Читать книгу Das Kalte Haus - Rita Hampp - Страница 12

Acht

Оглавление

»Vollmacht? Von mir? Warum gibt dir deine Mutter keine?«, fragte Paps erstaunt und verschaffte sich mit einer Gabel Reis eine kleine Pause.

Er mümmelte auf dem Bissen herum, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt. Clara wurde klar, dass er – obwohl sie ihn gerade erst möglichst schonend von ihrem deprimierenden Besuch in der Klinik unterrichtet hatte – die ganze Wahrheit im Augenblick nicht hören wollte. Er wollte so tun, als könnte seine Frau schon am nächsten Tag wieder zur Tür hereinspazieren und den gewohnten Unfrieden stiften. Etwas anderes würde er erst akzeptieren, wenn es unvermeidbar war.

Liebevoll beobachtete sie, wie er sorgfältig ein kleines Stück Hähnchenbrust abschnitt und es in Zeitlupe zum Mund führte. Ein Tropfen Soße kleckerte auf seine Jacke. Am liebsten hätte sie ihm das Fleisch klein geschnitten oder die Serviette um den Hals gebunden. Sie hatte ihn zu Beginn der Mahlzeit gefragt, ob sie ihm helfen solle, und er hatte abgelehnt. Würde sie jetzt eingreifen, käme dies einer entwürdigenden Bevormundung gleich. Sie an seiner Stelle würde sich auch wünschen, dass man kleine Malheure ignorierte, auch wenn gezieltes Wegsehen in diesem Fall wirklich schwerfiel.

»Gregor Morlock hat seit Mai kein Geld bekommen«, sagte sie deshalb nur.

Ihr Vater hörte auf zu kauen, starrte sie an, schob seine große eckige Brille zur Nasenwurzel zurück, machte ein unglückliches Gesicht und mümmelte weiter. Er würde nur mit leerem Mund antworten, das wusste sie. Ungeduldig wartete sie und war gleichzeitig gerührt, weil er sie an ein possierliches Eichhörnchen erinnerte.

»Könnte ich bitte etwas Weißwein bekommen?«, fragte Paps schließlich. »Es müsste noch von Samstag eine Flasche offen sein, als Gregor hier war.«

Wortlos stand Clara auf und versuchte in der Küche, ihre Nerven zu beruhigen. Sie musste sich seinem Tempo anpassen, sagte sie sich vor. Paps würde bestimmen, wann er über das Thema Geld reden wollte. Jetzt, während des Essens, jedenfalls nicht.

Während sie den Kühlschrank öffnete, fiel ihr Blick aus dem Fenster. Die Sonne schien auf den schneebedeckten Friedhofshang und die Dächer der Häuser im Tal. Wie friedvoll alles aussah, fast unwirklich, wenn man bedachte, dass auf der entgegengesetzten Seite der Stadt ihre Mutter gerade um ihr Leben rang.

Als sie die geöffnete Flasche fand, fiel ihr ein, was ihr Vater gerade gesagt hatte. Samstag? Dieser Tag war in Morlocks Aufstellung nicht enthalten gewesen. Täuschte ihr Vater sich etwa? Nein, auf sein Gedächtnis war noch immer hundertprozentig Verlass. Also hatte Morlock nicht alle Tage aufgeführt, an denen er für ihre Eltern tätig gewesen war. Aber warum nicht?

In der Diele suchte sie die Liste aus ihrem Mantel und überflog sie. Tatsächlich. Er hatte nur die Gartenarbeit penibel mit Datum und Stundenanzahl abgerechnet, sonstige Tätigkeiten wie Einkaufen, Pflege des Vaters, Kochen waren zwar als Auslagen, aber nicht als Arbeitsleistung vermerkt. Merkwürdig. Niemand, zumal wenn er dringend Geld brauchte, machte all das aus reiner Menschenliebe und für Gotteslohn.

»Wie oft ist Gregor hier?«, fragte sie und legte die Aufstellung neben ihren Teller.

