Читать книгу Duschen und Zähneputzen – Was im Leben wirklich zählt - Robert Atzorn - Страница 11

Ein Altmeister wie Dürrenmatt sagt nicht viel

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Meine junge Frau und ich waren jetzt in Zürich engagiert. Wolfgang Reichmann, der an meinem Entschluss, Schauspieler zu werden, wesentlich beteiligt gewesen war, hatte uns empfohlen. In Zürich hatte ein Intendantenwechsel stattgefunden, viele junge Schauspieler bekamen eine Chance.

Ein seltsames Stück von Rainer Werner Fassbinder mit einigen Songs stand auf dem Spielplan. Die Musik probte der Komponist, ein sympathischer Jazzmusiker, mit uns. Eines Tages tauchte mitten in einer Probe der neue Intendant auf. Wahrscheinlich hatten Kollegen ihm zugetragen, dass die Arbeit des Regisseurs ziemlich unorthodox war und wenig Gutes verhieß. Nach einer gewaltigen Standpauke wurde die Probe abgebrochen, das Stück komplett vom Spielplan genommen und alle gingen mutlos und traurig auseinander.

Ich verlies den Bühneneingang mit Kollegen und meiner Frau. Ein auffälliger Zweisitzer, ein Chevrolet Camaro, hielt am Straßenrand. Wer stieg aus? Der Jazzmusiker! Er öffnete die Autotür, machte einladende Zeichen zu meiner Frau, sie stieg ein – Hallo? – und die beiden fuhren davon! Ohne zu winken! Ohne mich! Um die Ecke, weg waren sie.

Ich stand mit offenem Mund da, war fassungslos. Hatte ich was verpasst? Aber sicher doch. Einige Kollegen verkrümelten sich, ohne mich anzuschauen oder was zu sagen. Sollte das bedeuten, alle wussten Bescheid, nur ich nicht? Ich hatte nichts bemerkt während der Proben. Keine heimlichen Blicke, keine vertrauten Berührungen. Sie waren äußerst raffiniert vorgegangen. Allerdings war meine Frau vorgestern sehr spät nach Haus gekommen. Wo war sie gewesen? Angeblich auf einer Extra-Probe. Meine Güte, war ich naiv. Ich wusste nicht, wohin mit meiner Wut und Trauer. Verloren stand ich vor dem Theater. Ich hätte schreien mögen. Wohin jetzt? Nach Hause? Wir sind doch verheiratet! Du gehörst mir! Fremdgehen gehört bestimmt nicht in ein Eheversprechen!

Stundenlang rannte ich durch die Stadt, mochte nicht in die leere Wohnung, trank irgendwo ein Bier, schaute auf die Menschen der Stadt und fand alle und alles scheußlich.

Meine Frau kam erst am übernächsten Tag nach Hause. Ich war außer mir! Die ganze Zeit hatte ich nicht geschlafen, ständig die erotischsten Szenen mit den beiden vor Augen. Mir ging es saumäßig schlecht! Große Fantasie kann auch ein Nachteil sein. Warum macht sie das? Will sie mich fertigmachen? Was hat er, was ich nicht habe? Auf jeden Fall viel Kohle.

Immerhin, sie war wieder da. Wir redeten nur das Nötigste. Sie sagte nichts, ich wagte nicht zu fragen. Wir lebten nebeneinander her. Gingen uns aus dem Weg. Umkreisten uns. Beobachteten uns. Ich war hilflos.

Das Fassbinder-Stück war weg, deshalb sollte ich in Friedrich Dürrenmatts Urfaust den Schüler spielen. Dürrenmatt hatte Goethes Urfaust noch mal überarbeitet und modernisiert … Attila Hörbiger war Faust, Hans Helmut Dickow Mephisto. Regie führte der Altmeister selbst, Friedrich Dürrenmatt. Das war eine große Chance für mich, neben diesen erstklassigen Schauspielern zu agieren. Jetzt konnte ich beweisen, dass ich zu Recht in Zürich engagiert war. Ich arbeitete Tag und Nacht, war aufgeregt. Lernte den Text immer wieder, las Sekundärliteratur, vertiefte mein Verständnis, baute Eselsbrücken, versetzte mich in die Schülersituation. Ich tat alles, was ich konnte.

Und ich rang mich durch und verzieh meiner Frau den Fehltritt, wenigstens ein bisschen … Notgedrungen, denn ich brauchte sie zum Abhören des Textes. Das machte sie auch tatsächlich, sie half mir.

Die erste Probe – nach einer schlaflosen Nacht – lief recht gut. Dachte ich. Der freundliche, menschliche Herr Hörbiger meinte am Schluss: »Gut gemacht, Junge!«

Ich war beruhigt, aber nicht lange, denn der korpulente Weltmeister der Literatur saß mit kalter Zigarre missmutig in seinem Sessel, blickte nicht auf und sagte gar nichts. Ich fand es seltsam und ging ohne Abschied etwas beunruhigt nach Hause.

