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I. Wertobjektivismus

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Nach dem objektiven Wertverständnis (Victor Kraft (1880–1975) spricht auch von „Wert-Absolutismus“[107]) existieren Werte unabhängig vom menschlichen Dafürhalten.[108] Sie sind also von menschlichen Wertungen nicht abhängig. Der bekannteste Vertreter dieser Position ist der antike Philosoph Platon (428/427–348/347 v.Z.). Nach objektivem Verständnis sind Werte überzeitlich vorgegeben, sei es durch eine göttliche Setzung, durch die Natur oder auch in der Sprache. Ein objektivierbares Wertverständnis korrespondiert häufig mit einer kognitivistischen Haltung in der Moralphilosophie, also der Vorstellung, dass die Maßstäbe des Guten und Schlechten vom Menschen erkannt werden können und nicht auf unserer eigenen Setzung, oder Entscheidung, beruhen.[109]

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Die beiden bekanntesten deutschsprachigen Vertreter des Wertplatonismus im 20. Jahrhundert waren die deutschen Philosophen Max Scheler (1874–1928) und Nicolai Hartmann (1882–1950). Ihre Thesen wurden vor allem in den 50er Jahren in der deutschen Rechtswissenschaft intensiv diskutiert und teilweise sogar von der Rechtsprechung aufgegriffen.[110] Ihre Lehren wirken in zahlreichen Formulierungen und strafrechtsdogmatischen Rechtsfiguren nach, häufig ohne dass den heutigen Juristinnen und Juristen die Herkunft ihrer Sprach- und Argumentformen bewusst wäre.

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In seiner 1921 in 2. Auflage erschienenen Schrift „Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik“ fasst Max Scheler die Grundannahmen seines wertplatonistischen Ansatzes wie folgt zusammen:

„Es gibt eine Erfahrungsart, deren Gegenstände dem ‚Verstande‘ völlig verschlossen sind; für die dieser so blind ist wie Ohr und Hören für die Farbe, eine Erfahrungsart aber, die uns echte objektive Gegenstände und eine ewige Ordnung zwischen ihnen zuführt, eben die Werte; und eine Rangordnung zwischen ihnen. Und die Ordnung und die Gesetze dieses Erfahrens sind so bestimmt, genau und einsichtig wie jene der Logik und Mathematik; d.h. es gibt evidente Zusammenhänge und Widerstreite zwischen den Werten und den Werthaltungen und den daraus sich aufbauenden Akten des Vorziehens usw., aufgrund deren eine wahre Begründung sittlicher Entscheidungen und Gesetze für solche möglich und notwendig ist.“[111]

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Ähnlich formuliert Nicolai Hartmann:

„Die eigentliche Seinsweise der Werte ist offenkundig die eines idealen Ansichseins. Sie sind ursprünglich Gebilde einer ethisch idealen Sphäre, eines Reiches mit eigenen Strukturen, eigenen Gesetzen, eigener Ordnung. Diese Sphäre schließt sich der theoretisch idealen Sphäre, der logischen und mathematischen Seinssphäre, sowie derjenigen der reinen Wesenheiten überhaupt, organisch an. Sie ist deren Fortsetzung.“[112]

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Klar grenzt sich Hartmann gegenüber der Vorstellung ab, Werte seien nur subjektive Gefühlseinstellungen bzw. Ausdruck solcher Einstellungen:

„Der Gedanke des Ansichseins … erhebt sie über alle solche Zweifel. Er selbst wurzelt in der Tatsache, dass es so wenig möglich ist ein Wertgefühl willkürlich hervorzurufen, wie eine mathematische Einsicht willkürlich zu konstruieren. In beiden Fällen ist es ein objektiv geschautes Seiendes, das sich darbietet, welchem das Gefühl, das Schauen, der Gedanke nur folgen, aber nichts anhaben können. Man kann als wertvoll nur empfinden, was an sich wertvoll ist. Man kann freilich solchen Empfindens auch unfähig sein; aber wenn man seiner überhaupt fähig ist, so kann man mit ihm den Wert nur so empfinden, wie er an sich ist, nicht aber wie er nicht ist. Das Wertgefühl ist nicht weniger objektiv als die mathematische Einsicht.“[113]

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Wer nicht in der Lage ist, einen objektiven Wert zu „schauen“, ist für Hartmann „wertblind“.[114] Wertblindheit liegt ihm zufolge der Ansicht zugrunde, Werte seien einem historischen Wandel unterworfen:

„Es gibt auch Unbildung und Bildung des Wertgefühls, Begabung und Unbegabtheit für Wertschau. Es gibt ein individuelles Reifen des Wertorgans im Einzelmenschen, und es gibt ein geschichtliches Reifen des Wertorgans in der Menschheit. Ob das letztere immer Fortschritt bedeute, muss dahingestellt bleiben; vielleicht bringt es die Enge dieses Wertbewusstseins mit sich, dass es auf der anderen Seite immer wieder verliert, was es auf der einen gewinnt. Vielleicht gibt es auch eine Erweiterung der Enge selbst. Tatsache aber ist, dass wir immer nur begrenzte Ausschnitte aus dem Wertreich übersehen, für seinen übrigen Umfang aber wertblind sind. Das ist der Grund, warum das geschichtliche Wandern des Wertblickes mit seinem Lichtkreise auf der Ebene der an sich seienden Werte – welches sich in der Vielheit und der Vergänglichkeit der ‚Moralen‘ spiegelt – so überaus lehrreich für die philosophische Wertforschung ist. … Nicht Werte, wohl aber der Wertblick ist variabel. Aber er ist es eben deswegen, weil die Werte selbst und ihre ideale Ordnung seine Bewegungen nicht mitmachen, weil sie gegenständlich und ansichseiend sind.[115]

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