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Drei

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»Verrat mir, was ich tun soll! Gib mir einen Wink!«, rief sie halb verzweifelt, halb ironisch dem unbekannten Astrologen zu, der immer alles besser wusste als das Leben. Dann schob sie frustriert die Zeitung beiseite.

Ein Zettel kam darunter zum Vorschein. Da war es wieder, dieses verdammte Schreiben, über das sie sich gestern noch so gefreut hatte! Hotel Dei Dragomanni. Venedig. Der Preis war laut Anhang bereits von Jans Kreditkarte abgebucht.

Nachdenklich starrte Clara auf das Papier. Venedig! Man musste ja nicht fliegen. Sie kannte die Strecke auswendig, so oft war sie sie als Kind mit dem Finger auf der Landkarte nachgefahren. Von München über Innsbruck über den Brenner, und dann: Bolzano! Verona! Padova! Und schließlich Venézia! Rialtobrücke, Piazza San Marco, Palazzo Ducale, Academia di belle Arti, Lido, Murano ...

Britta würde gelangweilt sein, so oft hatte Simone sie in den Ferien dorthin mitgeschleppt, von Clara aus der Ferne glühend beneidet.

Das war nicht gerecht.

Und hier war die Buchungsnummer. Ob sie ...?

Clara wurde es heiß. Was ihr da durch den Kopf schoss, war nicht legal. Oder nur halb. Denn bis vor wenigen Stunden war sie ja davon ausgegangen, dass sie die Hälfte des Zimmers belegen würde. Im Prinzip gehörte es ihr fast.

Und gerechter wäre es auch.

Sie könnte sich für den Weg Zeit lassen. Sie könnte ein paar nette Weingüter im Veneto ansteuern. Sie konnte sich erkundigen, ob sie irgendwo günstig in einem rustico über den Winter unterkommen könnte, um ein neues Buch zu schreiben, eines für einen neuen Verlag, eines, das die Bestsellerlisten stürmen würde, für das sie einen saftigen Vorschuss kassieren würde ...

Ja! Ja, ja, ja!

Venedig! Das Schicksal wollte es so!

Die Umbuchung war mit wenigen Klicks und Eingaben geändert, die Bestätigung trudelte binnen zehn Minuten ein, kein Mensch wunderte sich, dass die Änderung an einen anderen E-Mail-Account ging als die Buchung selbst. Mit der richtigen Reservierungsnummer war das offenbar kein Problem.

Clara klopfte das Herz bis in den Hals, wie früher, wenn sie etwas Verbotenes im Keller der elterlichen Villa angestellt hatte. Egal. Betrug verdiente Halbbetrug! Es würde Jan nicht umbringen, und er würde schön blamiert sein, wenn er vor Ort erfuhr, dass das Zimmer umgebucht worden war und er ausgerechnet am Tag vor Weihnachten ein neues Quartier für sich und die sicher quengelnde Britta suchen musste.

Allerdings wollte sie ihm eine Chance geben. Sie würde auf ihn warten, bis dieser Tag zu Ende war, bis Mitternacht, Glockenschlag! Wenn er bis dahin nicht kam, war die Sache beendet und sie würde fahren. Das Hotel erwartete ihre Ankunft Mitte der nächsten Woche.

Sie würde Laptop und warme Sachen mitnehmen, der Rest hatte Zeit. Oder nicht? Wenn sie sich ihren Traum erfüllen konnte und ein abgeschiedenes Landhaus fand, das – zur Not mit einem Vorschuss von Jans Kreditkarte, als Wiedergutmachung für seelische Grausamkeit – bezahlbar war, dann würde sie nicht mehr in diese Betonwände zurückkehren. Ihr alter Volvo Kombi war groß genug, da würden die paar Habseligkeiten, die sie hierhergebracht hatte, hineinpassen. Beim Umzug hatte der Laderaum auch für eine einzige Fuhre ausgereicht. Fünf Bücherkisten, zwei Koffer, ein Karton Küchenutensilien, ein paar Aktenordner und ihr Laptop – erstaunlich, wie wenig man wirklich brauchte.