Nachmittags kam ein Anruf vom Theater: »Sie sind umbesetzt! Herr Dürrenmatt hat sich etwas anderes vorgestellt.«

Was denn? Was hat er sich denn vorgestellt? Kann er nicht direkt mit mir sprechen, wenn ihm was nicht passt? So was von feige! Ich war fix und fertig. Umbesetzung ist ja wohl das Peinlichste, das einem Schauspieler passieren kann. Ich mochte nicht mehr ins Theater gehen, mich den hämischen Blicken der Kollegen aussetzen. Jeder wusste es, schrecklich.

Keine Arbeit, immer noch halbe Ehekrise, keine Perspektive. Ich betrank mich, nicht zu knapp, denn meine Frau war zu allem Überfluss mal wieder aushäusig. Was für ein Schlamassel! Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte.

Eine weitere undurchsichtige Geschichte kam dazu: Meine Frau verschwand während einer Party mit einem Mann, in tiefe Gespräche verwickelt, in eines der oberen Stockwerke. Wut stieg in mir hoch. Ich stand allein herum, verloren, kannte niemanden, kaute Erdnüsse, trank Fendant, natürlich viel zu viel. Ein Schweizer Kollege textete mich zu. Ich verstand nur Bruchteile, meine Laune verbesserte sich dadurch nicht gerade. Ich wartete. Warum ich nicht nach Hause verschwand, weiß ich nicht. Sie konnte ja auch jeden Moment wiederauftauchen. Tat sie aber nicht.

Nach endlos langer Zeit kam sie allein herunter. Glühend. Tat so, als wäre nichts.

»Er hat mir seine Bilder gezeigt.«

Ich musste meine Empörung bändigen, versuchte, souverän und gelassen zu reagieren.

»Tatsächlich? Was malt er denn für Bilder?«

»Er malt … sehr ungewöhnlich … gegenständlich.«

»Was heißt ungewöhnlich?«

»Na ja …«, sie stockte, »ziemlich … erotische Themen.«

Nicht schon wieder dieses Thema.

»Was denn für Erotismen?«

Ich erfand das Wort. Sie überhörte die Frage.

»Ich male ja auch manchmal, aber er ist viel, viel besser. Ich darf ihn in seinem Atelier besuchen!«

»Als Aktmodell?«, konnte ich mir nicht verkneifen.

»Nein, wo denkst du hin! Einfach so. Er will die Bilder ein paar Freunden zeigen.«

»Schön, ich komme mit!«

»Ja, klar«, log sie schamlos.

Ich wusste, dass das nie passieren würde. Alles verletzte mich. Sie war schön, viel zu jung, neugierig aufs Leben und insbesondere auf andere Männer. Als wir heirateten, war sie 17, ich 22. Kinderehe.

Zwei Tage später kam ein Anruf, der neue Hoffnung brachte: Dr. Horst Gnekow, Intendant in Münster. Eine Legende. Er hatte viele junge Schauspieler entdeckt, etwa Klaus Kammer. Ob ich Lust hätte, ihm vorzusprechen? Ob ich Lust hätte? Natürlich!

Er war in Zürich, aus welchen Gründen auch immer. Ich suchte ihn in seinem Hotel auf, sprach St. Just und Camille aus Dantons Tod vor, woran Wolfgang Reichmann mit mir gearbeitet hatte. Er bot mir an, den Faust in Münster zu spielen.

Wie – Faust? Ich? Faust? Meinte er das wirklich? Das konnte doch nur ein Witz sein nach meinem Reinfall. Er hatte sich wohl versprochen, oder hatte ich mich verhört?

Ich traute mich kaum nachzufragen: »Meinen Sie Faust, die Hauptrolle?«

»Sicher!«

»Aber ich bin doch viel zu jung!«

»Ach, das lösen wir mit einem starken Bart für die ersten Szenen, nach der Verjüngungskur in der Hexenküche stimmt doch alles!«

»Danke!«

Ich war platt vor Glück. Wusste nicht, wohin mit meiner Siegesfreude. Wir hatten gar nicht über die Gage geredet. Das war mir auch völlig egal. Ich rannte nach Hause, überbrachte die Frohe Botschaft.

Sie war not amused. Sie freute sich überhaupt nicht.

»Ich soll hier alleine wohnen?«

»Das ist nicht mein Problem. Ich gehe nach Münster. Du kannst dir ja eine kleinere Wohnung suchen. Übrigens: Was heißt allein? Du kannst ja deinen Lover heiraten, diesen Musik-Heini.«

Das musste raus, ich merkte, ich hatte ihr doch nicht verziehen.

»Er ist verheiratet!«

»Das tut mir aber leid.«

Ich hatte einen Höhenflug. Ihr weiteres Schicksal war mir völlig egal. Im Moment zumindest.