»Jeden Tag. Seit deine Mutter in der Klinik ist, haben wir immer zusammen gegessen und abends Musik gehört. Er interessiert sich sehr für Klassik, weißt du? Ein feiner, gebildeter junger Mann.«

»Du hast ihm Vorträge über Musiktheorie gehalten.«

»Hast du von einem alten Musiklehrer etwas anderes erwartet?«, kicherte Paps. »Er war sehr aufmerksam und hat sich am Unterricht rege beteiligt.«

Clara beugte sich vor und gab ihrem Vater einen Kuss auf die Stirn, die nach Babycreme duftete. Dann schenkte sie ihm ein. Einen Fingerbreit, wie üblich.

Er nahm einen Schluck, spülte ihn im Mund hin und her, machte Beißbewegungen und nickte dann mit leuchtenden Augen.

»Welche Bezahlung hast du mit ihm dafür vereinbart, dass er dich täglich versorgt?«

Aber ihr Vater hatte schon wieder einen Happen in den Mund balanciert und gab sich mit allen Sinnen dem Essgenuss hin. Clara seufzte. Dann musste das Thema eben warten. Kein Problem. Es war ja nur eine Formalität.

»Ganz köstlich«, murmelte Paps und führte die nächste Gabel zum Mund.

Er besaß nicht mehr viele Zähne, war aber sehr stolz darauf, dass die wenigen seine eigenen waren. Es würde also eine Weile dauern, bis er aufgegessen hatte.

Clara langte ebenfalls zu. Man schmeckte den Estragon etwas zu stark heraus, ansonsten war sie mit sich zufrieden.

»Und jetzt einen Bohnenkaffee!«, wünschte sich ihr Vater irgendwann und schob den leeren Teller einen Zentimeter von sich weg.

»Aber dein Herz! Ich hol dir Tee.«

Enttäuscht verzog er den Mund. »Na schön. Du machst schon alles richtig.«

Clara konnte nicht anders als ihm erneut einen Kuss auf die Stirn zu drücken. »Ich will doch nur, dass du hundert wirst.«

»Meinst du wirklich, ein klitzekleiner Kaffee würde mich daran hindern?«

Lachend gab sie sich geschlagen und trug das Geschirr in die Küche.

»Aber nur, wenn es dir nicht zu viel Umstände macht. Möchtest du dich vielleicht erst einmal hinlegen? Ich kann auch warten!«, rief er ihr nach.

Als sie mit ihrem Espressokocher und zwei Mokkatässchen zurückkehrte, studierte er gerade mit gerunzelter Stirn Gregor Morlocks Auflistung.

»Das sind ja über achttausend Mark!«, flüsterte er und sah hilflos zu ihr hoch. »Wo bekommen wir nur so viel Geld her?«

»Mit der Vollmacht regle ich das. Mach dir keine Gedanken!«

Paps legte sein Gesicht in bedenkliche Falten. »Ich weiß nicht«, murmelte er. »Ich habe kein gutes Gefühl. Hat das nicht Zeit, bis deine Mutter gesund ist?«

Clara unterdrückte ein »Das wird sie nicht mehr« und berichtete ihm, dass Gregor das Geld dringend brauchte. »Er kann nicht länger warten, glaube ich.«

»Das ist natürlich etwas anderes«, beschloss Paps daraufhin und diktierte ihr aus dem Kopf Kontonummer, Bankleitzahl, Adresse der Bank sowie Namen und Telefonnummer des Kundenbetreuers. Dann trank er seine Tasse aus, setzte schwungvoll seine Unterschrift auf das Blatt und ließ sich von Clara zur Couch geleiten, wo sie ihn zärtlich zudeckte.

Draußen war es nicht mehr so kalt, die Sonne wärmte und brachte den Schnee zum Schmelzen. Es tropfte und gluckerte überall. Wahrscheinlich war es in ein, zwei Tagen wieder vorbei mit der weißen Pracht und das Wetter an Weihnachten würde wie üblich grau und trostlos sein. Die Treppenanlagen, die in die Stadt hinunterführten, waren nur notdürftig geräumt, so dass Clara langsamer vorankam, als ihr lieb war.

