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I. Zur Genese sozialer Normen

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Die Entstehung sozialer Normen, also die Genese von „Normativität“, ist eines der großen Themen der Soziologie und Sozialphilosophie.[13] Soziale Normen, so die heute wohl vorherrschende Annahme,[14] entwickeln sich aus Verhaltensregularitäten und ihnen korrespondierenden Verhaltenserwartungen, die schließlich in das Gefühl eines „Sollens“ münden: Aus wiederholt durchgeführten Handlungen ergeben sich Verhaltensregelmäßigkeiten, die zu Gewohnheiten erstarken. Andere Menschen richten ihre eigenen Handlungen an den Verhaltensregelmäßigkeiten ihres Gegenübers aus und bilden, auf der Grundlage ihrer eigenen Interessen, dazu passende Verhaltensformen. Werden die Erwartungen der Akteure hinsichtlich der Gleichförmigkeit des Verhaltens ihres Gegenübers enttäuscht, so reagieren sie mit negativen Signalen, die beim Primärakteur wiederum ein Gefühl der Verpflichtung zur Fortführung seines regulären Verhaltens erzeugen. Die Verhaltenserwartungen werden in der jeweiligen sozialen Einheit[15] verallgemeinert. Eine soziale Norm (Verhaltensnorm[16]) ist also eine „sanktionsbewehrte Handlungs- und Einstellungserwartung von überindividueller Gültigkeit“.[17] Auf diese Weise entsteht eine durch Verhaltensnormen konstituierte, auf Konvention beruhende soziale Ordnung.[18]

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Man sollte freilich nicht übersehen, dass soziale Normen auch auf andere Weise entstehen und vor allem übertragen werden. Soziale Normen können durch prägende Persönlichkeiten „gesetzt“ werden, etwa durch Religionsstifter[19] oder politische Führer.[20] Hinzu tritt in der Gegenwart die Entwicklung, evtl. Ausarbeitung und Empfehlung von Verhaltensnormen durch besonders engagierte „Moralunternehmer“[21], z.B. im Bereich des Umwelt- und Gesundheitsschutzes (Tabuisierung des Rauchens seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts). Anschauliche Beispiele für die Herausbildung sozialer Normen finden sich häufig im Bereich neuer Technologien (Entwicklung einer „Netiquette“ im Email-Verkehr, Formen der Handynutzung in der Öffentlichkeit, usw.).

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Soziale Normierungen sind gelegentlich mit biologischen Gegebenheiten verknüpft; Popitz nennt in diesem Zusammenhang den „Unterschied der Geschlechter, Geburt, Kindheit, Altern und Tod.“[22] Die biologischen Anknüpfungspunkte werden jedoch von den unterschiedlichen Kulturen in ganz verschiedener Weise normativ überformt.[23] Als (einziges) Beispiel für eine universal gültige Norm wird oft das Inzest-Tabu genannt.[24]

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Von der Frage nach der Genese sozialer Normen und der Anknüpfung dieser Normen an biologische Unterschiede zu unterscheiden ist das Problem, ob bzw. inwieweit soziale Normen inhaltlich durch die menschliche Biologie vorgeprägt sind. Da der Mensch mit seinen Anlagen, Dispositionen und Wünschen ein Ergebnis der Evolution darstellt, ist davon auszugehen, dass auch diejenigen Faktoren, die die Herausbildung sozialer Normen bestimmen, evolutionär geprägt sind. Soziale Normen und damit auch Moral und Recht besitzen also biologische Grundlagen und Prägungen.[25]

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