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I. Gemeinsame Wurzeln
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Aus den Sitten als normativ empfundenen und sanktionsbewehrten Gewohnheiten entwickeln sich nach Geiger sowohl das Recht als auch die Moral[59] (These vom genetischen Zusammenhang von Recht und Moral).[60] Die Sitten (Geiger spricht auch von der „kommunitären Ordnung“[61]) werden einerseits einem Prozess der Veräußerung und „Veranstaltlichung“ unterzogen – so entsteht das Recht, und andererseits einem Prozess der Verinnerlichung, was zur Entstehung der Moral führt: „Genetisch gesehen haben Recht und Moral also ihre gemeinsame Wurzel in einer kommunitären Lebensordnung, aus der sie durch polare Entfaltung in ihr komplex vorhandener Elemente hervorgegangen sind. Primum jus und primae mores sind ein und dasselbe.“[62] Zur Moral tritt in vielen Gesellschaften noch eine religiöse Überhöhung hinzu; Geiger spricht von einer „Überbauung … mit magisch-religiösen Vorstellungen.“[63]
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Geiger zufolge lassen sich drei Formen von Moral unterscheiden: die traditionelle Moral, die dogmatische Moral und die autonome Moral. Kennzeichnend für traditionelle Moral soll sein, dass „habituell entstandene Norminhalte mit der spezifisch moralischen Wertvorstellung des Guten überbaut und ihre Befolgung demgemäß dem einzelnen ins Gewissen geschoben ist. Hier also ist das Gewissen nur Sittenrichter …“.[64] Dagegen setzt die dogmatische Moral bereits erhebliche Reflexionsanstrengungen voraus; sie „hat ihren Ursprung in der ethischen Spekulation über die Wertidee des Guten. Aus ihr als einem Prinzip wird deduktiv ein System von moralischen Lebensgrundsätzen entwickelt und dogmatisch als allgemeingültig gelehrt.“[65] Kennzeichnend für die dritte Moralform, die autonome Gewissensmoral, ist nach Geiger die Erkenntnis, dass es vorgegebene moralische Inhalte nicht gibt: der „ethische Dogmatismus endet … in einem unaufhebbaren Schisma der Moralen.“[66]
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Was bleibt, ist der „ethische Subjektivismus“, die „formale Wertethik“ (Geiger verwendet diese Ausdrücke als Synonyme zum Begriff der „autonomen Gewissensmoral“). Danach „ist die Kategorie des Guten im Menschen kraft seiner mentalen Struktur angelegt, die Inhaltgebung der Wertidee des Guten aber zeitlich, örtlich und individuell verschieden, ohne dass es möglich wäre, anhand objektiver Maßstäbe für die eine, gegen die andere Auffassung zu entscheiden.“[67] In derartigen Konzepten ist das persönliche Gewissen also nicht bloß „Moralrichter“, sondern „normstiftende Moralautorität.“[68]
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Geigers sehr differenzierte Analysen können noch heute als Ausgangspunkt der rechtssoziologischen und auch der rechtswissenschaftlich-dogmatischen Betrachtung dienen. Sie sind jedoch in einem wesentlichen Punkt unterkomplex: Infolge von Migration und neuen weltumspannenden Kommunikationsformen treffen in der Gegenwart in vielen modernen Gesellschaften Moralvorstellungen aufeinander, die sich in unterschiedlichen Kulturkreisen entwickelt haben, und die sich auch in ihrem Verhältnis zu der im Staat geltenden Rechtsordnung deutlich unterscheiden. Die These vom genetischen Zusammenhang von Moral und Recht, ihrer Herkunft aus einer Wurzel, lässt sich im Hinblick auf konkrete Rechts- und Moralordnungen jedenfalls dann nicht halten, wenn die Beteiligten unterschiedlichen Kulturen entstammen. Auf das damit angedeutete Problem der neuen Interkulturalität des Rechts, insbesondere des Strafrechts, wird noch näher einzugehen sein (vgl. insbes. Rn. 114 ff.).