Das Wichtigste war natürlich Jans Kreditkarte, oh ja. Er hatte sie ihr ja monatelang regelrecht aufgedrängt. Sie würde nicht mit Geld um sich werfen, lieber würde sie jeden Euro fünfmal herumdrehen, ehe sie einen von ihm nahm, aber für die nächsten Monate würde sie davon leben können, wenigstens so lange, wie sie die Unterstützung dringend brauchte. Eine Beruhigung, mehr nicht. Sie konnte in Italien arbeiten. In einem Restaurant vielleicht. Spontan!, sagte sie sich vor. Sei einmal im Leben spontan!

Sie hatte fast alles im Auto, als der Zeiger an der Frauenkirche sich langsam der Zwölf näherte. Ein paar Minuten noch, dann würde der schwärzeste Tag ihres Lebens vorbei sein. Mehr Unglück war nicht in einen einzigen Tag hineinzupacken.

Vier Minuten noch.

Ihr Handy begann zu klingeln.

Sie ignorierte es. Wie konnte Jan es wagen. Er wusste, dass sie nicht abnehmen würde! Er sollte herkommen, verdammt, und ihr seine Verlogenheit ins Gesicht sagen!

»Feigling!«, schrie sie das Telefon an, aber irgendwie klang es wirklich etwas theatralisch.

Ihre Wut war bereits zu einem guten Teil verraucht, sie musste sich mit der Situation abfinden, ändern konnte sie sie ja nicht. Und die Aussicht auf Italien half über den Schmerz hinweg. Ihr ganzes Leben hatte sie davon geträumt, jetzt endlich wurde es wahr!

Eigentlich wäre es bedauerlich, wenn Jan ihr im letzten Moment noch einen Strich durch die Rechnung machen würde.

Sie hatte die Mailbox ausgeschaltet, deshalb klingelte das Handy und klingelte ... Beim achten Ton warf sie einen Blick aufs Display. Eine unterdrückte Nummer. Anonyme Telefonate konnte Jan nicht ausstehen. Also war es nicht er.

Wer dann? Ein Callcenter etwa?

Um Mitternacht anzurufen war absolut ungehörig. Damit versetzte man seine Mitmenschen in Angst und Schrecken. Damit machte man keine Scherze!

Energisch drückte sie auf die Empfangstaste. »Hören Sie gut zu«, wollte sie losfauchen, doch ihre Stimme machte nicht mit.

Es kam nur ein rostiges Krächzen aus ihrem Hals und sie musste sich mehrfach räuspern, um die Kehle freizubekommen.

Der Anrufer nutzte die Pause. »Spreche ich mit Clara Funke? Der Tochter von Katharina und Friedrich Funke aus Baden-Baden?«

Kein bayerischer Akzent, kein einschmeichelndes leises Lachen. Diese Stimme klang jung, sympathisch und sehr ernst.

Clara griff sich an den Hals und wanderte durch die Wohnung, um sich zu beruhigen, doch es gelang ihr nicht. Ihr Herz begann zu rasen. Die letzte Katastrophe des Tages kündigte sich an, das spürte sie.

»Worum geht es?«, fragte sie mit trockenem Mund und setzte sich vorsichtig aufs Bett, auf Jans Seite, die sie vor Stunden abgezogen hatte.

Warum eigentlich? Es war doch sein Bett und seine Wohnung. Sie hatte hier nichts mehr verloren.

Ihre Gedanken wussten nicht, wohin sie laufen sollten. Es strengte sie zu sehr an, dem zu folgen, was der Fremde am anderen Ende ihr mitteilte.

»Das, das glaub ich nicht«, stotterte sie schließlich. »Wiederholen Sie das bitte.«

Unbeirrt redete der Unbekannte weiter, wie aus weiter Ferne. Träumte sie? Ja, das konnte nur ein Alptraum sein.

