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I. Gruppenspezifische Normen
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Neben den religiös gestützten Werten und Moralvorstellungen existieren noch viele andere Formen sozialer Normen in der Gesellschaft. Viele von ihnen sind bereichsspezifisch, d.h. sie gelten nur innerhalb bestimmter sozialer Gruppen. Sie können von bloßer Gewohnheit (mit bloß geringer normativer Wirkung) bis hin zum ausdifferenzierten Berufsethos[198] reichen; teilweise sind bereichsspezifische Regelungen sogar als Standesrecht festgeschrieben.[199] In Europa und den USA scheint die Bedeutung derartiger Normierungen „unterhalb“ des staatlich gesetzten (Straf-)Rechts zurückzugehen, während sie in Ostasien, gerade in Japan, nach wie vor eine sehr große Rolle spielen, auch und gerade im Zusammenhang mit der Kriminalitätsprävention.[200] Im sog. „Kommunitarismus“, einer in den 1970er Jahren v.a. in den USA und Kanada aufgekommenen Strömung in der Moralphilosophie, wird die Relevanz von bereichsspezifischen Moralen betont und ihre Stärkung gefordert.[201]
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Einen Sonderfall einer nicht gruppenspezifischen, sondern eher „tätigkeitsspezifischen“ bereichsspezifischen Moral bilden solche Moralanforderungen, die an bestimmte Tätigkeiten anknüpfen.[202] Beispiele hierfür sind die „Steuermoral“, die „Zahlungsmoral“ oder auch die „Kampfmoral“. Gemeint damit ist die jeweils spezifische Einstellung von Personen als Steuerpflichtige, Zahlungspflichtige oder Soldaten. Derartige tätigkeitsspezifische Moralen sind wohl nur dann empirisch zu fassen, wenn man auf die jeweiligen Subjekte abstellt und z.B. die Zahlungsbereitschaft einer bestimmten Gruppe von Menschen zu einer bestimmten Zeit und in einem überschaubaren örtlichen Zusammenhang betrachtet. Auf diese Weise lassen sich tätigkeitsspezifische Moralen auch als gruppenspezifische Normkomplexe analysieren.
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Eines der wichtigsten Beispiele für eine gruppenspezifische Moral ist das Handwerkerethos oder das Ethos der Handeltreibenden mit seinem Leitbild des „ehrbaren Kaufmanns“, also die Summe aller moralischen Sondernormen, die sich am Leitbild eines „ehrbaren Kaufmanns“ orientieren. Sieht man genauer hin, so findet sich in fast allen traditionellen Berufen ein entsprechendes Ethos. Durch derartige Normen definiert der jeweilige Berufsstand seinen idealen Vertreter. Für die Herausbildung einer Gruppenidentität – mit Rückwirkungen auf das individuelle Handwerkerethos – sind derartige gruppenspezifische Moralen von größter Bedeutung.
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Es ist bemerkenswert, dass eine starke Verrechtlichung (auch und gerade mit den Mitteln des Strafrechts) gruppen- bzw. berufsspezifische Moralordnungen offenbar zurückdrängen und u.U. so stark schwächen kann, dass das überkommene Ethos nur noch als Folklore weiterlebt oder sich ganz auflöst.[203] Derartige Verrechtlichungsschübe sind schon deshalb problematisch, weil das gruppenspezifische Ethos Verhalten oft besser zu regulieren vermag als die als fremd und aufgezwungen empfundenen Rechtsnormen. Mit der Auflösung der gruppenspezifischen Moralordnung geht daher nicht selten eine Auflösung oder zumindest Abschwächung auch der individuellen Moral (etwa einer Handwerkermoral) einher.