Endlich hatte sie den Augustaplatz erreicht. Wo übers Jahr ein Springbrunnen sprudelte, hatte man eine Eisarena aufgebaut, die mit pinkfarbenen Balustraden und einem pseudoalpinen Festzelt ausgestattet war. Johlend und kreischend tummelten sich Kinder und Jugendliche auf der Fläche. Wie praktisch das war, so mitten in der Stadt! Als sie jung gewesen war, hätten sie für diese Art Wintervergnügen lange Fußmärsche oder Busfahrten in Kauf nehmen müssen. Das war ihr immer zu umständlich gewesen, obwohl sie Schlittschuhlaufen gern ausprobiert hätte.

Wieder einmal plagte sie Wehmut über all die kleinen verpassten Chancen von Lebensfreude. Selbst wenn sie könnte, würde sie sich heute nicht aufs Glatteis begeben. Leute in ihrem Alter auf Kufen machten sich nur lächerlich oder brachen sich alle Knochen. Schade eigentlich. Aber irgendwann war es eben vorbei mit dem Spaß.

Sie hatte die Bank erreicht und als sie in die protzige Eingangshalle trat, wurde es ihr wie so oft in Geldinstituten unbehaglich, und das nicht erst, seitdem alle Welt über Bankenkrise und Verschwendung irrsinnig hoher Geldsummen lamentierte. Alles hier war eine Nummer zu groß, zu edel, zu teuer. War es nicht ein Widerspruch in sich, wenn ausgerechnet Banken so unbekümmert mit Geld umgingen? Wenn sie Spareinlagen hätte, würde es ihr ein bedeutend besseres Gefühl geben, wenn ihre Bank auch nach außen signalisieren würde, dass man möglichst viel vom Gewinn an die Kunden zurückgeben und nicht ins eigene Ego stecken wollte. Aber es war irrelevant, was sie dachte; sie hatte keine Spareinlagen, würde niemals welche besitzen, und außerdem war dies die Bank ihrer Eltern.

Etwas orientierungslos sah sie sich nach einem Ansprechpartner um. Überall waren kleine Stehtische und Besprechungsgruppen verstreut, nirgendwo war zu erkennen, wo man sich anstellen und warten konnte, bis man an der Reihe war. Endlich bekam sie zu einer vornehmen Angestellten Blickkontakt.

»Ich möchte zu Herrn Gänßhirt.«

Die Frau zog die Augenbrauen hoch. »Herrn Gänßhirt? Sind Sie sicher?«

Natürlich war sie das! Auf Paps’ Gedächtnis war Verlass. »Der Kundenbetreuer meiner Eltern. Katharina und Friedrich Funke. Ich habe eine Vollmacht.«

Madame machte sich ausdruckslos Notizen, dann stöckelte sie davon und verschwand leise hinter einer Tür.

Wenig später erschien ein korpulenter Glatzkopf mit glänzendem Gesicht, fleischigen, feuchten Lippen und lustigen Schweinsäuglein.

»Sieh an, sieh an«, trompetete er. »Clara! Erinnerst du dich an mich?«

Sie bemühte sich, aber da war nichts. Sie kannte niemanden mit Namen Gänßhirt. Und erst recht keinen glänzenden Gummiball.

Er ergriff ihre Hand und bewegte sie wie einen Pumpschwengel. »Du musst dich erinnern! Wir saßen im Markgraf-Ludwig-Gymnasium nebeneinander. Na? Oder soll ich dir helfen?«

Clara war immer noch sprachlos und spreizte ihre Finger, um sich aus dem Griff zu lösen.

»Komm erst einmal in mein Büro!«, rief der Mann. »Wie schön, wie schön.«

»Joachim Oesterle. Kreditabteilung«, stand an der Tür.

»Joe?«, versuchte Clara.

Lieber Himmel, der Pickelheini, der den Mädchen in der Vorderbank hinterhältig mit einem Handgriff durch den Pullover den BH-Verschluss im Rücken gelöst hatte? Der ihnen mit einem Lineal die Miniröcke hochgehoben hatte? Joe, der Petzer? Der Streber? Der ...?

»Bingo! Du kannst dich an mich erinnern.«

Nein, das konnte sie nicht. Nur der Name sagte ihr etwas, nicht aber dieses alte Dickerchen. Joe war klapperdürr gewesen und hatte dunkle, meist fettige Haare gehabt. Ein Mathegenie, und genau deshalb hatte sie es geduldet, dass er neben ihr saß. Er hatte immer feuchte Hände gehabt, wenigstens die hatte er auch heute noch.

