Читать книгу Das Kalte Haus - Rita Hampp - Страница 11
Sieben
ОглавлениеSeit der letzten Begegnung mit Helmut hatte sie die Innenstadt gemieden, nur um ihm nicht mehr zu begegnen. Sie hätte allerdings auch wenig Gelegenheit gehabt, durch die vertrauten Straßen und Gassen zu schlendern, denn in der Regel war es spätestens beim Kaffeetrinken mit ihrer Mutter zum Streit gekommen und sie war Hals über Kopf abgereist.
Das war seit vielen Jahren so gegangen, nicht erst, seitdem Jan sie begleitet hatte, sondern auch früher schon, als sie noch mit Gerhard verheiratet gewesen und keine Kinderbücher geschrieben hatte, sondern brave Hausfrau gewesen war. Vier oder fünf Stunden hatten ausgereicht, alles über die neuesten Rosenarten zu hören und die immer gleiche Menüfolge für den Sonntag herunterzuwürgen: Rindfleischsuppe aus dem Beutel, Schweinebraten mit Klößen und zum Kaffee staubtrockener Streuselkuchen aus dem Tiefkühlregal, allen einstigen großartigen Backkünsten ihres Vaters zum Trotz. Wahrscheinlich war ihre eigene kulinarische Experimentierfreude aus dieser Not geboren worden. Von klein auf hatte sie sich ausgemalt, wie man Regelsätze im Nahrungsplan variieren und verbessern könnte, und sobald sie ihre erste Studentenbude bezogen hatte, hatte sie losgelegt.
Höhepunkte waren Hase in Schokoladensoße, Kalbfleischrouladen mit einer Füllung aus Pfefferminzbonbons und Roquefortkäse, Chili-Eis mit Rosmarin-Vanillesoße gewesen, dann hatte sich Simone erbarmt und ihr das erste italienische Kochbuch geschenkt. Heute machte ihr beim Kochen niemand mehr etwas vor.
Aber nun gab es Wichtigeres, als sich über Horoskope oder Essenspläne den Kopf zu zerbrechen.
Bestandsaufnahme: Mutter lag im Koma, wurde aber, wie es schien, gut versorgt. Geheimnisse würde sie ihr in der nächsten Zeit nicht entlocken können. Also sollte sie das nächste, vielleicht schwerer wiegende Problem in Angriff nehmen: das Fehlen des Familienschmucks und die undurchsichtige Rolle dieses merkwürdigen jungen Mannes, Gregor Morlock. Äußerlich war keine große Ähnlichkeit festzustellen, aber wenn er Helmuts Sohn war, war ihm ein Diebstahl zuzutrauen. Am besten, sie stellte ihn so bald wie möglich zur Rede. An seiner Reaktion würde sie schon erkennen, ob er schuldig war oder nicht. Andererseits hatte sie sich geschworen, nie mehr einen Fuß über die Schwelle des Antiquariats zu setzen. Selten war sie so gedemütigt worden wie dort.
Vergangenheit. Helmut war tot.
Vor dem Tunnel musste sie nach links in die Stadt einbiegen. Am Festspielhaus rangierten zwei Reisebusse und sie musste notgedrungen anhalten. Auf dem verschneiten Vorplatz flatterten Fahnen im Wind, die die weihnachtlichen Ballettauftritte des Mariinsky-Balletts aus St. Petersburg ankündigten.
Clara beugte sich über das Lenkrad. Es war ein architektonisches Meisterwerk gewesen, einen hochmodernen, klotzigen Neubau hinter der anmutigen, historischen Kulisse eines verspielten alten Bahnhofs zu verstecken. Wo vor langer Zeit Könige, Kaiser und Zaren zur Sommerfrische anreisten, fungierte die neoklassizistische ehemalige Bahnhofshalle der Stadt nun seit 1998 als stilvolles Entree für das zweitgrößte Opernhaus Europas. Auf den Transparenten über dem Vorbau stand, dass es Tschaikowsky geben würde. Nussknacker und Dornröschen. Das hätte Paps gefallen, schoss es ihr durch den Kopf. Schade, dass er keine Ausflüge mehr unternehmen konnte. Es war für sie als kleines Mädchen märchenhaft gewesen, sich an seinen steifen dunkelblauen Anzug zu kuscheln und sein Aftershave zu riechen, das er nur zu besonderen Anlässen auflegte. Nach den Aufführungen in Karlsruhe hatte er sie zu einem Glas schwarzem Johannisbeersaft in ein Restaurant ausgeführt, und bis heute war dieser Saft etwas ganz Besonderes für sie, seit mehr als vierzig Jahren.
