Читать книгу Das Kalte Haus - Rita Hampp - Страница 6
Zwei
ОглавлениеEine Nacht kann lang werden, wenn man sich grübelnd im Bett herumwirft, alte Steine umdreht und sein Leben neu plant. Um sechs Uhr hatte Clara genug. Sie wollte mit Jan reden und sich entschuldigen, sofort! Und da Jan Frühaufsteher war und immer noch sein Handy ausgeschaltet hatte, wählte sie, noch im Nachthemd, die Nummer der Sauerlacher Post und ließ sich von der Rezeption mit seinem Zimmer verbinden.
Es klingelte nur ein paar Mal.
»Ja-aaa?«
Die verschlafene Frauenstimme, die sich meldete, kam Clara irgendwie bekannt vor. Aber das konnte nicht sein.
»Oh, da hat man mich falsch verbunden. Entschuldigung«, sagte sie schnell. »Ich wollte das Zimmer von Herrn Bader.«
»Passt schon. Schnuffibär? Für dich!«
»Nein, nein, ich meinte Herrn Jan Bader.«
»M-hm. Moment.«
Clara konnte sich vor Schreck nicht rühren. Ihre Hand krampfte sich um den Hörer des schnurlosen Apparats und sie stand auf, weil sie auf keinen Fall mehr auf der Bettkante sitzen konnte. Sie hörte Wassergeräusch, Schritte, die näher kamen, dann die bekannte Stimme.
»Hallo?«
»Jan?«
»Oh.«
Die Pause dehnte sich auf beiden Seiten wie das Tor zur Hölle. Clara wurde es kalt und heiß zugleich. Benommen ging sie zur großen Glastür, die auf die Dachterrasse hinausführte und die sich lautlos öffnen ließ. Noch lag die Stadt im Dunkeln, die Luft roch nach Schnee, viel zu unschuldig für das, was sich hier gerade abspielte.
»Jan?«, fragte sie noch einmal, weil sie es nicht glauben wollte. »Wer ist die Frau in deinem Zimmer?«
»Ähm, du, das kann ich dir erklären.«
»Ja, bitte!«
»Also, jetzt ist das etwas ... also, es ist spät geworden gestern und ... ach Scheiße. Was rufst du mich überhaupt hier an? Ist was passiert?«
»Jan, fang nicht wieder einen Streit an, nur weil du mir nicht antworten willst! Sag mir, was los ist. Und zwar nicht am Telefon, sondern persönlich. Komm bitte her, oder ...«
»Oder was? Drohst du mir? Womit denn? Wer fängt denn immer mit dem ewigen Genörgel an?«
»Jan, ich möchte eine Erklärung, wer morgens um halb sieben bei dir im Bett liegt. Ist das zu viel verlangt?«
»Du willst wissen, wer? Kannst du dir das nicht denken?«
»Jan, bitte nicht am Telefon.«
»Ich kann es dir gerne sagen, wenn du es unbedingt hören willst. Ja, ich sag es dir, damit das Theater endlich ein Ende hat. Das ist ja alles nicht mehr zum Aushalten.«
»Sei still!«, schrie Clara und stürzte hinaus an die frische Luft, weil sie sonst erstickt wäre.
Unten glänzte der Asphalt, ein Auto versuchte einzuparken, der Besitzer vom Zeitungskiosk gegenüber schob das Gitter vor seiner Ladentür hoch. Banale Alltagsdinge, die ihr jedoch fast surrealistisch vorkamen und die sie nur am Rande wahrnahm.
Jans weiche Stimme mit dem bayerischen Akzent, in der immer ein leises Lächeln mitschwang und die in jeder anderen Situation hinreißend, jetzt jedoch absolut unerträglich war, kroch weiter aus dem Hörer. »Ich hätte es dir längst sagen sollen, ich weiß. Tut mir leid, wenn du das jetzt auf diesem Wege erfährst ...«
»Still! Ich will nicht! Nicht so! Nicht am Telefon! Komm her, du Feigling!«
»Nicht in diesem Ton!«
»Ich diskutiere das nicht am Telefon, basta!«, brachte sie gerade noch mit aller Wurde heraus, dann drückte sie das Gespräch weg.
Ihr war schlecht, sie hatte das Gefühl, als habe ihr jemand Pudding in die Knie gespritzt, aber es wurde ihr keine Sekunde gegönnt, um die Nachricht zu verdauen, denn schon klingelte der Apparat in ihrer Hand wieder.
Er betrog sie und wollte sie am Telefon abspeisen? Das war doch das Aller-, Allerletzte!
