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G. (Straf-)Recht und Religion

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In vielen nicht-europäischen Gesellschaften sind die Beziehungen zwischen Strafrecht und Religion außerordentlich eng.[183] Dasselbe war in Europa bis zur Aufklärung der Fall,[184] und angesichts der vielbesprochenen „Rückkehr der Religion(en)“ ist es keineswegs ausgemacht, dass die Bedeutung von Religiosität und Religionen nicht auch in Europa wieder zunehmen könnte.[185] Dies rechtfertigt es, auf das in der Strafrechtstheorie erstaunlicherweise kaum behandelte Thema des Zusammenhangs von Religion und (Straf-)Recht etwas genauer einzugehen:

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Religion ist eine sozio-kulturelle Institution, die dem Recht in zweifacher Weise gegenübergestellt zu werden pflegt: zum einen als Grundlage, zum anderen aber auch als Grenze des Rechts.[186] Vor allem in jüngerer Zeit findet sich aber auch die Gegenposition, wonach im demokratischen Rechtsstaat Recht als Grenze der Religion anzusehen ist.[187]

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Die wohl bekannteste Version der These, Religion – im weitesten Sinne verstanden – bilde die Grundlage des Staates und damit auch des (Straf-)Rechts, stammt von Ernst-Wolfgang Böckenförde, der im Rahmen einer Analyse der Herkunft des modernen Staates ausführte, der säkularisierte Verfassungsstaat beruhe auf (religiösen, E.H.) Grundlagen, die er selbst nicht bereitstellen könne:

„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat“.[188]

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Böckenförde deutet an, „auch der säkularisierte weltliche Staat [müsse] letztlich aus jenen inneren Antrieben und Bindungen leben …, die der religiöse Glaube seiner Bürger vermittelt.“[189] Böckenfördes These ist allerdings schon deshalb problematisch, weil in seiner Analyse der Religionsbegriff sehr unbestimmt bleibt. Möglicherweise erschien dem Autor die Gleichsetzung von Religion mit dem Christentum so selbstverständlich, dass er nähere Ausführungen zu Inhalt und Ausgestaltung des von ihm verwendeten Religionskonzeptes für überflüssig hielt. Diese Position mag 1967, dem Jahr der Publikation des Aufsatzes, vertretbar gewesen sein; heute ist sie angesichts der enormen kulturellen und auch religiösen Pluralisierung der deutschen Gesellschaft problematisch geworden. Im Jahr 2015 waren nur noch 28,9 % der deutschen Bevölkerung katholisch, 27,1 % evangelisch, 4,4 % muslimisch und 36 % gehörten keiner Religionsgemeinschaft mehr an.[190] Eine allgemeinverbindliche und für alle Bevölkerungsgruppen akzeptable normative Basis kann deshalb kaum mehr von einer bestimmten religiösen Richtung allein bereitgestellt werden.

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Fraglich bleibt darüber hinaus der von Böckenförde behauptete Zusammenhang zwischen Religion und Moral. Um Böckenfördes These zu prüfen, ist es deshalb erforderlich, das oft allzu undifferenziert verwendete Konzept von „Religion“ etwas genauer zu betrachten. Dabei lassen sich verschiedene Dimensionen von Religion unterscheiden:[191]

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Religionen besitzen zunächst eine kognitive Dimension, die etwa aus Aussagen über die Entstehung der Welt, ein Leben nach dem Tode oder die Existenz einer oder mehrerer Gottheiten besteht. Es liegt auf der Hand, dass derartige Annahmen mit unserem Erfahrungswissen, und insbesondere mit den Sätzen der empirischen Wissenschaften, in Konflikt geraten können.[192] Hinzu tritt eine normative Dimension, welche die für eine Religion wichtigen Werte und Verhaltensregeln (also religiöse Ge- und Verbote) enthält. Dabei lässt sich unterscheiden zwischen solchen Werten und Normen, die nur für die Gläubigen selbst gelten sollen, und solchen, die nach Überzeugung der Gläubigen auch für Ungläubige gelten. Die rituelle Dimension einer Religion umfasst ritualisierte Handlungen, also etwa Gebete oder andere kultische Verrichtungen. Zur institutionellen Dimension gehören die spezifischen Über- und Unterordnungsverhältnisse (Hierarchien), die eine Religion ausgebildet hat. Die ästhetische Dimension besteht aus religionsspezifischen Zeichen, Symbolen, Formen, Gerüchen und Klängen. Hinzu tritt eine psychische Dimension, die von Gefühlen des Trosts und Vertrauens bis hin zu Erfahrungen der religiösen „Ekstase“ reichen kann. Besonders intensiv wird die psychische Dimension von Religion offenbar in Gruppen erlebt.

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Böckenfördes These dürfte in erster Linie auf die normative Dimension von Religion abzielen. Sie würde dann besagen, dass der moderne Verfassungsstaat und sein Recht auf Werte und Normen angewiesen sind, die aus der religiösen Sphäre stammen. Nun trifft zwar zu, dass das moderne Recht für Einflüsse aus der Sphäre der Sitte und der Moral offen ist (vgl. oben Rn. 29 ff.). Sehr fraglich ist aber, ob die rezipierten Normen und Werte in erster Linie oder gar ausschließlich religiöser Herkunft sind oder auch nur sein sollten. Zentrale Werte des modernen demokratischen Verfassungsstaates wie Menschenwürde, Menschenrechte und Demokratie entstammen Humanismus und Aufklärung und mussten im 18. und 19. Jahrhundert gegen den hartnäckigen Widerstand der christlichen Kirchen erkämpft werden. Erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, im Rahmen des zweiten Vatikanischen Konzils, konnte sich die katholische Kirche dazu durchringen, mit den politischen Idealen der Aufklärung Frieden zu schließen.[193] In anderen Religionen, vor allem dem Islam, müssen die Ideen der Aufklärung erst noch durchgesetzt werden.[194] Vor diesem Hintergrund verliert die These Böckenfördes, der moderne Verfassungsstaat bedürfe zu seiner Funktionsfähigkeit oder gar seiner Legitimation religiöser Werte oder Normen, erheblich an Überzeugungskraft.

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Sehr viel plausibler ist es, Recht, und damit auch das Strafrecht, im demokratischen Verfassungsstaat als Grenze von Religion anzusehen. Die dem Staatswesen zugrundeliegenden Werte sind die Menschenwürde und die auf ihr aufbauenden Menschenrechte. Soweit Religionen in einer ihrer Dimensionen mit diesen basalen Werten in Konflikt geraten, stellt sich die Frage nach ihrer Einhegung oder Zähmung – nicht zuletzt durch das Recht. Gerade religiös motivierte Praktiken, die mit dem geltenden Strafrecht in Konflikt stehen, erfordern höchste Aufmerksamkeit. Lange Zeit wurde die Religionsfreiheit, (Art. 4 GG), so weit verstanden, dass religiöse Praktiken kaum einzuschränken waren.[195] Eine Ausnahme bildete allenfalls der Exorzismus.[196] Angesichts religiös gestützter Erscheinungen wie Kinderehen, Genitalbeschneidung und Ablehnung der Gleichstellung von Mann und Frau stellt sich jedoch die Frage, in welchem Ausmaß religiöse Praktiken, die den humanistischen Leitwerten unserer Verfassung, also der Menschenwürde und den Menschenrechten, widersprechen, toleriert werden können.[197]

1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung§ 1 Strafrecht im Kontext der Normenordnungen › H. Bereichsspezifische Sitten, Bereichsmoralen und das Standesrecht

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