»Ich wollte Herrn Gänßhirt sprechen.«

»Das habe ich gehört. Nimm Platz. Sieh dich um. Schönes Büro, nicht wahr? Ja, ich bin zufrieden.«

Messing, Marmor, Glas auch hier, dazu Kirschholzmöbel, das Beste vom Feinsten.

Keinen Cent würde sie Joe anvertrauen, selbst wenn sie einen übrig hätte.

»Hier ist die Vollmacht. Meine Mutter liegt im Krankenhaus, ich muss ein paar finanzielle Dinge regeln.«

»Oh ja«, sagte Joe, mehr nicht. Er nahm das Blatt Papier, las es und schob es ihr wieder zu. »So geht das nicht. Deine Mutter muss die Vollmacht persönlich unterschreiben. Ich gebe dir ein Formular mit.«

Immer noch der alte Prinzipienreiter. Hatte Joe früher nicht immer nach Schweiß gerochen?

»Sie liegt im Koma.«

Joe beugte sich erneut über den Zettel, dann drehte er sich halb um und tippte etwas in den Computer. Konzentriert starrte er auf den Bildschirm. »Oh«, sagte er noch einmal, sehr leise, und es klang bedrohlich.

Dann tippte er weiter und wartete erneut.

Wieder ein Blick auf den Zettel, dann auf sie. Diesmal glitt sein Blick über ihren Körper. Oh Mann! Er wusste doch, dass sie das nicht ausstehen konnte! Sie hatte ihn als Schülerin oft genug deswegen angeschrien. Demonstrativ verschränkte sie wie früher die Arme und starrte zurück.

»Funke? Du bist nicht verheiratet? Oder hast du deinen Mädchennamen behalten?«

»Geschieden.«

Er nickte, als hätte er es immer schon kommen sehen. Allmählich begann es vor ihren Augen zu flimmern. Sie versuchte tief auszuatmen, aber es half nichts. Sie konnte nichts dagegen machen, dass ihr die Wut vom Bauch in den Kopf schoss. »Wozu willst du das alles wissen?«

Er reagierte nicht, sondern starrte wieder auf den Bildschirm, drückte eine Taste, dann begann der Drucker neben ihm zu rattern.

»Hat deine Mutter eine Vorsorgevollmacht oder etwas Ähnliches ausgefüllt, bevor sie ins Krankenhaus kam?«

»Keine Ahnung. Du hast doch die Unterschrift meines Vaters.«

»Die Konten lauten aber auf deine Mutter. Ausschließlich. Und ich habe hier im Computer keine einzige Vollmacht, auch keine Verfügungsberechtigung für deinen Vater.«

»Zeig.«

»Das darf ich nicht.«

»Mach dich nicht lächerlich! Hör zu, ich brauche Geld, und zwar dringend. Nicht ich, sondern meine Eltern. Es gibt Rechnungen, die bezahlt werden müssen.«

»Das ist tragisch, aber ich kann dir nicht helfen. Kannst du nicht einspringen und das Geld auslegen?«

Meinte der Kerl jetzt, sie würde ihm, ausgerechnet ihm, auf die Nase binden, dass sie pleite war?

»Vielleicht kann mir Herr Gänßhirt weiterhelfen. Mein Vater ...«

»Gänßhirt ist vor drei Jahren ausgeschieden und seit zwei Jahren tot.«

»Das ... das gibt es doch nicht!«

»Und dein Vater hat sich seit Jahrzehnten nicht um die Konten gekümmert. Leider!«

»Was soll das heißen?«

»Dass sie überschuldet sind. Hast du unsere Schreiben nicht gelesen? Warum bist du nicht eher gekommen?«

Clara war froh, dass sie auf einem so komfortablen Stuhl saß. Trotzdem kam sie sich vor, als befände sie sich im freien Fall. Ohne Seitenlehnen wäre sie bestimmt weggekippt.

»Überschuldet?«

Hatte ihre Mutter sich an der Börse verspekuliert? Oder diesem Gregor alles überschrieben?