Der Weg war wieder frei und Clara gab energisch Gas, als könnte sie die Vergangenheit mit quietschenden Reifen verjagen. Vierzig Jahre! Wäre ihr Leben anders verlaufen, könnte sie Großmutter sein.
Gleich am Beginn der Fußgängerzone gab es im Kaufhaus eine öffentliche Garage. Erleichtert folgte sie den Hinweisschildern, und feine Nadelstiche in ihrem Fuß gaben ihr den Gang durch die Abteilungen des Geschäfts vor: Trockene Strümpfe hatten Priorität; sie wechselte sie in einer Umkleidekabine.
Der nächste Weg führte sie in die nahegelegene Buchhandlung, fast schon automatisch, denn Bücher faszinierten sie, seit sie denken konnte. Sie waren ihre Heimat gewesen, hatten sie getröstet, in den Schlaf begleitet, sie am Schlafen gehindert, sie aufgeregt und zum Weinen oder Lachen gebracht. Und deshalb hatte sie schon früh eigene Zauberwerke erschaffen wollen. Ihren Puppen, den Stofftieren und sogar den Märchenfiguren auf der Kinderzimmertapete hatte sie immer neue Geschichten erzählt und sich geärgert, weil sie jeden Tag neue erfinden musste, solange sie noch nicht schreiben konnte. In der Schule hatte sie heimlich ihre Hefte von hinten her mit ausgedachten Abenteuern bekritzelt, doch das hatte ihre Mutter ihr schnell und gründlich ausgetrieben, denn das Schreiben war für sie noch schlimmer gewesen als alles Italienische. Da war nichts zu machen. Selbst Paps konnte nicht helfen. Deshalb hatte sie auch nach dem Abitur nur die Wahl gehabt, entweder Jura oder Medizin zu studieren, was ungefähr dasselbe gewesen war wie die Wahl zwischen Rosen stutzen und Unkraut jäten. Sie hatte Jura genommen, wenigstens für fünf Semester, bis sie Gerhard begegnet war. Wie hatte sie sich gängeln lassen! Und es war immer so weitergegangen.
Nein, darüber wollte sie nicht nachdenken. Nicht jetzt, nicht hier. Wohlig streifte sie um die Büchertische und Regale. Seit sie geschieden war, hatte sie weniger gelesen, dafür umso mehr geschrieben. Sie wollte und musste auf eigenen Füßen stehen, und es gab nichts Befriedigenderes für sie, als mit ihrer Fantasie und ihrer Erzählkunst Geld zu verdienen. Leider nie genug, um reich zu werden, und nun vielleicht gar nicht mehr? Sie konnte es immer noch nicht glauben, was der Verlag ihr geschrieben hatte.
»Führen Sie Bücher von Clara Freudenreich?«, erkundigte sie sich beim nächstbesten Buchhändler und war froh, dass sie unter Pseudonym schrieb, es also ausgeschlossen war, auf dem Einband mit Foto zu erscheinen. Es wäre doch peinlich, wenn dieser junge Mann sie dabei ertappte, wie sie sich nach ihren eigenen Büchern erkundigte!
Der Angestellte lief mit ihr zum Computer und tippte etwas ein. »Wie war der Name? Freudenreich? Hm.« Seine Finger tanzten erneut über die Tastatur, dann drehten sich die Handflächen nach oben.
»Nicht?«
Ein erneuter Blick auf den Bildschirm. »Tut mir leid, nicht auf Lager. Was genau suchen Sie? Ich kann direkt bestellen, das ist eine relativ unbekannte Autorin bei einem sehr kleinen Münchner Verlag. Dauert allerdings zwei bis drei Wochen.«
Clara stemmte ihre Hände in die Taille. Der Laden verschwamm vor ihren Augen. Unbedeutende Autorin? Kleiner Verlag? Das hatte sie bislang ganz anders gesehen. Aber sollte sie mit dem Angestellten streiten? Worüber? Warum?
