Читать книгу Fake Face - Rita M.Arane - Страница 6
DREI JAHRE SPÄTER
ОглавлениеSie betrachtete das Meer aus Grabsteinen. Dieser Friedhof schien endlos zu sein und die Zeit schien still zu stehen. Schon seit Monaten war sie mit ihrem Wagen unterwegs. Zufällig hatte sie diesen abgelegenen Ort entdeckt. Eine alte rotweiße Steinmauer umgab den Friedhof, und das alte, rostige Eingangstor stand offen. Rechts und links säumten Feldahorne die bepflasterten Wege. Sie atmete tief ein. In der Luft lag noch der Winter, der sich allmählich verabschiedete. Kleine Knospen füllten langsam die Sträucher und Bäume. Das noch zaghafte Grün der Gräser und Sprossen schien leicht durch die eiskalte Bodendecke entlang der Granitumfassungen der Gräber. Die Sonne blitzte durch die Lücken der Wolkendecke und die Sonnenstrahlen spiegelten sich glitzernd auf den glatten Grabsteinoberflächen. Das ruhige Rauschen des Windes beruhigte sie.
Der milde Wind strich über ihr langes, dunkelbraunes Haar. Sie genoss die Stille und die Einsamkeit. Es schien, als ob die Natur an diesem Ort ganz besonders viel Wert auf Ruhe legte. Das Zwitschern der Vögel war kaum zu hören. Die Zeit verging wie im Flug. Gleich würde es dunkel werden.
Irgendetwas in ihrem Inneren zwang sie, weiterzuziehen. Sie musste für heute Nacht eine Bleibe finden. Erneut eine Nacht im Auto zu verbringen kam nicht infrage. Sie hatte bereits unzählige Pensionen und Motels angefahren, aber nichts Passendes gefunden. Widerwillig ging sie zu ihrem Wagen zurück. Ihr alter Pick-up war rostig und pfiff aus den letzten Löchern. Einen neuen Wagen konnte sie sich jedoch nicht leisten, denn ihr Erspartes ging langsam, aber sicher zur Neige. Sie musste dringend irgendwie an Geld kommen.
Sie fuhr weiter. Es war bereits dunkel geworden, und sie war unglaublich müde. Bei den immer gleich aussehenden und unwirtlichen Landstraßen in dieser Gegend hatte sie das Gefühl, schon längst die Orientierung verloren zu haben. Zum Glück besaß sie noch eine alte Landkarte. Ihr altes Navigationsgerät hatte schon lange den Geist aufgegeben. Der Akku ließ sich nicht mehr laden.
Unzählige Meilen später entdeckte sie ein vielversprechendes Schild auf der rechten Straßenseite. Sie stoppte den Pick-up. „Zimmer zu vermieten“, stand auf dem Schild. Sie warf einen Blick auf das große Haus gegenüber und verließ ihren Wagen.
Während sie ihre blaue Jeans zurecht zog, rieselten einige Krümel des Sandwiches, das sie kurz zuvor auf der Fahrt gegessen hatte, zu Boden. Dann nahm sie ihren Rucksack und ihre Tasche aus dem Wagen. Ihre mittelgroße alte Tasche warf sie sich mit einem Schwung über ihre rechte Schulter. Da sie nur das Nötigste eingepackt hatte, war die Tasche nicht schwer. Sie hatte möglichst wenig aus ihrem alten Leben mitnehmen wollen. Ihr schwarzer Rucksack baumelte an ihrer linken Hand.
Sie ging auf das rote, große Backsteinhaus zu. Mehrere Bodenstrahler leuchteten auf, als sie die Pflastersteine des großen
Vorhofs betrat. Irgendwo hier musste ein Bewegungsmelder stehen. Es schien sich um ein Privatanwesen zu handeln, denn für ein Hotel war das Gebäude zu klein. An der Fassade rankte sich grüner Efeu seinen Weg von der rechten Seite des Gebäudes über die Fassade nach oben. Rechts und links neben der mächtigen alten Haustür standen große schieferfarbene Pflanzenkübeln mit kleinen Lavendelstämmchen darin. In einem der großen Fenster im Erdgeschoss war hinter hellen Vorhängen der Umriss einer Person zu sehen, die sich in diesem Moment jedoch vom Fenster wegbewegte. Sekunden später öffnete sich plötzlich die alte, braune Haustür, noch bevor sie die Türklingel betätigen konnte. Ein großer, schlanker, breitschultriger Mann stand vor ihr. Er musste etwa Mitte 30 sein. Seine dunkelblonden kurzen Haare zierten sein markantes, aber freundlich wirkendes Gesicht. Aufgrund des Dreitagebartes wirkten seine Lippen schmal. „Entschuldigen Sie, ich habe das Schild vorne an der Straße gesehen. Ist das Zimmer noch frei?“, fragte sie um einen möglichst freundlichen Tonfall bemüht.
Für einen kurzen Moment hielt er inne.
Er erkannte sie. Er hatte sie heute schon einmal gesehen. Auf dem Friedhof. Sie hingegen schien ihn nicht bemerkt zu haben. Ihre großen, grünen Augen schauten ihn jetzt erwartungsvoll an.
