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V. Radbruchs Formel

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Umstritten ist, ob die Einhaltung bestimmter moralischer Standards als Geltungsbedingung für Recht verwendet werden kann oder sollte. Der bekannteste Vorschlag dazu stammt von dem Rechtsphilosophen, Strafrechtswissenschaftler und Rechtspolitiker Gustav Radbruch (1878–1949). Rechtsnormen, die in einem ordnungsgemäßen Verfahren zustande gekommen sind, sollen grundsätzlich auch dann gelten, wenn sie dem Rechtsanwender als moralisch bedenklich oder sogar unmoralisch erscheinen. Radbruch schlägt aber vor, von diesem Grundsatz bei extrem unmoralischen und geradezu „unerträglichen“ Rechtsnormen eine Ausnahme zu machen. Er verdeutlicht dies an der Frage nach der rechtlichen Relevanz nationalsozialistischer Rechtssetzung:

„Wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ,unrichtiges Recht‘, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren denn als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinn nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen. An diesem Maßstab gemessen sind ganze Partien nationalsozialistischen Rechts niemals zur Würde geltenden Rechts gelangt.“[96]

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Die deutsche Rechtsprechung hat Radbruchs Formel zunächst im Zusammenhang mit der Bewältigung der durch NS-Recht gestützten Verbrechen während des „Dritten Reiches“ und zum zweiten Mal im Rahmen der „Mauerschützen-Prozesse“ gegen Grenzposten der DDR eingesetzt.[97] In der Rechtsphilosophie und Strafrechtswissenschaft ist diese Rechtsprechung auf Kritik gestoßen.[98] Zum einen ist ihre Vereinbarkeit mit dem Rückwirkungsverbot zweifelhaft, zum anderen ist unklar, wie sich der Bereich des „extrem ungerechten“ positiven Rechts präziser umschreiben lässt. Radbruchs Formulierung, es sei darauf abzustellen, dass „Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt“ und „Gleichheit … bewusst verleugnet“ wurde, hilft kaum weiter, da sich gerade die nach üblichem Verständnis verbrecherischsten Machthaber in aller Regel auf eine Ideologie stützen, die ihre Gesetze als „gerecht“ legitimiert. Die nationalsozialistische Weltanschauung und Rassenlehre enthält hierfür viele Beispiele.[99] Auch der Kreis der „Gleichheit“ lässt sich bei hinreichender Differenzierungsfähigkeit und Formulierungskunst leicht so bestimmen, dass er alle gesetzlichen Diskriminierungen abzubilden vermag.[100] Damit entsteht die Gefahr erheblicher Willkür auf Seiten der Rechtsanwender:

„Es besteht keinerlei Garantie oder auch nur Wahrscheinlichkeit dafür, dass jene Moral, die der betreffende Richter oder Bürger in seinen Rechtsbegriff aufnimmt, tatsächlich eine ‚aufgeklärte‘ Moral ist! [. . .] In der Regel wird der Betreffende seinem moralbehafteten Rechtsbegriff seine eigenen moralischen Vorstellungen zugrunde legen. Es spricht jedoch im Allgemeinen nichts dafür, dass die moralischen Vorstellungen eines Individuums oder irgendeiner bestimmten Gesellschaft in irgendeinem Sinn aufgeklärter (etwa ‚humaner‘ oder ‚gerechter‘) sind als die positiven Rechtsnormen des entsprechenden Staates. Man vergleiche beispielsweise die Einstellung unserer Bevölkerung und die Normierung unseres Grundgesetzes zur Legitimität der Todesstrafe. Es gibt eben nicht nur … den Richter oder Bürger, der, konfrontiert mit ‚Nazigesetzen‘ lieber einer humanen Moral folgen möchte. Es gibt ebenso den Richter oder Bürger, der, konfrontiert mit ‚demokratischen‘ Gesetzen …, lieber einer Nazimoral folgen möchte!“[101]

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Obwohl also Radbruchs eigene Vorschläge zur Markierung des Bereichs des schlechthin Ungerechten wenig überzeugen können, bleibt doch die Möglichkeit, auf anderen Wegen zu versuchen, einen moralischen und rechtlichen Halt zu finden, der so sicher und aussagekräftig ist, dass sich abweichendes gesetzliches Recht an ihm messen lässt. Zu denken ist insbesondere an die in der deutschen Verfassung als „Grundrechte“ positivierten Menschenrechte und die Menschenwürde sowie die entsprechenden Vorgaben auf der Ebene der Europäischen Union[102] und des Völkerrechts.[103]

1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung§ 1 Strafrecht im Kontext der Normenordnungen › D. Werte

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