»Meine Mutter liegt im Krankenhaus und will mir dringend etwas Wichtiges sagen? Meine Mutter? Mir? Ausgerechnet mir? Hören Sie, Sie müssen sich irren. Von wem sprechen Sie? Das kann nicht meine Mutter sein. Sie verwechseln mich.«

»Es tut mir sehr leid, Frau Funke. Es ist wirklich ernst. Entschuldigen Sie die späte Störung, es war schwierig, Ihre Handynummer herauszufinden, und nun wollte ich nicht länger warten.«

Zerstreut betrachtete sie sich im Schlafzimmerspiegel. Sie war nicht schön im klassischen Sinn, für ein Model war sie zu klein und zu – naja – drall, und ihre schwarzen Haare waren nicht glatt und cool genug, sondern waren einfach nur ein gekräuselter Schrecken. Engelshaar hatte ihr Vater es immer genannt – »eigenwillig wie dein Charakter«. Und Jan? Merkwürdig. Er hatte sich fast nie über ihr Aussehen geäußert. Für ihn war sie immer die »klügste und schlagfertigste Frau, die ich kenne« oder er betete sein bekanntes Sprüchlein von der »talentiertesten Kinderbuchautorin und besten Köchin unter der Sonne Münchens« herunter. Pah!

Für eine schier unendliche Zeit konnte sie nichts anderes tun als die Frau im Spiegel anzustarren. Bis zu dieser Sekunde hatte sie sich eingebildet, niemand würde ihr ihr Alter ansehen. Erst letzte Woche hatte jemand sie auf Anfang vierzig geschätzt und sie hatte ihn nicht verbessert, sondern sich diebisch gefreut. Aber nun? Waren die weißen Fäden in ihren Locken letzte Woche auch schon da gewesen? Ihr Hals zeigte Knitterfalten, ihre sonst glänzenden Kohleaugen steckten matt in ihrem Gesicht und ihr Mund hatte sein Lächeln verloren. Ein schwarzes Häufchen Unglück. Ja, das war sie.

»Wie erreiche ich Sie? Wer sind Sie überhaupt? Morlock, sagten Sie? Aus Baden-Baden? Sind Sie verwandt mit ... Hallo?...«

Die Leitung war tot.

Sie war allein.

Mutterseelenallein.

Das war doch alles grauenhaft! Konnte sie nicht bitte aufwachen und nichts war geschehen? Vielleicht hatte sich jemand nur einen schlechten Scherz erlaubt. Das sollte sie als Erstes klären.

Mit zitternden Fingern ließ sie sich über die Auskunft mit der Klinik in Baden-Baden verbinden. Dort bestätigte man ihr, dass eine Katharina Funke tatsächlich Patientin war. Näheres ließ sich allerdings nicht herausfinden. Sie möge bitte tagsüber anrufen, beschied man ihr kurz angebunden.

Wie erschlagen blieb sie auf der Bettkante sitzen. Warum verband man sie nicht mit ihrer Mutter? Wie ernst war es? Weshalb hatte man sie in die Klinik gebracht? Sie war doch immer gesund gewesen. Es konnte nichts Schlimmes sein. Es durfte nichts Schlimmes sein. Alles in ihr drängte sie, sofort loszufahren, nach dem Rechten zu sehen und ihrer Mutter beizustehen. Dann jedoch gewann ganz langsam ihr Verstand die Oberhand. Wie Sodbrennen stieg altbekannter Groll in ihr hoch. Was hatte ihre Mutter jemals für sie getan? Nichts! Liebe, Sorge, Geborgenheit, Verständnis, Vertrauen, Zärtlichkeit – all das, was einem landläufig zum Begriff Mutterliebe einfiel, hatte sie sich in Märchen erfinden müssen, niemals aber am eigenen Leib gespürt. Warum also hinfahren? Es würde keinen Sinn machen. Ihre Mutter würde den Kopf wegdrehen und sie fortschicken, kühl und verächtlich.

