Читать книгу Duschen und Zähneputzen – Was im Leben wirklich zählt - Robert Atzorn - Страница 12

Faust, diesmal geflüstert

Оглавление

Ich war glücklich! Die Faust-Proben machten Spaß – Erlösung! Ich konnte mich frei entfalten, Gänge erfinden, Haltungen ausprobieren, Texte streichen und wieder aufmachen, einfach Neues ausprobieren. Der Intendant Gnekow war sehr geduldig und tolerant, was meine Vorschläge betraf. Ein wunderbarer Regisseur, der nie aggressiv wurde und stets alle unterstützte, um das Optimum aus seinen Schauspielern herauszuholen.

Der Darsteller des Mephisto war sehr von sich eingenommen. Mephisto ist ja auch die weitaus bessere oder wenigstens komödiantischere Rolle, es ist die Rolle zum Absahnen im Faust. Der Kollege ließ nichts aus, aber mich ließ er zufrieden, mischte sich nicht in meine Arbeit ein. Viele Kollegen machen ja auch Vorschläge, wie man zu spielen habe. Das tat er nicht. Er war sich aber sicher, der bessere Schauspieler zu sein, achtete genau darauf, dass er immer näher an der Rampe stand als ich. Ich musste aufpassen, neben ihm nicht unterzugehen. Er war eine klassische Rampensau.

Mir war das egal, ich war einfach froh, diese Rolle spielen zu dürfen. Ich tastete die wunderbaren Texte mit der Seele ab. Die Gage war auch erträglich. Anfänger, so sah ich mich, haben sowieso kaum Ansprüche. Die Arbeit, also die Rolle, ist entscheidend.

Etwa die Hälfte meiner Kollegen war homosexuell, wie ich nach einiger Zeit merkte. An die Schwulenkneipe, die jeden Abend aufgesucht wurde, gewöhnte ich mich schnell. Es war für mich eine neue Welt. Ich mochte die Selbstironie und den sarkastischen Humor der Männer. Auch einige Frauen gesellten sich dazu. Es stellte sich heraus, dass hier fast das ganze Ensemble ein zweites Zuhause gefunden hatte. Heteros waren ebenfalls gern gesehen. Vielleicht war der eine oder die andere ja doch nicht so hetero? Unbeobachtet auf die Toilette zu gehen war jedenfalls nicht möglich.

Die Premiere kam näher. Kurz vor der ersten Hauptprobe wurde mir siedend heiß klar, dass ich den Abend tragen musste. Wegen mir, wegen Faust, kamen die Menschen. Die Angst vor dem Versagen kroch in meine Glieder. Ich schlief schlecht bis gar nicht, kam todmüde zu den letzten Proben. Die Stimme ging weg, ich wurde von Tag zu Tag heiserer. Panik ergriff mich, die Freude am Spielen hatte sich in Entsetzen verwandelt.

Der Arzt diagnostizierte eine Kehlkopfentzündung. Was tun? Ich war ratlos. Von »Krankschreiben lassen« hatte ich noch nie etwas gehört. Ich wusste nur von tapferen Kollegen, die selbst in höchsten Fieberzuständen großartige Vorstellungen abgeliefert hatten – und danach tatsächlich wieder »gesund« waren. Man höre und staune. Ich glaube, solche Legenden werden für den Nachwuchs gestrickt, damit keine Vorstellungen ausfallen müssen.

Jedenfalls hatte ich mit vielem gerechnet, aber nicht mit dem Versagen meiner Stimme. Irgendwie überlebte ich die Generalprobe, vollgepumpt mit Vitaminen und Hustensaft. Ich ernährte mich nur noch von Orangen und Zitronen, spielte die Premiere fast ohne Stimme.

Wieder eine Katastrophe. In der Pause kam ein schadenfroher Kollege hinter die Bühne: »Man versteht dich schon in der dritten Reihe nicht mehr. Mach was!«

Was sollte ich machen? Meine Stimme war ja weg.

In der zweiten Hälfte wuchs und wuchs mein Partner und badete in seiner Überlegenheit. Es war schlimm für mich. Der Applaus ging zu 99 Prozent an Mephisto.

Horst Gnekow überspielte seine Enttäuschung, blieb mitfühlend und verständnisvoll. Weshalb er mich allerdings ins Messer laufen ließ und die Premiere nicht um eine Woche verschob, ist mir bis heute unbegreiflich. Von mir aus hätte ich es auch nie vorgeschlagen, ich war viel zu brav. Eine Verschiebung lag komplett außerhalb meines Vorstellungsvermögens.

Die Presse war vernichtend: »Unverständlich, dass dieser Schauspieler für diese Rolle engagiert wurde. Wir haben doch einen so wunderbaren Schauspieler für dieses Fach im Ensemble!«

Abschuss pur! Ich wusste, wer dieser »wunderbare Schauspieler« war, und das verschlimmerte meine Situation.