»Keine Ahnung, wovon du sprichst. Wurdest du mich bitte aufklären?«

»Das geht ohne Vollmacht nicht.«

»Jetzt hör mit dem Mist auf, verdammt!«

»Psst. Nicht so laut.«

Clara fuhr aus dem Stuhl hoch und stemmte ihre Hände in die Hüften. »Nichts psst! Ich verlange Aufklärung. Was habt ihr mit dem Geld meiner Eltern gemacht? Habt ihr es unterschlagen? Haus und Grund sind ein Vermögen wert. Eins-A-Lage in Baden-Baden, ich bitte dich! Mein Vater erhält eine gute Pension und außerdem hat meine Mutter zu wirtschaften verstanden. Das ist eine Tatsache. Punkt. Das lasse ich mir nicht ausreden, und von dir schon gar nicht.«

Joe zuckte mit seinen breiten Schultern. »Geh nach Hause und such unsere Schreiben. Ich darf dir keine Auskunft geben. Wann seid ihr mit packen fertig?«

Clara wollte antworten, aber sie konnte nicht. Keinen Ton brachte sie heraus.

»Packen?« Ihre Stimme kiekste.

Er hob die Hände hoch, als müsse er sich verteidigen. »Ich kann nichts dafür. Wir haben deiner Mutter alle Hilfe angeboten. Sie ist ja nie zu uns gekommen.«

»Würdest ... du ... mir ... bitte ... sagen ..., was ... du ... damit ... meinst

»Psst! Reg dich nicht so auf. Setz dich wieder. Oder nein, ich schlag dir was vor. Aber nur wegen früher. Und du musst mir versprechen, dass du es nicht von mir hast, okay?«

Hatten sie ihn früher nicht rückgratloses Wiesel genannt? Clara blieb stehen und genoss es, auf diesen Wicht herabzusehen. Sie sagte gar nichts. Den Teufel würde sie tun und irgendetwas versprechen. Er wusste bestimmt noch, dass sie Versprechen immer hielt. Er führte doch etwas im Schilde, das spürte sie.

»Okay?«

Nein.

Er wartete noch einen Augenblick, dann seufzte er leise. »Okay. Das kann Folgen für mich haben, Clara, ich tue es nur aus alter Freundschaft. Pass auf. Ich gehe jetzt und hole dir ein Mineralwasser, verstehst du

Nein. Kein Wort.

»Jetzt guck nicht so! Muss man dich zum Jagen tragen? Mann! Sei nicht so begriffsstutzig! Kapier doch!«

Er sah bedeutungsvoll zum Drucker, in dem sich inzwischen etliche Papiere stapelten. »Von mir hast du sie nicht«, flüsterte er, dann stand er auf und verließ das Büro.

Mit einem Sprung war Clara am Schreibtisch und begann, die Ausdrucke durchzublättern. Erst langsam, dann immer schneller. Schulden? Das konnte nicht sein! Am Ende stand die Summe. Weit über eine halbe Million Euro. Minus. Das Haus mit Hypotheken belegt, Kredite nicht zurückgezahlt. Als Anhang gab es ein Bündel Schreiben, die die Bank verfasst hatte, ohne Antwortschreiben oder einen Gesprächsvermerk. Das war übel. Eine Katastrophe. Der Ruin der Familie Funke.

Schuld daran trug ihre Mutter mit ihrem unverantwortlichen Gartentick! Seit Jahrzehnten hatte sie das Haus beliehen und die Darlehen bestimmt nur aufgenommen, um ihre ehrgeizigen Gartenbauprojekte zu realisieren.

Clara erinnerte sich noch an einen Frühling Anfang der neunziger Jahre. Geländebagger waren mit einem riesigen Hebekran über das Haus hinweg in den von außen unzugänglichen Garten gesetzt worden, wo sie Erdmassen verschoben, einen Teich aushoben, und auf einem neu hinzugekauften abschüssigen Nachbargrundstück Terrassen anlegten. Für den Teich hatten hohe Stützmauern aus Beton gegossen werden müssen, die anschließend mit Natursteinen verkleidet wurden. Ihre Mutter war wie ein besessener Dirigent auf der Baustelle gestanden und hatte den Arbeitern mit leuchtenden Augen immer neue Anweisungen zugerufen.