Doch da tauchte das Bild ihres Vaters auf und damit einher unendliche Zärtlichkeit. Er war einundneunzig, geistig zwar außerordentlich rege, aber körperlich ein Wrack. Ihm musste sie helfen. Er kam ohne ihre Mutter gar nicht zurecht in dem großen Haus.

»Ach Paps«, entfuhr es ihr, und die Frau im Spiegel zeigte ein kleines, wehmütiges Lächeln. Sie liebte ihn, wie sie es schon als kleines Mädchen getan hatte: vorbehaltlos, schrecklich, inniglich. Wie hatte er sich bemüht, die Gefühlskälte ihrer Mutter auszugleichen, hatte Zeit für sie gehabt, hatte versucht zu vermitteln und ihr eingeredet, ihre Mutter habe sie sehr lieb, könne es nur nicht zeigen. Das hatte sie schon als Kind nicht glauben können, und auch jetzt zog sich ihr Magen zusammen, wenn sie an ihre Mutter dachte. Diese Frau brauchte ihre Hilfe nicht. Diese Frau konnte unmöglich nach ihr gerufen haben, ausgerechnet nach ihr, der ungeliebten, missratenen Tochter, die in ihren Augen alles falsch machte, seit ihrer Geburt.

Es war ja typisch, dass sie die Nachricht ihrer Mutter ausgerechnet in dem Augenblick erreichte, in dem sie sich endlich, endlich ihren Kindheitstraum Italien erfüllen wollte!

Ein glühender Ball knotete sich in ihrer Brust zusammen, explodierte und jagte wie ein gewaltiges Feuer durch ihre Blutbahnen und trieb ihr im gleichen Augenblick den Schweiß aus allen Poren. Liebe Güte, was war das? Jetzt wurde sie auch noch krank! Das ging nicht. Sie konnte und wollte sich nicht in Jans Wohnung hinlegen und auskurieren müssen. Wenn Jan wider Erwarten nach Hause käme und sie im Bett vorfände, ausgerechnet – nein, das war undenkbar! Fieber hin oder her.

Verwirrt hechelte sie und fächelte sich mit den Händen Luft zu. Dann öffnete sie die Tür zur Dachterrasse und ließ einen Schwall Winterluft herein. Es roch immer noch nach Schnee, dicke Wolken hingen über der Stadt. Unten in den Schaufenstern erlosch eine vorzeitige Adventsbeleuchtung nach der anderen. Erst vorgestern hatten Jan und sie noch eine herrlich hitzige Debatte darüber geführt, wie die Adventszeit aus lauter Geschäftemacherei immer weiter vorgezogen wurde. So einig waren sie sich gewesen – und wie unbedeutend war das jetzt.

Angstvoll lehnte Clara die Stirn an das kalte Fensterglas und zwang sich, noch einmal tief durchzuatmen. So ging es ihr besser, merkwürdig, wie schnell das gekommen war und wie rasch es wieder verflog. Wenn ihre Wäsche nicht klitschnass und eiskalt auf der Haut kleben würde, könnte sie denken, sie habe sich diesen Fieberanfall nur eingebildet.

Was blieb, war die Sorge um ihren hilflosen Vater. Sie konnte nicht nach Italien. Arrivederci, Venedig! Ihre Mutter hatte ihr mal wieder alles verdorben.

Ein letzter Blick in die Runde, während sie etwas wehmütig die geänderte Buchungsbestätigung und Jans Kreditkarte auf den Tresen legte. Beides würde sie nun nicht mehr brauchen.

Der kleine Espressokocher sprang ihr ins Auge, der Messerblock und natürlich ihre Pfanne. Diese Stücke hatten sie durch die Studentenjahre, ihre Ehe, ihre Scheidungszeit und nun als Beinahe-Lebensabschnittsgefährtin von Jan begleitet. Undenkbar, sie in München zurückzulassen. Alles andere aber war ersetzbar.

Das Kalte Haus

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