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Vier

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Müde wie sie selbst hing der Mond als blasser Halbkreis am Himmel, dessen tiefes Schwarz sich allmählich in Anthrazit und dann in bleischweres Grau auflöste. Seit Karlsruhe führte die Autobahn fast schnurgerade durch das flache Rheintal und durchschnitt tief verschneite Felder. Links konnte man die Hügelketten des Schwarzwalds mehr erahnen als erkennen, doch ein erster schmaler, orangeroter Hauch in den Wolken kündigte an, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Sonne sich über die Gipfel gekämpft hatte.

Clara gähnte herzhaft und kurbelte das Fenster ihres betagten Volvos herunter. Der Fahrtwind strömte wie eine kalte Dusche in das überheizte Wageninnere. Die zweite Nacht ohne Schlaf, wenn man das Nickerchen bei Kirchheim/Teck nach dem stundenlangen Stau wegen querstehender Lastwagen am Albabstieg nicht mitzählte. Bei Pforzheim war die Autobahn wegen mehrerer Glätteunfälle gesperrt gewesen. Jetzt war es bereits nach sieben und sie kam ihrem Ziel endlich näher.

Krampfhaft riss sie die Augen weit auf und versuchte sich zu konzentrieren, so schwer ihr das auch fiel. Nicht mehr lange und sie würde sich hinlegen und ausruhen können. Hier war schon die Autobahnkirche, gleich danach kam die Rastanlage und dann hatte sie den längsten Teil ihrer Reise geschafft. Vorn konnte sie das Schild zur Ausfahrt »Baden-Baden/Paris« erkennen, das sie immer wieder aufs Neue amüsierte, weil es suggerierte, Frankreichs Hauptstadt sei nur einen Katzensprung entfernt.

Doch schon entglitt ihr die Konzentration wieder, sie betätigte Bremse, Blinker und Gaspedal wie eine Schlafwandlerin, während ihre Gedanken anderen Wegen folgten.

Merkwürdig, sie hatte ihre Mutter noch nie krank erlebt. Schmerzen, Schwäche, Trauer – das existierte einfach nicht für diese harte Frau, auch keine Freude. Nichts. Nur Disziplin, Strenge, Kälte, manchmal Zorn.

Liebe? Ein Fremdwort, das sie allerhöchstens im Zusammenhang mit ihren blöden Rosen benutzte. Ach, Clara wollte nicht weiter darüber nachdenken. Das waren unnütze, uralte Erinnerungen. Sie war längst erwachsen, da brauchte man die Kindheit nicht mehr, um Schuldzuweisung für alles zu betreiben, was im Leben schiefgelaufen war.

Wieder versuchte sie, ihre Kräfte zur Konzentration zu mobilisieren, damit sie nicht vollends vom eintönigen Motorengeräusch und der unendlichen Müdigkeit eingelullt wurde. Sie musste wach bleiben! Am besten war es, den Rest des Weges wie eine Fremde zu betrachten. Links auf dem Berg tauchten im Morgendunst die grauen eckigen Ruinen des Alten Schlosses der Markgrafen zu Baden auf, dann passierte sie die gewöhnungsbedürftigen ufoähnlichen Gebilde des neuen Einkaufszentrums. Weiter vorn stieg neben dem zerzausten Merkurberg die Sonne als von Dunstwolken verschleierte weiße Scheibe auf.

Clara seufzte leise. Sie war beileibe keine Fremde hier. Das Band zur Vergangenheit, diese blinde Vertrautheit, die war über die Zeit erhalten geblieben, und das war doch wohl, was den Begriff Heimat ausmachte, auch wenn sie es jähre-, jahrzehntelang geleugnet hatte.