Am Tag nach der Premiere saß ich in meinem miserablen, preiswerten Zimmer – schreckliche Tapete, Klo auf dem Gang, das Bad teilte ich mit einer netten arabischen Familie. Innerlich war ich am Boden und dachte: »Was ist das für ein Beruf? Warum mache ich das? Bin ich so schlecht? Wie soll ich je wieder an ein großes Theater wie München kommen? Sollte ich vielleicht wieder mit Grafik weitermachen?«

Es klopfte. Frieda, eine Bekannte, stand vor der Tür. Sie strahlte mich an, aber nur eine Sekunde, dann fragte sie besorgt, während sie nach meiner Hand griff: »Was ist denn los? Du siehst schlimm aus!«

»Ach du … Meine Premiere gestern, das war großer Mist … Meine Stimme war zu leise, alles Scheiße!«

»Wieso, ich war drin, wir alle waren drin. Du warst doch super!«

»Was? Verarschst du mich?«

»Nein, du warst spitze! Wir sind stolz auf dich!«

»Aber habt ihr denn was verstanden?«

»Aber klar! Alles, wir saßen ganz vorne!«

Ich wusste, es war nicht spitze gewesen, aber es tat mir in diesem Moment unendlich gut. Vielleicht war ich ja doch nicht ganz so entsetzlich schlecht gewesen. Wir tranken einen Wein, dann noch einen. Frieda wurde immer schöner, ihre dunklen Augen leuchteten. Sie tröstete mich schließlich auf eine sehr erotische, mir unbekannte Weise.

Am Tag danach ging es mir natürlich weiterhin miserabel und ich dachte an die vierzig Vorstellungen, die ich mit dieser Kritik im Nacken spielen musste. Jedes Mal war es eine immense, übermenschliche Überwindung. Keiner, der die Kritiken gelesen hatte, würde mich als Faust sehen wollen. Ich nahm es als Training gegen Widerstände. Weitergehen, auch wenn es schmerzt. Was hatte Ullrich Haupt mir geraten: »Nach dem Knock-out durchatmen, aufstehen …«

Jeden Vorstellungsnachmittag stand ab fünfzehn Uhr Vorbereitung auf dem Plan: den gesamten Text wiederholen, Stimmübungen, Körpertraining. Langsam kam die Stimme zurück. Ich wurde sicherer. Nach etwa acht Vorstellungen war ich mit meinem Mephisto wieder auf gleicher Höhe. Das gefiel ihm nicht so besonders.

Meine Frau war weiterhin in Zürich engagiert. Telefoniert hatten wir nicht sehr oft, da ich kein eigenes Telefon besaß und daher immer zu der Telefonzelle am Bahnhof gehen musste. Außerdem hatte ich genug mit mir zu tun. Von meinen Nöten hatte sie noch nichts mitbekommen.

Jetzt aber rief ich sie an und flüsterte: »Hallo! Vorgestern war Premiere.«

»Wie ist es gelaufen?« Es war ehrliches Interesse.

»Nicht so toll. Ehrlich gesagt: beschissen. Ich bin krank, meine Stimme ist weg.«

»Das höre ich. Tut mir leid. Du, ich vermisse dich!«

»Ich dich auch!«, entfuhr es mir.

Ich wunderte mich über meine spontane Äußerung, aber es stimmte. Ich fühlte mich allein.

»Ich melde mich wieder, wenn’s mir wieder gut geht!«

»Ja, mach das!«

»Hast du wieder eine Rolle?«

»Nein. Ich bin ganz traurig, es läuft nicht. Ich würde so gern spielen, aber alle Besetzungen dieser Spielzeit sind raus, ohne mich.«

»Mist.«

»Kann ich dich besuchen? Kommenden Montag vielleicht?«, fragte sie.

Das war mir zu nah im Moment: »Ne, äh … nicht so gern, ich soll das nächste Stück probieren.« Das stimmte. Eine Komödie. »Dazu habe ich eine kleine Übernahme.« Das stimmte nicht. »Ich bin total eingespannt. Ich weiß gar nicht, wie das alles mit meiner Stimme gehen soll. An sich kannst du gern kommen, aber nicht momentan. Ich sag dir Bescheid, wenn das nächste Stück raus ist.«

»Ja, gut, okay. Versteh ich. Mach’s gut und gute Besserung.«

Sollte sich da etwas einrenken?

Sie war künstlerisch begabt und neugierig aufs Leben. Aufs Leben? Vielleicht nur auf andere Männer! Ob sie wirklich die richtige Frau für mich war? Inzwischen aber war so viel passiert, dass ich momentan lieber allein leben wollte. Sollte sie ihre Neugier doch in Zürich ausleben, ohne mein Beisein. Ich wollte davon nichts mitkriegen. Ehepause.

Duschen und Zähneputzen – Was im Leben wirklich zählt

Подняться наверх