Vor meinem Umzug zur neuen Münsteraner Spielzeit kam noch eine Rolle in Goethes Egmont dazu. In dem Stück gibt es am Schluss eine kurze Szene im Gefängnis zwischen Egmont und seinem jugendlichen Verehrer Ferdinand. Ferdinand ist der Sohn seines größten Feindes, des Herzogs von Alba. Ullrich Haupt spielte Egmont. Ich hatte ihn schon in meiner frühen Jugend im Hamburger Schauspielhaus in den verschiedensten Rollen gesehen und bewundert. Und jetzt sollte ich mit ihm spielen?!

Es ging nicht. Ich kam nicht in die Szene, ich kam nicht ins Spielen. Ich war überfordert. Ich war wie paralysiert, konnte ihm nur zusehen. Ich staunte, was er machte, liebte seine kunstvolle Fähigkeit, mit der Rolle umzugehen, seine Bandbreite. Ich bewunderte, was er aus den kleinsten Nebensätzen machte, wie er ihnen Lebendigkeit verlieh. Ich wusste nicht, wie ich mithalten sollte. Er war zu groß, zu weit weg von meinen Möglichkeiten. Es war katastrophal. Ich schämte mich.

Als ich ihm in einer Pause während der Proben zaghaft von meinen allgemeinen Schwierigkeiten mit der Schauspielerei erzählte, meinte er lächelnd: »Weißt du, wie ich überlebt habe? Du musst das Leben wie einen Boxkampf sehen: Beim Knock-out einmal tief durchatmen, dann schnell wieder aufstehen, einmal schütteln und weitermachen!«

Also atmete ich tief durch, stand schnell wieder auf, schüttelte mich und spielte die diversen Vorstellungen mehr oder weniger gut. Ich begann, mich mit meiner Angst oder meinem Respekt vor großen Schauspielern auseinanderzusetzen. Mir war klar, dass ich etwas ändern musste.

Meine Frau hatte plötzlich ihre Zuneigung zu mir wiederentdeckt. Der Jazzmusiker wollte auf keinen Fall eine längere Beziehung.

»Musiker eben, was erwartet sie?«, dachte ich.

Also wollte sie mich dabehalten oder mitkommen, beglückwünschte mich, beneidete mich. Doch ich hatte erfahren, es gab inzwischen einen ungarischen Zahnarzt, der ihr schöne Augen machte. Vielleicht war das ja derjenige, der im ersten Stock hobbymäßig Erotik aufs Blatt oder die Leinwand brachte.

Ich zog allein nach Münster und freute mich über die Beziehungspause.

Münster mit dem kleineren Stadttheater zog mich magisch an. Ich hatte ja festgestellt, dass ein großes Theater wie Zürich mit vielen Berühmtheiten viel zu früh für mich kam. Dem Anspruch war ich noch nicht gewachsen. Erst einmal brauchte ich Zeit, um mich auszuprobieren, um Sicherheit zu gewinnen. Ich wollte das durchleben, was die älteren Kollegen immer als »freispielen« bezeichneten, jeden Tag auf der Bühne stehen mit allen großen Rollen der Weltliteratur. Das stellte ich mir für die Zeit am Stadttheater Münster vor. Pustekuchen, es lief ganz anders. Doch davon an anderer Stelle.

Wie das Leben so spielt: Viele Jahre später spielte ich am Münchner Residenztheater selbst den Egmont. Und – nicht zu fassen – Ullrich Haupt spielte mit, eine Minirolle im Volk. Eins meiner Vorbilder, ein Theaterstar, in so einer kleinen Rolle? Er war wohl weit über siebzig, hatte immer noch ein athletisches Aussehen (Boxer eben), aber Textschwierigkeiten ohne Ende. Alle Kollegen zitterten, wenn er etwas sagen musste. Das hat mir sehr weh getan. Warum spielte er noch? Ich kam aber nicht in ein richtiges Gespräch mit ihm. In der Garderobe vor den Kollegen tat er so, als wäre alles in Ordnung.

Dazu fällt mir noch eine andere Geschichte ein, die den Wert beziehungsweise Unwert eines Schauspielers zeigt: Am Residenztheater spielte neben anderen auch Max Eckard. Er war ein begeisterter Theaterschauspieler, der unzählige Rollen neu kreierte. Unvergesslich sein Valentin aus Gustav Gründgens berühmter und nicht zu überbietender Faust-Inszenierung. Die letzte Vorstellung seines Lebens spielte er in einem Stück, das ich vergessen habe. Doch danach ging er einfach nach Hause. Keine letzte Dankesrede, kein offizieller Abschied, kein Lob, keine Blümchen, keine Wertschätzung – einfach nichts.

So sah das Karriereende eines großen Schauspielers aus. Grausam. Das hat mich sehr nachdenklich gemacht. Das Ende meiner Berufslaufbahn sollte nicht so aussehen. Deshalb habe ich aus freien Stücken rechtzeitig mit dem Spielen aufgehört.

Duschen und Zähneputzen – Was im Leben wirklich zählt

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