»Nein!«, hörte sie sich wie von Ferne schreien. »Neiiiin!«
Dann holte sie aus und warf den Apparat in die Tiefe. Sie konnte weder sehen noch hören, wie und wo das Teil auf der Straße auftraf und in tausend Teile zersplitterte, doch das war egal, es hatte einfach nur gutgetan. Kindisch war das und fast hörte sie Jans Spott hinter sich, doch als sie fröstelnd in die Wohnung zurückkehrte, war niemand da, und das würde auch so bleiben. Unwiederbringlich. Für immer.
Zitternd lehnte sie sich an die Betonwand und betrachtete den kahlen Raum, in dem sie sich nie richtig wohlgefühlt hatte. Den würde sie nicht vermissen, wohl aber die Abende in seiner Gesellschaft, das gemeinsame Kochen, die herzhaften Diskussionen, den herrlich selbstverständlichen, heiteren, unbeschwerten, gleichberechtigten Sex, die faulen, kuscheligen Sonntage, die Spaziergänge im Englischen Garten oder an der Isar, schlicht die alltägliche Zweisamkeit. Damit war jetzt also Schluss.
Wie in Trance bereitete sie sich mit ihrem kleinen Kocher einen Espresso zu, bärenstark und bitter, dann holte sie die Zeitung herein, die der nette Nachbar aus dem Stock unter ihnen immer vor die Tür legte. Sie konnte jetzt nichts lesen, auch nichts denken. Gar nichts.
Langsam sank sie auf die schwarze Ledercouch und fror noch mehr.
Aus. Aus. Aus.
Mehr konnte sie nicht denken.
Stunden saß sie erstarrt und hielt die Stille aus, dann zog sie sich an und wartete weiter, störrisch, gegen jede Vernunft. Er würde nicht kommen. Aber das wollte sie nicht wahrhaben. Nicht jetzt.
Irgendwann schaffte sie es, ihr Handy aus der Handtasche zu holen und Simone anzurufen.
Die reagierte erneut unnatürlich. »Hast du sie am Telefon erkannt?«, fragte sie gepresst.
Und in diesem Augenblick fiel in Claras Kopf das Puzzle zu einem Bild zusammen. Simones Abwehr, die seltsam vertraute Frauenstimme – das war doch nicht möglich?
»Sie ... sie klang wie ... also, so ähnlich wie Britta.«
Stille.
»Simone?«
Stille.
»Simone? Sag, dass das nicht wahr ist. Nicht Britta!«
»Bin ich froh, dass du es jetzt weißt. Dieses Versteckspiel ...«
»Du ... du hast die ganze Zeit gewusst, dass Jan mit deiner Nichte ein Verhältnis hat?«
Stille.
»Oh mein Gott! Simone! Doch nicht Britta!«
Das Bild eines fröhlichen blonden Teenagers stieg in ihr auf. Wann hatte sie das Mädchen zum letzten Mal gesehen?
»Sie ist doch noch ein Kind!«, stammelte sie und ließ sich auf die Couch zurückfallen.
»Sie ist fünfundzwanzig.«
»Dreißig Jahre jünger als er!«
»Ja.«
»Aber warum? Simone, wieso hast du mir nichts davon gesagt? Du hast doch mitbekommen, welche Schwierigkeiten wir in letzter Zeit hatten und wie ich mich geplagt habe. Wie lange geht das überhaupt schon?«
»Seit meiner Silberhochzeit.«
»Seit Mai? Und du rätst mir noch im Juni, zu Jan zu ziehen und alles aufzugeben? Du weißt selbst am besten, wie teuer München ist. So eine Wohnung wie die im Glockenbachviertel zu dem Preis kriege ich nie mehr.«
»Ach, hör auf!«
Clara verschlug es allmählich die Sprache. »Sag mal, ist dir eigentlich klar, was gerade passiert ist? Kannst du mich bitte mal fragen, wie es mir geht?«
»Das gilt genauso für mich. Meinst du vielleicht, es war toll für mich, dich sehenden Auges in dein Unglück rennen zu lassen? Hast du dir mal überlegt, wie es mir ergangen ist, weil ich dir nichts sagen durfte?«
»Das ... das glaub ich jetzt nicht. Du bist das Opferlamm? Oder was willst du mir sagen?«
»Ich will dir sagen, dass ich als deine Freundin eine schwere Zeit durchgemacht habe und dass ich dir jetzt ...«
»Freundin? Schöne Freundin! Vielen Dank aber auch. Auf so jemanden kann ich wirklich verzichten.«
Stille.
Clara wartete verzweifelt auf ein Wort der Entschuldigung; ein einziges, winziges würde reichen!
Im Hintergrund war das Schnappen eines Feuerzeugs zu hören, dann meldete sich Simones kühle Stimme wieder. »Bitte, ich werde dich nicht hindern aufzulegen. Du kannst dich ja wieder melden, wenn du dich beruhigt hast!«
Clara zwinkerte heftig und war versucht, sich in den Arm zu kneifen oder sich nach einer Kamera umzusehen. Das war alles so aberwitzig, so absurd! Das geschah ihr doch nicht wirklich!
