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II. Standesrecht
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Als Standesrecht bezeichnet man das Recht eines Berufsstandes, dem der Gesetzgeber die Befugnis übertragen hat, die bereichsspezifischen berufsbezogenen Moralvorstellungen in Rechtsform selbst zu verwalten.[204] Dieses Recht wird traditionell vor allem den sog. „freien Berufen“,[205] insbesondere Ärzten und Rechtsanwälten, zugestanden.
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Standesrecht besitzt für die Rechtsordnung, auch und gerade die Strafrechtsordnung, eine große Bedeutung. Durch den Verzicht auf eine eigene rechtliche Regelung erkennt der Staat die Eigenständigkeit und Bedeutung der jeweiligen Berufsgruppe an. Sie wird in die Lage versetzt, ihr eigenes Berufsethos in rechtliche Formen zu gießen. Auf diese Weise können die eben erwähnten negativen Auswirkungen einer Verrechtlichung vermieden oder zumindest abgeschwächt werden. Zugleich wird das jeweilige Ethos explizit gemacht und kann so gezielt fortentwickelt werden. Standesrecht normiert in aller Regel Detailfragen, die von der allgemeinen Rechtsordnung nicht entschieden werden. Standesrecht kann deshalb auch dort Verbote formulieren, wo das allgemeine Strafrecht kein Verbot kennt, und vermag u.U. sogar standesrechtliche Sanktionen festzusetzen, deren Wirkung für die davon Betroffenen einer Strafe gleichkommt.[206]
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Problematisch wird das Auseinanderfallen von Standesrecht und Strafrecht dann, wenn damit spürbare Wertungswidersprüche verbunden sind. Dies ist etwa seit dem Jahr 2011 im Hinblick auf den ärztlich assistierten Suizid der Fall. Im Strafrecht ist die Beihilfe eines Arztes zum Suizid eines anderen, z.B. eines Patienten, schon im Hinblick auf den Grundsatz der limitierten Akzessorietät straflos.[207] Dagegen enthält die Musterberufsordnung der Ärzte seit 2011 in § 16 S. 3 eine Klausel, die die Hilfe zur Selbsttötung verbietet. Eine ärztliche Suizidassistenz ist also nicht strafbar (und nach Maßgabe der herrschenden Sozialmoral auch nicht strafwürdig); dieser Wertung folgt aber nur ein Teil der Landesberufsordnungen, während das ärztliche Standesrecht anderer Landesärztekammern die ärztliche Suizidassistenz untersagt.[208]
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Die Situation wird noch dadurch kompliziert, dass nach wohl überwiegender Meinung das Grundrecht der Gewissensfreiheit (Art. 4 GG) auch im Arzt-Patienten-Verhältnis zu beachten ist und einem ausnahmslosen Verbot der Suizidassistenz entgegensteht.[209] Für Ärzte und Patienten ist diese nur durch die Zusammenschau mehrerer Regelungsebenen erfassbare Rechtslage kaum mehr verständlich. Schon wegen der zentralen Bedeutung des Lebensschutzes für eine an humanistischen Grundsätzen orientierte Rechtsordnung sind Wertungswidersprüche auf diesem Gebiet auch rechtsstaatlich problematisch. Gerade beim Schutz so zentraler Rechtsgüter wie dem Leben sollten Grundrechte (hier: die allgemeine Handlungsfreiheit und die Gewissensfreiheit), das Strafrecht, die Sozialmoral und die einzelnen Standesrechte konform gehen.
1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 1 Strafrecht im Kontext der Normenordnungen › I. Sorgfaltsanforderungen, Technische Normen und Technikstandards