Selten hatte sie es bei ihren spärlichen Pflichtbesuchen zuhause auch hinunter in die City geschafft, das letzte Mal vor zwölf Jahren, und das hätte sie sich besser ersparen sollen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich dort seitdem viel verändert hatte, denn das Pfund, mit dem Baden-Baden wucherte, war doch gerade das historische Stadtbild mit seinem altmodisch-romantischen Flair. Allein der Gedanke an die vertraute Innenstadt machte ihr – trotz des negativen Erlebnisses von damals – Lust, durch die alten Straßen zu schlendern und vielleicht jemanden zu treffen, den sie von früher kannte. Aber wen denn? Alte Freunde? Helmut, der sie verlassen und verraten hatte, war seit Jahren tot. Andere Menschen, die ihr nahestanden, Schulfreunde zum Beispiel, gab es in dieser Stadt nicht. Ihre Mutter hatte nie zugelassen, dass fremde Kinder durch ihren heiligen Garten turnten, aber zu anderen Klassenkameraden hatte sie ihre kleine Tochter ebenso ungern gehen lassen.

Herrje. Was war nur mit ihr los! Diese graue Stimmung kam bestimmt nur hoch, weil ihr gestern Liebhaber, Job und Wohnung auf einen Schlag abhandengekommen waren. Außerdem: Baden-Baden genoss man im Frühling, wenn die Krokusse blühten, bis in den Herbst, wenn die Gingko-Bäume ihr goldenes Laub verloren, nicht aber im trostlosen November.

Der Besucherparkplatz der Klinik war weitgehend leer und noch nicht geräumt. Clara stellte ihren Wagen im vorderen Bereich ab. Ihre Reifen waren so neu nicht, dass sie als geländetauglich durchgehen konnten. In München hatte sie den Wagen nur selten bewegt, zum Glück hatte sie ihn noch nicht abgemeldet, auch wenn sie bereits mit dem Gedanken gespielt hatte. Ein dürrer, mit spärlichen Kerzen beleuchteter Tannenbaum hielt vor dem Eingangsbereich Wache, auch hier bereits eine Woche vor dem ersten Advent.

Wie eine Faust schlug die Einsamkeit ihr in den Magen. Kälte kroch durch das Blech des Autos ins Innere, fraß sich durch ihre Wollstrümpfe, ihren Strickpullover, hinein in ihr Innerstes. Nein, sie würde nicht weinen. Nicht jetzt! Und erst recht nicht wegen Jan. Das war selbstsüchtig und dumm. Ihre Mutter lag in dem Gebäude vor ihr und hatte bestimmt Schmerzen oder es war ihr etwas Fürchterliches zugestoßen, etwas Unbegreifliches, das sie dazu gebracht hatte, nach ihr zu schicken. Nur das war wichtig! Nicht ihr eigener Seelenschmerz.

Was es wohl zu bereden gab? Freundlich unterhalten oder sich eventuell aussöhnen wollte ihre Mutter sich bestimmt nicht mit ihr. Dazu hätte sie ihr ganzes Leben lang Zeit und Gelegenheit gehabt. Schon als Kind war Clara wie ein hungriges Hündchen hinter ihr hergelaufen und hatte auf ein nettes Wort gewartet oder gehofft, dass sie sie in den Arm nehmen oder streicheln würde, wie andere Mütter es mit ihren Kindern taten. Irgendwann hatte sie die Hoffnung aufgegeben und sich an die Lieblosigkeit von dieser Seite zu gewöhnen versucht, zumal ihr Vater alles getan hatte, um es auszugleichen.

Sie musste sich schwer beherrschen, um nicht umzudrehen und zuerst nach ihm zu sehen. Er würde bestimmt wissen wollen, wie es seiner Frau ging. Also musste sie zuerst zu ihr. Es gab keinen Ausweg und keine Ausrede.

»Sie ist deine Mutter und sie liebt dich« – wie oft hatte er ihr das eingebläut? Und wenn er es ihr noch eine Million Mal sagen würde, würde es trotzdem an ihr abprallen. Aber ein Schuldgefühl hatte er doch in ihrem Innern aufgebaut. Und das meldete sich jetzt und klopfte und pochte in ihren Schläfen. Viel zu lange hatte sie nicht mehr zuhause angerufen.