Jan, Britta, Simone ...
Warum nur? Warum?
Langsam rutschte sie von der kalten, glatten Couch auf den ebenso kalten, glatten Parkettboden und blieb dort stocksteif sitzen, während sie versuchte, das Geschehen zu begreifen.
Hatten Jan und sie nicht immer und immer wieder darüber diskutiert, wie lächerlich es war, wenn Männer ihre altgedienten Partnerinnen gegen blutjunge Freundinnen austauschten? Sie hatte seine Worte noch gut im Ohr: »Bei dir muss ich mich nicht verstellen. Wir haben die gleiche Wellenlänge, die gleichen Ansichten. Das ist eben der Vorteil, wenn man gleich alt ist. Was haben die alten Säcke nur mit diesen jungen, dürren Trophäenfrauen? Wenn ich ›1968‹ sage, wissen wir beide aufs Stichwort, was ich meine. 1968 – da waren diese Küken noch nicht mal geboren. Über was unterhalten die sich überhaupt?«
So hatte Jan noch im Juni geredet. Und jetzt? Jetzt war er selber solch ein »alter Sack« und sie das Auslaufmodell, eingetauscht gegen ein blutjunges Ding.
Ausgerechnet Britta! Ihre ersten drei Kinderbücher hatte sie dem einstigen süßen Fratz gewidmet, und Britta hatte die Geschichten geliebt. Früher. Tja. Jetzt liebte sie Jan.
Claras Blick fiel auf die Glasvitrine, in der sie sich spiegelte, und biss sich auf die Lippen. Was für eine alte, schwarze Unglückskrähe sie geworden war! Ihre schwarzen Kräusellocken standen ihr störrisch wie Draht vom Kopf ab, der Lippenstift auf ihrem Clownmund war verschmiert, unter den schwarzen Augen klebten verwischte Klümpchen von Wimperntusche und in ihrem schwarzen kurzen Wollrock, dem schwarzen Rollkragenpullover und der schwarzen Strumpfhose war sie ein Trauerbild zum Davonlaufen. Kein Wunder, dass Zucker-Britta mit ihren Bonbonfarben und ihrer Unkompliziertheit leichtes Spiel bei Jan gehabt hatte.
»Schluss damit«, murmelte sie und stand ächzend auf. Auf dem blanken Fußboden zu sitzen war wirklich nicht altersgerecht! Alles tat ihr weh!
Sie stemmte die Hände in die Hüften und zwang sich, ihre Lage nüchtern zu betrachten. Sie sollte froh sein, dass endlich Klarheit bestand. Jetzt wusste sie, dass all diese sinnlosen Streitereien gar nichts mit ihr zu tun gehabt hatten. Das half. So war die Lage, sie konnte sie nicht ändern und dass Jan auf Tauchstation blieb, bedeutete, dass auch er nichts tun wollte, um sie zu halten. Es wurde also Zeit, den Tatsachen ins Auge zu sehen und sich Gedanken über die Zukunft zu machen.
Am besten, er würde bleiben, wo der Pfeffer wuchs, zumindest bis sie eine neue Unterkunft hatte. Er hatte mehr Geld als sie. Sollte er sich doch ein Zimmer nehmen oder gleich bei seiner Britta unterkriechen. Hoffentlich hatte sie nur eine kleine, vollgestellte Einzimmerwohnung! Da würde ihn schon bald das Grausen einholen und ihn hierher zurücktreiben. Tja, aber wohl nicht in ihre Arme. Wenn er kam, würde er diese kühle, aufgeräumte Offenheit für sich allein haben – im besten Fall. Clara Funke, seine abgelegte Lebensabschnittsgefährtin, würde da nur stören.
Als Erstes brauchte sie also eine neue Bleibe, und zwar schnell. Am besten schon morgen. Aber wo? Oder bei wem? Simone schied aus, andere Freunde oder Bekannte waren nicht so eng, dass sie bei ihnen wohnen wollte, und ein Hotel war zu teuer. Beim Stichwort Hotel fiel ihr die Buchung in Venedig ein. Wahrscheinlich war die gar nicht für sie, sondern für Britta gedacht gewesen. Mistkerl! Wann hatte er es ihr gestehen wollen? Am Tag vor Heiligabend mit gepackten Koffern?
Ach, es brachte doch nichts, wenn sie sich mit solchen Gedanken zerfleischte. Wahrscheinlich wartete unten im Briefkasten schon eine Nachricht ihres Verlags samt sattem Vorschuss, dann war sie zumindest finanziell erst einmal unabhängig. Schon bereute sie, dass sie Jans Werben dermaßen nachgegeben hatte, dass sie sogar ihren Beruf vernachlässigt hatte.
