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E. Die Menschenwürde als Leitwert
jeder humanen Rechtsordnung

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Der Leitwert der deutschen Verfassungsordnung ist die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 1 EU-Charta). Es handelt sich nicht bloß um ein rechtliches, sondern auch um ein ethisches Konzept, wobei der Begriff in der Ethik in zahlreichen, oft ganz unterschiedlichen Bedeutungen verwendet wird.[143] Die Orientierung des Rechts an der Menschenwürde ist die Kernforderung des juristischen Humanismus.[144]

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Ausgangspunkt für die juristische Bestimmung der Menschenwürde i.S.v. Art. 1 GG sollte die Tatsache sein, dass die Menschenwürdegarantie unserer Verfassung eine Reaktion auf die schlimmsten Verbrechen des „Dritten Reiches“ darstellt, also die Entrechtung ganzer Bevölkerungsteile, den Massenmord an Juden und anderen Minderheiten, Folter und medizinische Versuche an Menschen.[145] Die seit dem 18. Jahrhundert eingeführten Menschenrechte hatten sich als nicht ausreichend erwiesen, derartige Untaten zu verhindern. In der deutschen Verfassung ist die Menschenwürde deshalb noch stärker ausgestaltet als die Grundrechte, also die im Grundgesetz positiv geregelten Menschenrechte: die Menschenwürde ist, anders als die übrigen Grundrechte, nicht legal einschränkbar, d.h. jeder Eingriff in den Schutzbereich der Menschenwürde ist eo ipso verfassungswidrig.[146]

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Um die inhaltliche Bestimmung von „Menschenwürde“ i.S.v. Art. 1 GG wird seit langem gerungen.[147] Lange Zeit fand die „Objektformel“ Günter Dürigs viel Zuspruch, wonach die Menschenwürde dann beeinträchtigt sein soll, „wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“.[148] In den letzten Jahren mehren sich jedoch die Stimmen, die die Leistungsfähigkeit dieser Formel gerade zur Lösung problematischer Fälle in Zweifel ziehen.[149] Auch der Versuch, Menschenwürdeverletzungen über den Gesichtspunkt einer „Instrumentalisierung“ zu definieren, überzeugt jenseits eines ohnehin unstrittigen Kernbereichs von Menschenwürdeverstößen kaum.[150]

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Versucht man, den Begriff „Menschenwürde“ genauer zu fassen, so wird deutlich, dass sie sich als ein Ensemble grundlegender subjektiver Rechte deuten lässt, deren Zweck es ist, die Autonomie bzw. Autonomiefähigkeit des Individuums zu schützen. Dazu gehören das Recht auf ein materielles Existenzminimum, das Recht auf autonome Selbstentfaltung (also minimale Freiheitsrechte), ferner ein Recht auf Freiheit von extremen Schmerzen (gegen Folter), ein Recht auf Wahrung der Privatsphäre, ein Recht auf geistig-seelische Integrität, ein Recht auf grundsätzliche Rechtsgleichheit und ein Recht auf minimale Achtung.[151] Der Anwendungsbereich dieser Rechte ist durchaus eng zu verstehen, um die Anwendung der Menschenwürde in der Praxis nicht ad absurdum zu führen.[152]

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Nach überwiegender Ansicht kann die Menschenwürde als Basis der anderen Grundrechte verstanden werden: sie umfasst den „Kerngehalt“ der anderen Grundrechte. Darüber hinaus begründet die Menschenwürde die Verfassungsordnung insgesamt, Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG. Neben dieser Begründungsfunktion wird die Menschenwürde auch als Leitwert bei der Auslegung von Gesetzen, einschließlich der Strafgesetze, verwendet und dient als Orientierungsmaßstab der Gesetzgebung. Man kann insofern von der Orientierungsfunktion der Menschenwürde sprechen. Eine dritte Funktion der Menschenwürde liegt in ihrer Rolle als kritischer Maßstab, an welchem Rechtsordnung und Rechtspolitik gemessen werden können (kritische Funktion der Menschenwürde). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes die Humanorientierung der Rechtsordnung sichert und damit ein wesentliches Element der Rechtsphilosophie der Aufklärung aufgreift, indem sie die Ausrichtung des Rechts auf den konkreten Menschen und seine basalen Bedürfnisse und Nöte als Leitwert der bundesdeutschen Rechtsordnung, einschließlich der Strafrechtsordnung, festschreibt.[153]

1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung§ 1 Strafrecht im Kontext der Normenordnungen › F. Die Reflexionsebene: Rechtswissenschaft und Ethik

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