Clara begann sich über sich selbst zu ärgern. Da saß sie hier in der Kälte, sah zu, wie der Morgen heraufschlich, traute sich weder ans Krankenbett ihrer Mutter noch nach Hause und fühlte sich schlecht, weil sie sich seit Ostern nicht mehr um ihre Eltern gekümmert hatte. Wer hatte denn daran Schuld gehabt? Wer hatte sie denn damals wieder einmal aus dem Haus getrieben?

Gerade mal zwei Stunden hatte es gedauert, bis die mühsame Höflichkeit zwischen ihnen explodiert war. Sie hatte ihre Vorsicht vergessen und ihrem Vater voller Euphorie über ihr neues Buchprojekt berichtet.

»Der Troll mit den grünen Haaren«, hatte Mutter angeekelt wiederholt und mit einer kleinen Silbergabel trockene Kuchenkrümel über den Teller gejagt. »Ein großartiges Projekt für eine kinderlose Kinderbuchautorin.«

Clara war erstaunt gewesen, wie sehr sie diese Verachtung trotz all ihrer Vernarbungen immer noch treffen konnte, und sie hatte sich geärgert, das Thema überhaupt angeschnitten zu haben. Sie hatte doch gewusst, wie ihre Mutter über die Schriftstellern dachte! Aber nein, wie eine Süchtige hatte sie mal wieder um Anerkennung gebettelt und Verletzung geerntet. Es hörte nie auf, es riss immer wieder dieselben Wunden auf und ließ sie schmerzen und bluten. An Lieblosigkeit konnte man sich nie gewöhnen.

Am liebsten hätte sie auch jetzt kehrtgemacht und wäre geflohen – wenn sie nur gewusst hätte, wohin.

Vor dem Eingang zur Intensivstation musste sie nicht allzu lange warten, ehe man sie hereinließ. Man bestand darauf, dass sie sich Kittel und Mundschutz anlegte, dann durfte sie das Zimmer betreten. Es glich einem blinkenden, piepsenden Maschinenraum. Die Schwester hielt ihr die Tür auf und machte eine Kopf bewegung, aber Clara blieb verunsichert stehen. In den beiden Betten lagen fremde Frauen, die eine mit dunklen Haaren, die andere mit weißen. Mehr konnte sie nicht erkennen, denn die Patientinnen waren bis zum Kinn zugedeckt. Sie rührten sich nicht.

Clara sah noch einmal hin. Sie kannte weder die eine noch die andere. Bestimmt war sie im falschen Zimmer gelandet. Hinter ihr schloss sich leise die Tür, ehe sie sich umdrehen und den Irrtum aufdecken konnte. Langsam trat sie näher an das erste Bett. Die weißhaarige Kranke hatte zumindest eine ähnliche Frisur wie ihre Mutter. Braune Flecken entstellten jedoch ihr Gesicht, die Wangen waren eingefallen und faltig, außerdem war die Frau viel zu klein, um ihre Mutter zu sein. Wie eine vertrocknete Blume, leicht und zerbrechlich und viel zu alt.

Als habe sie ihre Gedanken wie einen Lufthauch gespürt, schlug die Greisin in diesem Moment die Augen auf, blinzelte kurz und hob dann den Arm ein paar Zentimeter, fast unmerklich.

Mit klopfendem Herzen machte Clara einen Schritt vorwärts. War dies ihre Mutter? Wie konnte das möglich sein? Was war mit ihr geschehen? Sie sah entsetzlich aus. Nein, das war nicht ihre Mutter!

»Hierher«, befahl die Frau heiser.

Doch, sie war es.

Clara zog einen Stuhl heran und setzte sich vorsichtig auf die Kante. Sie wusste nicht, ob sie ihre Mutter berühren sollte oder durfte. Waren die Flecken ansteckend? Oh Gott, warum hatte sie niemand auf diesen Anblick vorbereitet?