Das Flimmern verebbte. Sie winkte ab und stolperte zum Ausgang. Nur weg von hier. Unbedeutende Autorin. Was bildete der Kerl sich ein. Das musste ein Missverständnis sein. Oder der Laden war schlecht geführt. Die ausgezeichnete Kinderbuchhandlung nahe des Gärtnerplatzes hatte alle ihre Bücher vorrätig gehabt, manche gleich dreifach, weil sie so gut verkauft wurden. Drei-, viertausend Euro hatte sie pro Buch und Jahr verdient, und das war erst der Anfang gewesen. Je mehr sie veröffentlichen würde, umso mehr Tantiemen würden sich anhäufen. So hatte sie es sich zumindest ausgemalt. Bis letzten Samstag.
Mit einer Mischung aus Wut und Verzagtheit stapfte sie durch den Schneematsch, der das Pflaster der Fußgängerzone in eine Rutschbahn verwandelt hatte. Merkwürdig, dass die belebte Einkaufsstraße nicht ordentlich geräumt wurde. Viele ältere Herrschaften tasteten sich ängstlich auf Stock oder Schirm gestützt dicht an den Schaufenstern entlang. Auch junge Mütter hatten ihre liebe Not, mitsamt ihren Kindern das Gleichgewicht zu halten. Und den hübschen Mädchen und eleganten Damen, die sich bereits mit zahlreichen noblen Einkaufstüten in der Hand vorsichtig trippelnd den Weg bahnten, sah man es an, dass sie Angst hatten, ihre feinen, teuren Stöckelschuhe zu ruinieren.
Clara war froh um ihre robusten Schuhe mit der dicken Sohle und dem moderaten Absatz und um die nun trockenen Strümpfe. Nicht sehr elegant, aber praktisch. Trotzdem musste auch sie vorsichtig laufen. Das Antiquariat lag am Ende der Straße an einer Kreuzung, gegenüber einer neuen Apotheke und dem Blumenbrunnen. Wehmütig glitt ihr Blick über die Auslagen und Schilder der Läden, die sie passierte. Baden-Badens City hatte sich im Laufe der Jahrzehnte sehr wenig einer austauschbaren Einkaufsmeile mit Filialen aller gängigen Ketten angenähert. Immer noch zeugte die unverwechselbare, schöne alte Bausubstanz vom Glanz vergangener Tage.
Als die verschnörkelte Fassade des einstöckigen Eckhauses in Sichtweite kam, das der Familie Morlock seit Generationen gehörte, fühlte sie sich besser. Die Zahl 1690 über dem Eingang tat kund, wie alt das Haus war, und tatsächlich kam ihr der Laden immer vor wie ein Schlupfloch in die gute alte Zeit. Die tiefen Sprossenfenster, über denen sich dicke, geflochtene kahle Äste des im Frühjahr üppig blühenden Blauregens entlangwanden, waren sicherlich unpraktisch, aber gehörten sie nicht unbedingt zu einem Antiquariat? Obwohl sie keine gute Erinnerung an den letzten Besuch hatte, freute sie sich nun doch, als sie die altmodisch geschwungene Klinke in die Hand nahm und die Tür aufstieß.
Ein Glockenspiel ertönte, aber niemand war zu sehen. Der ungeschliffene Holzboden knarrte leise, durch die Dielenritzen pufften winzige Staubwölkchen, als sie eintrat. Der Geruch nach Holz, Papier, Staub und Bohnerwachs umfing sie, und sie hätte sich nicht gewundert, wenn sie augenblicklich geschrumpft und in ein früheres Jahrhundert katapultiert worden wäre.
Wie sie diesen Ort – trotz allem – liebte! Die überfüllten schlichten Regale reichten bis an die Decke. Dicke, dünne, zerzauste und neuwertige Bücher warteten hier auf ihre Liebhaber, Lederrücken, zerfledderte Pappeinbände, Goldschnitt und preiswerte Taschenbuchausgaben. Altes Wissen, antiquierte Weisheiten, Klassiker, unbekannte Entdeckungen, gebraucht und manchmal wie frisch aus der Druckerei. Ein Universum, ein Tempel, eine Märchenhöhle.