»Wenn du bei mir lebst, brauchst du dir nie mehr Sorgen um Geld zu machen. Hör auf, Bücher zu schreiben, davon wirst du nie reich – und das bei der Zeit, die du dafür investierst, das lohnt sich nicht«, hatte Jan ihr gepredigt, und irgendwann hatte sie ihren Laptop zugeklappt und sich die Freiheit eines Jahrs unbezahlten Nichtstuns gegönnt. Wenigstens hatte sie, als es ihr langweilig wurde, im Sommer den vor Monaten beendeten »Troll mit den grünen Haaren« weggeschickt, und an und für sich hätte der Verlag längst antworten müssen.
Clara musste sich zusammenreißen, um hinunter zum Briefkasten zu gehen. Sie hoffte inständig, im Treppenhaus oder im Lift nicht dem fröhlichen Volker aus dem zweiten Stock zu begegnen, über den sie sich die ganze Zeit lustig gemacht hatten, weil er seit Kurzem eine Freundin hatte, die zweiundzwanzig Jahre jünger war als er, die ihn in enge Jeans und spitze Schuhe zwängte und in ohrenbetäubende Konzerte mitschleppte, von denen er Kopfschmerzen bekam. Volker war Psychologe von Beruf und hatte in letzter Zeit öfter zweideutige Anspielungen über untreue Partner fallen gelassen, die plötzlich Sinn machten. Ausdiskutieren wollte sie das ausgerechnet heute aber nicht mit ihm.
Aber wer schlich schon erst in der Nachmittagsdämmerung zum Briefkasten! Sie war allein, als sie den großen Umschlag herausfischte, ihn ahnungsvoll hin- und herdrehte. Dicke Umschläge – die kannte sie noch aus der Zeit vor vielen Jahren als Anfängerin, als sie ihre unverlangt eingesandten Manuskripte zurückbekam. Aber seitdem sie Clara Freudenreich war, die erfolgreiche Münchner Kinderbuchautorin, war ihr das nicht mehr passiert. Ihr Verlag hatte den »grünen Troll« im Gegenteil sogar explizit haben wollen.
Jetzt bedauerte sie, dass sie am Morgen die Zeitung ungelesen auf den Küchentresen gelegt hatte. Wenigstens das Horoskop hätte sie ansehen sollen, dann wüsste sie, ob ihre Hände nun zu Recht zitterten oder ob es nur die seit Stunden strapazierten Nerven waren, die gerade mit ihr durchgingen.
Im Aufzug hielt sie es nicht mehr aus und riss den Umschlag auf. Tatsächlich! Man hatte das Manuskript abgelehnt. Die Verkaufszahlen seien in letzter Zeit zurückgegangen, man wolle ihre Serie daher einstellen, wünsche ihr aber auf dem weiteren Weg alles Gute, bla, bla, bla ...
Wie viel Geld hatte sie noch? Sie hatte meistens mit ihrem eigenen gezahlt, weil sie sich geniert hatte, Jans Kreditkarte zu benutzen, was natürlich im Nachhinein dumm gewesen war. Hinzu waren all die Geschenke für ihn gekommen, die sich natürlich an seine Maßstäbe angepasst hatten, Designerkrawatten für hundertfünfzig Euro, eine teure Glasskulptur, die ihm gefallen hatte, und natürlich die Einkäufe fürs tägliche Leben. Irgendwann hätten sie schon ihre Bestände zusammengelegt und geteilt, davon war sie ausgegangen, so hatte Jan es ihr versprochen, erst recht, nachdem sie auf sein Zuraten vor drei Monaten Gerhard gegenüber auf jeglichen Unterhalt auch in Zeiten der Not verzichtet hatte, vierzehn Jahre nach der Scheidung. Als Rechtsanwalt hatte Gerhard das natürlich gleich notariell beglaubigen lassen, typisch. Wenn nun die Einnahmen für die Bücher ausblieben, dann war sie schlicht und ergreifend pleite.
Irgendwie schaffte sie es in die Wohnung, an den kalten Küchentresen, dann schloss sie die Augen und holte tief Luft. Ein bisschen viel für einen Tag! Das konnte doch den stärksten Gaul umhauen. Wohnung weg, Mann weg, Freundin weg, Job weg, Geld weg. Und jetzt?
Sie wusste es nicht, aber ihr war klar, dass sie irgendetwas tun musste, sonst würde sie durchdrehen. Scheinbar wie von selbst zog sie die Zeitung zu sich und schlug die gewohnte Rubrik auf, obwohl sie ja ahnte, was ihr blühte: Eine überraschende Mitteilung macht Sie betroffen, nicht alles läuft bei Ihnen nach Plan. Es könnten finanzielle Einbußen drohen.
Volltreffer!