„Zimmer?“, antwortete er endlich. „Ähm, ja. Das ist noch frei.“
Der Mann öffnete die Tür noch ein Stückchen weiter und machte mit einer Hand eine Geste in Richtung des Wohnbereichs. „Kommen Sie herein.“ Als sie den Eingangsbereich
betrat, warf sie einen flüchtigen Blick in das offen gestaltete Erdgeschoss. Es war hell und freundlich eingerichtet. Diese Tatsache überraschte sie, denn die alte, robuste Backsteinfassade außen ließ nicht erahnen, wie modern das Innere gestaltet war. Außerdem war alles sehr ordentlich, und es roch angenehm nach Putzmitteln und frisch gewaschener Wäsche. Sie gingen die Treppe hinauf, die unweit gegenüber der Eingangstür lag.
„Darf ich Ihnen die abnehmen?“, fragte er und deutete auf ihre Tasche. Sie wehrte ab. „Nein, das geht schon.“ Die alten Dielen der Treppe knarrten unter ihre Schuhsohlen. An den Wänden hingen alte Gemälde von verschiedenen Personen. Der Malstil und die Art, wie die Personen gekleidet waren, ließen erahnen, dass es sich um unterschiedliche Zeitepochen handelte. Oben im Zimmer angekommen stellte Elena ihre Tasche und Rucksack auf den Boden ab und er zeigte ihr schweigend das Zimmer und das zugehörige Bad. Während sie sich umsah, musterte er sie möglichst unauffällig. Sie war dünn und sehr zierlich. Der Parka, den sie trug, war offensichtlich zu groß. Blaue weite Jeans und ein hautenger weißer Rollkragenpullover vervollständigten ihre Kleiderwahl des heutigen Tages. Ihre dunkelbraunen Haare waren zu einem Zopf gebunden, und ihre leicht gebräunte Haut ließ ihre großen grünen Augen besonders intensiv hervorstechen. Sie müsste Mitte 20 sein, schätzte er. Sie sah müde aus.
Als sie seinen Blick spürte, der auf ihr ruhte, drehte sie sich zu ihm um und schaute ihn direkt an.
„Ich würde das Zimmer nehmen.“
„Ok, das macht 30 die Nacht. Wie lange wollen Sie bleiben?“ „Nur eine Nacht.“
„Ok … ähm … Handtücher finden Sie im Bad. Falls Sie noch etwas benötigen, wenden Sie sich bitte an Barbara, meine Haushälterin. Sie finden sie unten. Mein Name ist übrigens Jack O‘Neil.“ Er streckte ihr seine rechte Hand entgegen. „Elena Phillips.“
Elena blickte direkt in seine stahlblauen Augen, als sie seine Hand schüttelte.
„Gut, dann lasse ich Sie erst mal allein. Da fällt mir ein … Wir essen in etwa 10 Minuten zu Abend. Wenn Sie möchten, können Sie gerne mitessen.“
„Danke, das ist sehr freundlich. Aber ich denke, ich werde mich direkt ins Bett legen. Ich bin sehr müde.“
Jack nickte kurz und ließ sie alleine. Elena nahm ihre Tasche und legte diese auf das große Bett. Dann zog sie ihren Parka aus. In diesem Moment bemerkte sie, dass jemand hinter der verschlossenen Tür stand und an der Türklinke rüttelte.
„Du kannst gerne reinkommen, Isabella!“, sagte sie unbeeindruckt. Daraufhin öffnete sich die Tür und ein kleines Mädchen schaute überrascht durch den Türspalt. „Woher weißt du, wie ich heiße?“, fragte es irritiert.
Elena lächelte. „Ich kann Gedanken lesen, weißt du?“
Vorsichtig kam das Mädchen hinein und schaute Elena skeptisch an. Ihr fiel sofort die Ähnlichkeit mit Jack auf, denn das Mädchen hatte die gleichen stahlblauen Augen wie sein Vater.
„So was gibt es nicht!“, gab das blonde Mädchen leicht aufbrausend zurück.
„Na gut. Ich gebe es zu“, sagte Elena nach einer kurzen Weile lächelnd. „Ich habe deinen Namen an der Tür da gelesen.“
Elena deutete mit einem Blick auf die gegenüberliegende Tür. Das Mädchen drehte sich zur Tür um und blickte auf die großen, pinken Tierbuchstaben mit ihrem Namen darauf.
„Das ist auch mein Zimmer.“, erklärte Isabella. Dann drehte sich Isabella wieder zu Elena um und beobachtete sie, während sie ihre Schlafsachen sauber gefaltet auf das Bett legte.
„Und wer bist du?“, fragte das Mädchen plötzlich.
„Ich bin Elena.“
Isabella nahm ihre langen Haare in die Hand und wickelte sie strähnchenweise immer wieder um ihre Finger.
„Wirst du lange hierbleiben?“
„Nein. Nur für eine Nacht.“
Das Mädchen legte nachdenklich seinen Kopf schief.
„Mein Dad hat mir eine neue Puppe geschenkt. Willst du die mal sehen?“
Noch bevor Elena etwas erwidern konnte, kam Isabella um das Bett herum und nahm Elenas Hand. Daraufhin zog sie Elena in ihr Zimmer.
Als Jack wenig später nach Isabella suchte, um sie zum Abendessen zu rufen, fand er sie und Elena in Isabellas pinkfarbenen Zimmer auf dem Teppichboden sitzend vor, während Isabella ihr stolz ihre Puppen vorstellte. Ungläubig stand er im Türrahmen. Noch nie hatte er Isabella so vertraut mit einer für sie vollkommen fremden Person umgehen sehen. Vor allem in letzter Zeit, die für ihn und Isabella nicht einfach gewesen war, hatte sich Isabella immer mehr zurückgezogen.
Und jetzt …
Jetzt schien sie wie ausgewechselt zu sein.