Der Laden besaß drei hintereinanderliegende Räume. Der Hauptraum, in dem sie stand, erstreckte sich wie ausgebreitete Arme über beide Seiten des Hauses. Alte, verzierte Heizkörper spuckten mit leisem Gurgeln und Zischen eine glühende Hitze aus, so dass sie unwillkürlich an Mütze und Schal zerrte. Im nächsten, fensterlosen Raum, den man durch einen Rundbogen betrat, stapelten sich die Bücher nicht nur an Wandregalen hoch, sondern lagen auf kleinen Tischen und auf dem Boden, sogar auf gemütlich durchhängenden alten Sesseln, die wie in einer viktorianischen Teestube zum Verweilen und Schmökern einluden. Allerdings war es hier erheblich kälter als im Hauptraum. Der gusseiserne Ofen, der in diesem Raum den Mittelpunkt bildete, war nicht angeheizt. Ein Adventskranz lag darauf, ohne Kerzen, nur mit roten Schleifen geschmückt. Im Holzkorb daneben stapelten sich Zeitschriften und noch mehr Bücher.
Der angrenzende dritte Raum war mit einem schweren dunkelroten Samtvorhang abgetrennt. Dahinter waren Schritte zu hören, dann teilte sich der Stoff und Gregor Morlock erschien mit einem dampfenden Becher in der einen und einem Schreibblock in der anderen Hand. Die Flüssigkeit in dem Becher roch nach Zimt und Ingwer. Clara merkte plötzlich, dass sie Hunger hatte, und sah erschrocken auf die Uhr. Gleich zwölf! Das Mittagessen! Paps wartete. Sie sollte gehen. Schnell. Sofort.
Offenbar übertrug sich ihr Fluchtgedanke auf Morlock, dessen herzliches Begrüßungslächeln bei ihrem Anblick gefror und in dessen Augen sich ein Anflug von Vorsicht schlich. Bedächtig stellte er Becher und Block neben dem Adventskranz auf dem Ofen ab und steckte seine Hände langsam in die Taschen seiner ausgewaschenen Jeans, wo sie sich erkennbar zu Fäusten ballten. Abwartend musterte er sie.
Je länger Clara in sein verschlossenes Gesicht sah, umso unbehaglicher fühlte sie sich selbst. Sie konnte ihm schlecht auf den Kopf zusagen, welchen Verdacht sie gegen ihn hegte. Außerdem sah er wirklich nicht aus wie ein skrupelloser Schurke, sondern verletzlich und sensibel, nein, eher traurig. Statt ihn anzuklagen, würde sie ihn eigentlich lieber fragen, ob sie ihm helfen könnte. Paps hielt große Stücke auf ihn; vielleicht tat sie ihm unrecht.
Immer noch standen sie sich schweigend gegenüber, unschlüssig, ob sie wie Kampfhähne aufeinander losgehen oder in Ruhe einen Kaffee miteinander trinken sollten.
Der Holzboden knarrte, als Morlock seinen Stand wechselte. Dann schien er sich zu etwas durchgerungen zu haben.
»Dumm gelaufen, gestern. Ich hätte alles erklären ...«, begann er, und sie stammelte gleichzeitig: »Nein, nein, ich habe mich unmöglich benommen.«
Kaum war der Satz ausgesprochen, ärgerte sie sich schon darüber. Das hörte sich an wie eine Entschuldigung, dabei gab es keinen Grund dafür, überhaupt keinen. Im Gegenteil!
»Das stimmt allerdings«, bestätigte ihr Gegenüber auch noch und grinste breit, was ihn noch jungenhafter aussehen ließ.
Hätte er nicht höflich abwehren und es ihr damit wenigstens ein bisschen leichter machen können?