Ihre Mutter fasste das Seitengitter ihres Bettes mit beiden Händen und zog sich ein kleines Stück hoch. Ihre Arme zitterten, dann ergriff das Beben ihren ausgemergelten Körper. Trotz der unübersehbaren Anstrengung flammte ein allzu bekanntes, boshaftes Funkeln in ihren Augen auf.

»Ich weiß selber, dass ich scheußlich aussehe«, zischte sie. »Du musst mir deinen Ekel nicht so deutlich zeigen! Mach ein anderes Gesicht!«

»Entschuldige bitte. Ich ...«

»Und hör auf, dich zu entschuldigen. Warum kommst du erst jetzt?«

»Ich ...«

»Gib es zu: Dieser Jan war dir wichtiger! Typisch!«

»Oh bitte, nicht jetzt. Lass uns doch einmal, nur ein einziges Mal ...« Clara merkte selbst, dass sie zu laut wurde, und verstummte.

Ihre Mutter schnappte nach Luft, ließ sich zurückfallen, suchte mit ihren dünnen Vogelhänden nach dem Notrufknopf, öffnete den Mund weit und röchelte, als bekäme sie keine Luft. Eine Träne stahl sich aus ihrem Augenwinkel, tropfte aufs Kissen und bildete einen Flecken, der sich dunkel ausbreitete wie Blut.

Clara sprang hoch. »Um Gottes willen, was ist denn ...«

Der Mund ihrer Mutter formte ein Wort, das sie nicht verstand.

»Was sagst du?«

»Ma ...nnnn ...« Die Augen der Kranken quollen über, als würden sie von einer unsichtbaren Gewalt von innen nach außen gedrückt. Immer noch stand ihr Mund weit auf. Auf ihren Lippen zersprangen eingetrocknete Hautschichten wie dünnes Eis. Gurgelndes Würgen kam heraus, mehr nicht.

»Mutter, bitte, nun sag schon!«

Die Tür flog auf, ein Arzt drückte Clara beiseite. »Wer sind Sie? Wer hat Sie hereingelassen?«

»Ich bin die Tochter.«

»Gehen Sie nach draußen und warten Sie. Ich muss sie behandeln.«

»Aber sie wollte mir etwas Wichtiges ...«

Ihre Mutter griff nach ihrer Hand, erreichte sie aber nicht, weil der Arzt sie wegzog. Die Lippen formten sich erneut zu »M...a ...nnnnn ...«

»Sie sehen doch, was los ist. Raus jetzt, bitte!«

»Ich bleibe hier. Sie will mir etwas sagen, sehen Sie das nicht?«

»Später. Schwester Ursel, schnell, hierher!«

Immer mehr Menschen in blauen und weißen Kitteln drängten sich um das Bett. Clara stand abseits und bemühte sich, unsichtbar zu sein, doch es half nichts. Jemand entdeckte sie und schob sie unsanft nach draußen, dann bugsierte jemand anderes sie ganz hinaus, zurück auf den Flur vor die Tür zur Station.

Clara ließ sich auf die Holzbank fallen und lehnte den Kopf an die Wand. Was geschah dort drinnen? Starb ihre Mutter, bevor sie sich ausgesprochen hatten? Sollten tatsächlich Vorwürfe das Letzte gewesen sein, was sie von ihrer Mutter gehört haben sollte? Das wäre doch schrecklich! Niemand sollte so unversöhnt sterben müssen.

Wie hatte nur alles wieder so eskalieren können? Hatte sie sich selbst am Totenbett nicht beherrschen können und ihre Mutter provoziert? Aber nein, so war es nicht gewesen. Ihre Mutter hatte allein bei ihrem Anblick rot gesehen. Hörte das denn niemals auf?

»Ich bin ganz ruhig«, murmelte sie, wie es ihr einmal ein Therapeut beigebracht hatte.

Allmählich verlangsamte sich ihr Puls, und sie konnte wieder klarer denken.

»Ma ...nnn ...« Was konnte ihre Mutter damit gemeint haben?