Sie selbst hatte sich damals nicht weiter um den neuesten Spleen ihrer Mutter gekümmert, aber leider auch nicht um die unglückliche Miene ihres Vaters. Jetzt begann das schlechte Gewissen in ihr zu nagen. Hätte sie nicht einschreiten und Mutter fragen müssen, woher sie das Geld für all das nahm? Andererseits – wie hätte sie es wagen können, eine solche Frage zu stellen? Ihre Mutter wusste, was sie tat. Immer. Oder? Wie es aussah, hatte sie es irgendwann nicht mehr gewusst.

Kein Mensch verschuldete sich dermaßen für ein paar dornige Blumen. Das war – irre! Ihre Mutter hatte den Verstand verloren, und niemand hatte es bemerkt, nicht einmal die Bank. Und Paps? Ach, selbst wenn ihm etwas aufgefallen wäre – was hätte er schon unternommen? Niemals wäre er seiner geliebten Frau in den Rücken gefallen oder hätte irgendeine ihrer Entscheidungen in Frage gestellt. Armer, liebenswerter, lebensuntüchtiger Paps!

Hinter ihr klappte die Tür und Joe erschien. Vor seinen Spitzname hatten sie in der Klasse oft noch ein »Little« gestellt, was ihn sehr ärgerte, weil er doch immer der Beste, Größte, Schlaueste hatte sein wollen. Einer, der etwas zu sagen und zu entscheiden hatte, also jemand mit Macht.

Nun, in der Kreditabteilung einer Bank hatte er sein Ziel erreicht. Dafür war er erstaunlich nett.

»Schock verdaut?«, fragte er mit mitfühlender Miene und hielt ihr ein Glas Wasser hin.

Sie nahm es dankbar und trank einen großen Schluck. »Nicht so ganz. Das ist eine unermessliche Summe!«

»Kann man so sagen.«

»Wie konnte das passieren?«

»Oh, den Vorgang habe ich vom lieben Kollegen Gänßhirt geerbt. Der hatte offenbar einen Narren an deiner Mutter gefressen. Ich vermute, er hat sie insgeheim bewundert, die berühmte Rosenkönigin von Baden-Baden! Tzzz. Wann hat man sie so genannt? Ende 1950? Mitte der Sechziger? Haben wir nicht achtundsechzig auch vor eurem Haus demonstriert, kurz nachdem Rudi Dutschke im Kurgarten seine Rede gehalten hatte?«

Clara merkte, wie sie rot wurde. Heiliger Strohsack! Sie war hier, um Überweisungen zu tätigen, und nicht, um sich für ihre Mutter zu schämen oder zu rechtfertigen.

»1968 waren wir vierzehn und haben andere Dinge im Kopf gehabt, als hinter Spruchbändern herzulaufen«, sagte sie betont deutlich.

»Hey, komm runter. Ich tu dir nichts. Lass uns lieber überlegen, wie wir Ordnung in diesen Schlamassel bringen können.«

»Ordnung? Ich brauche Geld!«

»Leg es aus, wenn es so pressiert. Für diesen Berg werden wir einige Zeit brauchen.«

»Mich gehen die Schulden meiner Mutter nichts an!«

»Oh doch. Sehr viel sogar. Du hast nicht alles durchgelesen, oder? Hier, guck dir das an!«

»Ein Antrag an das Gericht?«

»Auf Zwangsräumung. Bis Ende des Jahres.«

»Du spinnst!«

»Einen anderen Ton bitte!«

»Entschuldige, soll ich dir die Füße küssen, weil du meinen gebrechlichen Vater vor die Tür setzen willst, während meine Mutter im Koma liegt?«

»Genau das wird geschehen. Das habe ich nicht mehr in der Hand.«

Clara rang nach Worten, was selten vorkam. »Kannst du mir das bitte in Ruhe erklären?«

»Hast du morgen Abend Zeit? Dann komm doch bei uns vorbei. Ich würde dir gern Heike vorstellen, meine zweite Frau.«

Alle möglichen Ausreden schossen ihr durch den Kopf. Ein Abend mit Joe zum Thema elterliche Schulden war so ziemlich das Letzte, wonach ihr der Sinn stand. Aber hatte sie eine Wahl?

Das Kalte Haus

Подняться наверх