Vor ihren Augen begann es zu flimmern und ihre Hände fuhren in die Hüften. »Herr im Himmel, was haben Sie denn erwartet? Sie tauchen plötzlich auf und ... Also, Sie hätten wirklich ...«
»Regen Sie sich nicht auf!«
»Ich? Ich rege mich überhaupt nicht auf. Was haben Sie eigentlich mit meinen Eltern zu schaffen?«
»Ich versuche ihnen zu helfen, weil sie ja sonst niemanden haben.«
»Werfen Sie mir etwa vor, mich nicht genügend um sie zu kümmern? Das muss ich mir von Ihnen nicht gefallen lassen! Sie haben doch keine Ahnung!«
»Sie missverstehen alles, was ich sage.«
»›Absichtlich‹ haben Sie jetzt noch vergessen.«
»Ach, ich streite nicht mit Frauen in Ihrem Alter.«
»Wie bitte?« Clara blieb die Luft weg. Sie hatte sich verhört. Ganz bestimmt. »Das – das muss ich mir von Ihnen nicht sagen lassen. Sie, Sie ... Bürschlein!«
Gregor Morlock begann zu lachen. Erst war es nur ein leises Glucksen, das sich allmählich über seine Kehle in seinen Brustkorb schlich und dann seinen ganzen Körper zum Beben brachte. Mit einem Grunzen versuchte er sich zu beherrschen, und das machte Clara noch wütender. Sie stampfte mit dem Fuß auf und fuchtelte mit den Armen, damit er endlich aufhörte, sie auszulachen. Dabei fegte sie unabsichtlich den Becher vom Ofen.
Mit einem grässlichen Geräusch zerschellte er auf dem Holzboden. Braune, dampfende Flüssigkeit breitete sich aus und leckte nach einem der Bücherstapel. Eine Schrecksekunde lang herrschte Stille im Laden. Nicht einmal das Rutschen und Klacken der Absätze draußen vor der Tür war mehr zu hören, nur diese Stille. Das brachte Clara wieder zu Verstand. Mit brennenden Wangen bückte sie sich, um die Schriften in Sicherheit zu bringen und stieß dabei fast mit Morlocks Kopf zusammen, der sich ebenfalls auf den Boden kauerte und mit einem Papiertaschentuch ungeschickt Schadensbegrenzung betrieb.
»Es tut mir leid!«, flüsterte sie. »Wirklich! Das wollte ich nicht. Ich – ach, ich bin unmöglich. Entschuldigung.«
Er ließ die Scherben liegen, stand auf, nahm ihr die Bücher ab und legte sie beiseite, dann reichte er ihr die Hände und zog sie hoch. Seine Augenfarbe wechselte dabei von Novembergrau zu Taubenblau, wie es Clara noch nie zuvor gesehen hatte. Als Nächstes nahm sie einen Duft von Orangen und Sandelholz wahr, männlich und frisch, verwirrend. Als sich seine warmen Hände aus den ihren lösten und sich wieder in den Hosentaschen verkrochen, betrachtete Clara ihre Finger erstaunt, die sich mit einem Mal kalt und nackt anfühlten, und schon stieg erneut Ärger in ihr hoch, diesmal Ärger über sich selbst. Was hatte sie nur für Gedanken! Gregor Morlock war Helmuts Sohn! Jemand, der vielleicht ihre Eltern bestohlen hatte. Außerdem war er noch ein halbes Kind! Gerade mal um die Dreißig, so wie er aussah. Rührend vielleicht, aber doch nicht verwirrend!
»Ich muss Ihnen etwas geben«, murmelte Morlock, während er sich wieder auf den Boden kniete und die Scherben aufsammelte. Sein Gesicht färbte sich feuerrot, die Röte kroch ihm aus dem Rollkragen zu den Ohren, als stünde er in der Schule an der Tafel und wüsste die Aufgabe nicht mehr.
Clara spürte so etwas wie Mitleid aufsteigen – oder was sonst? Einen Funken Zuneigung? Nie und nimmer! Bloß nicht! So schuldbewusst, wie er dreinblickte, würde er gleich ein Geständnis ablegen. Da brauchte sie kein Mitgefühl, sondern einen Zeugen, ein Tonband zum Mitschneiden, einen Beweis ...
