gesunde Hand nach ihr aus. »Bella, armes Kind! Komm her zu mir, willst du? Sie hat es niemals böse gemeint. Raue Schale, weicher Kern. Wir beide haben dich immer sehr geliebt. Meinst du, du könntest mir etwas Rotwein einschenken? Einen Fingerbreit vielleicht?«

Als der Wein in den Gläsern funkelte, rang Clara sich durch, ihren Vater über ihren Besuch in der Klinik zu unterrichten, doch er unterbrach sie, ehe sie richtig anfangen konnte.

»Es geht ihr nicht gut, ich weiß. Gregor hat es mir schon berichtet.«

»Gregor, Gregor! Woher will der das wissen? Niemand hat sie im Krankenhaus besucht! Seit Wochen nicht.«

»Gregor kann nichts dafür. Ich bin es. Ich möchte nicht zu ihr. Ich – ich kann sie nicht leiden sehen. Es würde mir das Herz brechen. Ich möchte sie gern so in Erinnerung behalten, wie sie immer gewesen war: schön und stark. Gregor hat oft vorgeschlagen, mich in die Klinik zu begleiten, aber ich habe es nicht fertiggebracht. Würdest du bitte an den Schrank dort gehen und das kleine dunkelbraune Fotoalbum holen? Das mit den Bildern von unserer Hochzeit? Sieh doch nur, sah sie nicht aus wie ein Engel?«

Clara hatte sich die kleinen Schwarz-Weiß-Fotos mit den gezackten Rändern wohl schon ein Dutzend Mal angesehen und immer versucht, etwas Gutes herauszulesen. Es gelang ihr auch heute nicht. Abweisend streng blickte ihre auf einem zierlichen Stuhl sitzende Mutter in die Kamera, einen dünnen Strauß Nelken auf dem Schoß. Ihre hellblonden Haare hatte sie hochfrisiert, das helle Kleid war hochgeschlossen wie zur wilhelminischen Zeit. Den Mund hatte sie zusammengepresst, als würde sie gleich anfangen zu weinen. Ihrem Vater hingegen sah man das Glück förmlich aus den Augen springen. Stramm und schlank stand er hinter ihr, eine Hand auf ihrer Schulter, mit einem Lächeln, für das es nur das altmodische Wort »beseelt« gab. Es gab keinen Zweifel: Für ihren Vater war dies der schönste Tag seines Lebens gewesen.

»Du hast sie wirklich geliebt, nicht wahr?«

»Ich liebe sie noch und werde sie immer lieben. Sagst du ihr das bitte, wenn du morgen zu ihr gehst?«

Notgedrungen versprach Clara es, aber sie war sich nicht sicher, ob ihr solche Worte über die Lippen kommen würden.

Schon der Gedanke, erneut ans Bett ihrer Mutter treten zu müssen, ließ sie später am Abend nicht einschlafen. Würden sie sich wieder streiten? Oder würde sie endlich erfahren, was ihre Mutter ihr so dringend mitteilen wollte? War es überhaupt wichtig? Was konnte es schon sein? Eine vergessene Rosenbestellung vielleicht oder die Konditionen, unter denen dieser geheimnisvolle Gregor in Haus und Garten arbeitete? Hatte der Kerl überhaupt in den letzten Wochen einen Lohn erhalten? Ihr Vater war bestimmt nicht zur Bank gekommen.

Mit einem Schlag war Clara hellwach. »Ma ...nnnn ...«, hatte Mutter gestammelt. Wollte sie sie vielleicht vor dem Mann warnen?

Sie musste mehr über diesen Gregor herausfinden! Niemand war uneigennützig gut. Dieser Kerl hatte garantiert üble Hintergedanken, und nur deshalb war er vorhin so schnell verschwunden. Ob er sich heimlich bereichert hatte? Allein der Familienschmuck war doch ein Vermögen wert und hatte früher in einer offenen Schatulle im Elternschlafzimmer herumgelegen. War er noch da?

Am liebsten hätte Clara sofort nachgesehen, aber sie wollte ihren Vater nicht erschrecken. Wenn sie mitten in der Nacht in sein Zimmer rumpelte und die Schmuckkassette untersuchte, würde er womöglich einen erneuten Herzanfall bekommen. Also hieß es warten – nicht gerade ihre Stärke.

Es war erst vier Uhr. Drei endlose Stunden lagen vor ihr, in denen sie sich nur von einer Seite zur anderen werfen und versuchen konnte, weitere böse Gedanken von sich wegzuschieben. Schließlich gab sie es auf und schlich an den kleinen Schreibtisch, holte ihren Laptop und begann das Konzept für ein neues Kinderbuch zu schreiben, das von Haselmäusen und Gartenzwergen handeln sollte und auf jeden Fall ein gutes Ende haben würde. Eine Stunde später kroch sie, als Eisklotz, zurück ins Bett.

Das Kalte Haus

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