Kalter Schweiß ließ Clara das Unterhemd wie eine eisige Umklammerung an Rücken und Bauch kleben, und sie begann zu frieren wie noch nie in ihrem Leben.

Die Minuten tropften dahin. Ob sie klingeln sollte? Vielleicht hatte der Arzt sie vergessen? Sanitäter und weitere Personen in Weiß kamen im Eilschritt heran und verschwanden hinter der Tür, durch die kein Laut drang. Irgendwo in den fernen Gängen der Klinik hörte sie das Quietschen von Gummirädern, das Tacken von Krücken, leises Gemurmel, das sanfte Piepsen von Apparaten, einen lang gezogenen Alarmton. Dann wieder Gummisohlen, auf denen Menschen herbeihasteten. Jemand blieb kurz stehen und musterte sie mitleidig, ehe er die Tür mit einem Code öffnete.

Eingeschüchtert stand sie auf, als sich erneut eine Person näherte.

»Ich bin Frau Funkes Tochter«, begann sie.

Zu spät. Die Ärztin oder Schwester verschwand hinter der Tür.

Angst stieg in ihr hoch. Irgendwann sah sie zur Uhr. Schon nach elf. Sie müsste längst bei ihrem Vater sein. Wie lange hatte er nichts mehr zu essen bekommen? Ob noch die alten Nachbarn nebenan wohnten? Ob jemand von ihnen nach dem Rechten sah? Aber warum sollten sie? Hatte Mutter sie nicht ebenso gleichgültig behandelt und vergrault wie die eigene Familie? Warum also sollte nun jemand zur Hilfe kommen? Oder überhaupt ahnen, dass Hilfe benötigt wurde? Paps würde von sich aus niemanden darum bitten. Er wollte ja nie Umstände machen.

Je länger sie es sich überlegte, umso dringender wollte sie weg von hier, heim zum Vater. Sie konnte ihn nicht einmal anrufen. Das alte Telefon befand sich unten in der Diele, unerreichbar für ihn, wenn er im Schlafzimmer lag.

Unruhig stand Clara auf und begann, den Gang auf und ab zu laufen. Fünfunddreißig Schritte waren es von der Bank bis zur Ecke, zwanzig bis zum Fenster. Weiter wollte sie nicht gehen, sie traute sich noch nicht einmal in den Waschraum aus Angst, den Arzt zu verpassen.

Szenen von früher stiegen in ihr hoch. So lange sie zurückdenken konnte, hatte sich alles im Haus um die Rosenleidenschaft ihrer Mutter gedreht. Im Sommer war sie bei jedem Wetter draußen gewesen, band hoch, schnitt ab, zupfte Unkraut, pflanzte Begleitstauden, wässerte, düngte, spritzte. Im Winter wurden Pläne gezeichnet, Kataloge gewälzt, gab es endlose Gespräche mit Handwerkern. Oft fuhr ihre Mutter für Wochen nach England, um Gärten zu besichtigen und sich mit Gleichgesinnten auszutauschen. Die Tochter, »das Kind«, hatte ruhig zu sein, sich wohl zu verhalten, Gartenfreundinnen Tee einzuschenken, sich brav an langweiligen Gesprächen zu beteiligen, oder – besser noch – nicht aufzufallen.

Der Garten war stets Winterbaustelle gewesen, und schnell wurde er zu klein. Daraufhin begann Mutter, umliegenden Nachbarn Land abzukaufen, die froh waren, ihre unzugänglichen, wertlosen Steilhänge loszuwerden. Terrassen mit Trockenmauern und Teichen, Rosenbögen, Laubengängen, Pavillons, Obelisken, Gewächshäusern entstanden.