Langsam hob er den Kopf. Seine Augen wurden wieder dunkelgrau, während er sich aufrichtete und die Scherben weglegte. Bedächtig wischte er sich die Hände an der Jeans ab, ging in den Hauptraum und öffnete eine Schreibtischschublade. Er konzentrierte sich darauf, den Inhalt zu durchwühlen. Währenddessen brummelte er etwas, das Clara nicht verstand, aber das Wort »Geld« fiel, das konnte sie ganz deutlich hören. Ihr Herz wummerte und sie stemmte ihre Hände in die Hüften, diesmal, um Halt zu finden.
»Sagten Sie Geld? Was für Geld?«
Er senkte den Kopf tiefer. »Es ist mir so peinlich«, murmelte er. »Aber ich brauche es wirklich dringend.«
»Aha! Und da haben Sie den Schmuck genommen ...«
»Schmuck? Welchen Schmuck?« Das Rot auf Gesicht und Hals vertiefte sich. »Was – was denken Sie von mir? Hier, hier habe ich es!«
Mit einem erleichterten Seufzer drückte er ihr einige Blätter in die Hand. Zahlenkolonnen waren darauf aufgelistet. Zahlen hinter Daten und eng beschriebenen Zeilen.
»Lebensmittel«, las Clara, »Getränke, Dübel, Farbe, Markt, Reinigung, Dünger, Arbeitseinsatz, Stundenlohn, Brot, Metzger, Obst.«
Zeile um Zeile, Ausgabe um Ausgabe war aufgeführt, beginnend im Mai dieses Jahres. Am Ende mit Datum vom vergangenen Freitag stand die Summe: 4032 Euro.
»Du lieber Himmel!«, entfuhr es Clara.
»Ich kann alles belegen«, haspelte Morlock und kramte weiter, bis er mehrere Bündel Zahlungsbelege und Quittungen hervorzog. »Ich hätte gern gewartet, bis es Ihrer Mutter bessergeht, aber ich brauche das Geld jetzt.«
Clara wollte sich in einen Sessel sinken lassen, aber ein Bücherstapel auf der Sitzfläche hinderte sie daran, und so fuhr sie wieder hoch und starrte die Summe verwirrt an.
»Warum hat sie das nicht längst bezahlt?«, fiel ihr dazu nur ein.
Gregor hob seine schmalen Schultern. »Sie hat mir versprochen, dass ich es bekomme, das hat mir genügt. Ich, ich wollte nicht ständig nachfragen. Sie kennen sie ja. Und bis Mai habe ich ja Geld bekommen, manchmal sogar mit ein paar Euro Trinkgeld extra.«
»Sie haben seit Mai unentgeltlich gearbeitet und seit Oktober sogar die Einkäufe für meinen Vater bezahlt?«
Er nickte. Das Rot auf seinen Wangen ebbte langsam ab und hinterließ rührende, kreisrunde Flecken.
»Ich wollte ihn nicht beunruhigen. Für die Finanzen war ausschließlich Ihre Mutter zuständig.«
Clara kämpfte mit sich. Das hörte sich so unglaublich an, dass es fast wahr sein konnte. Mit den Quittungen schien alles in Ordnung zu sein. Wo aber war der Schmuck? War das hier ein Ablenkungsmanöver? Hatte er vielleicht ...
»Haben Sie für Ihre Forderungen ein Pfand genommen?«
»Aber nein. Es war ja auch okay. Nur jetzt ... Es ist wirklich dringend, sonst hätte ich Sie nicht gleich damit überfallen. Gott, ist mir das peinlich. Ach, entschuldigen Sie. Wie geht es Ihrer Mutter überhaupt?«
»Nicht gut«, sagte Clara, während sie überlegte, was sie tun sollte.
Die Forderung war offenbar berechtigt und musste beglichen werden. Aber wie? Sie selbst war schon seit einer Woche in den roten Zahlen und es waren so schnell keine Einnahmen zu erwarten.
Ach, was machte sie sich nur immer für Gedanken. Natürlich brauchte sie nichts aus eigener Tasche zu bezahlen. Sie war nicht verpflichtet, persönlich für die Schulden ihrer Mutter zu haften. Sie brauchte nur eine Vollmacht für das Konto ihrer Eltern, und schon würde sie Morlock die Summe auf Heller und Pfennig aushändigen. Noch heute Nachmittag. Es war ganz einfach.