Zeitschriften berichteten über die »Rosenkönigin von Baden-Baden«, Fernsehsender schlossen sich an. Die schönsten Momente mit ihrer Mutter waren für Clara gewesen, wenn Fotografen oder Fernsehleute ihre Kameras aufbauten. Dann strich Mutter ihr übers Haar, setzte sich neben sie auf eine Bank, drückte sie für einen kurzen Moment an sich, bis der Auslöser klickte oder die Szene »im Kasten« war. Manchmal wurde sie auch gezwungen, das kratzige Kleid mit den gestickten Rosen anzuziehen und sich an den Flügel zu setzen, als »liebreizendes Fotomotiv«, wie die Erwachsenen entzückt ausriefen. Von den Kämpfen hinter den Kulissen hatte ja niemand auch nur die geringste Ahnung, und Clara widersprach nie, sondern lehnte sich lächelnd an ihre Mutter und genoss es, wenigstens für kurze Zeit deren Duft nach Honig und frischem Grün einzuatmen und eine erstaunlich warme, aber knöcherne Hand auf ihrem Haar zu spüren.

Kaum waren die Fremden weg, wurde auch sie weggeschickt. »Wasch dich, kämm dich, mach deine Hausaufgaben, sei ruhig, deck den Tisch.«

Aber da waren ja noch die Bibliothek und ihr Vater. Ihre kleinen Fluchten, die sie davor bewahrten, seelisch zu erfrieren.

»Frau Funke?«

Clara zuckte zusammen. Sie hatte nicht bemerkt, wie der Arzt aus der Intensivstation gekommen war.

»Kann ich zu ihr?«

»Heute nicht mehr. Sie hat einen Erstickungsanfall gehabt. Sie ist nicht ansprechbar.«

»Aber vorhin wollte sie mir etwas sagen.«

»Das will sie seit Wochen.«

»Seit Wochen? Wie meinen Sie das?«

»Sie liegt seit Anfang Oktober hier. Die Tochter sind Sie? Ja?«

»Seit Oktober? Das ist doch unmöglich!«

»Wollen Sie damit sagen, Sie hätten es nicht gewusst?«

»Ich bin heute Nacht informiert worden und sofort hergekommen.«

»Oh. Nun. Wir haben uns schon gewundert. Sie hat uns keine weiteren Angehörigen angegeben, außer ihrem Ehemann. Er lässt ab und zu auf der Station anrufen. Aber niemand hat sie besucht, keine Menschenseele. Sie war bis heute allein.«

Fröstelnd schlang Clara die Arme um sich und versuchte, ruhig zu bleiben. Das war bestimmt kein Vorwurf. Sie konnte nichts dafür. Sie hatte von nichts gewusst. Wirklich nicht? Hätte sie sich nicht öfter bei ihren Eltern melden müssen, gerade auch wegen ihres Vaters? Er hätte sich über ihren Anruf gefreut, falls Mutter es ihm ausgerichtet hätte. Falls!

»Was hat sie denn?«

»Wenn wir das wüssten. Wir haben Experten aus Heidelberg hinzugezogen, doch wir brauchen mehr Zeit. Es scheint so, als ob in ihrem Körper immer wieder Blutgefäße platzen. Deshalb auch die Flecken im Gesicht. Wir können es nicht stoppen. Dazu kommen diese Erstickungsanfälle.«

»Wird sie wieder gesund?«

»Wir hoffen es. Manchmal geht es etwas besser, und wir können sie zurück auf die normale Krankenstation verlegen, aber dann verschlechtert sich ihr Zustand wieder gravierend. Ein Auf und Ab. Eigentlich eher ein Ab.«

Der Arzt presste seine Handflächen zusammen, während er krampfhaft zu Boden blickte. »Dr. Hoffmann« stand auf seinem Namensschild. Er war relativ jung, aber neben seinem schmalen Mund hatten sich bereits scharfe Falten eingegraben. Trotz seiner hilflosen Aussage wirkte er kompetent, sah jedoch heillos übernächtigt aus.

Mit Mühe unterdrückte auch Clara ein Gähnen. »Dann komme ich morgen wieder. Sie will mir etwas mitteilen. Ich muss wissen, was es ist. Es scheint äußerst wichtig zu sein.«

Das Kalte Haus

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