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Kurz bevor ich in unsere Straße einbiege, höre ich ein Geräusch hinter mir. Ich drehe mich um und falle fast aus dem Sattel. Da fährt mit lang ausgreifenden Schritten auf ihrem Skateboard: Clara. Mit dem Ding ist sie fast genauso schnell gewesen wie ich. Das ist an und für sich ja schon beunruhigend genug. Aber was mich wirklich durcheinanderbringt, ist, dass dies nicht Claras Heimweg ist. Sie muss nur meinetwegen hier entlangfahren. Auf dem Rücken trägt sie einen knallgelben Rucksack. Ich bremse mit einem Fuß auf dem Bürgersteig und warte auf sie.

Im März mussten wir zusammen ein Referat halten. Und überraschenderweise kann man ganz gut mit Clara arbeiten. Sie will zwar immer bestimmen, wo es langgeht, aber das ist kein Problem für mich. Jedenfalls nicht bei Sachen mit der Schule. Und weil das mit dem Referat gut geklappt hat, haben wir auch zusammen für eine Englischarbeit gelernt. Ich hab ’ne Zwei geschrieben, und danach dachte ich, Clara bringt mir Glück. Wir haben auch für Bio zusammen gepaukt. Wir mussten Pflanzen bestimmen und Eichenblätter von Buchenblättern unterscheiden, Roggen von Gerste und so was. Clara wusste gleich zu jedem Getreide ein Brotrezept. Aber mir hat das nicht geholfen. Für mich sahen alle diese Halme ähnlich aus.

Es waren die ersten warmen Frühlingstage. Wir waren mit den Fahrrädern unterwegs und kurvten kilometerlang durch Feldwege. Zwischendurch hielt Clara immer wieder an und zeigte mir irgendein Kraut. Aber ich hab immer nur auf den durchsichtigen Himmel geschaut und auf die leise raschelnden Felder. Und irgendwann hab ich vorgeschlagen, ins Schwimmbad zu fahren. Clara hat den Kopf geschüttelt und gelacht: »Bei dem Wetter? In eine Betonhalle?«

Ich konnte sie dann wenigstens zu einem Picknick am Reitstetter See überreden. Ich hatte ein Snickers mit und Clara ein Käsebrötchen. Wir haben halbe-halbe gemacht. Und komischerweise hat mir ihr Käsebrötchen fast besser geschmeckt. Das habe ich ihr aber natürlich nicht gesagt. Stattdessen habe ich mir Turnschuhe und Socken ausgezogen und mal einen Zeh in den See gesteckt. Das Wasser war lausig kalt.

»Schade«, hab ich gesagt. Und Clara hat entgegnet: »Wir können ja wiederkommen, wenn es warm ist.«

Ich hab genickt.

»Zum Beispiel könnten wir an unserem Geburtstag eine Radtour hierher machen.«

Clara hat nämlich am selben Tag Geburtstag wie ich, was eigentlich nichts heißt, aber doch irgendwie nicht ganz egal ist.

Ich weiß nicht, ob ich das damals eine gute Idee fand oder ob ich nur zugestimmt hab, um keinen Streit vom Zaun zu brechen. Und jetzt weiß ich nicht genau, ob Clara sich daran erinnert oder ob sie sauer auf mich ist oder alles beides.

Die Bioklausur war im April, und sie ist ziemlich in die Hose gegangen. Dass Clara mir Glück bringt, muss ich mir eingebildet haben. Und dann tauchten immer andere Verpflichtungen auf, nicht zuletzt das Horus-Spiel, und ich habe Clara nicht mehr getroffen. Ich ging davon aus, dass sich die Sache mit dem Geburtstag erledigt hätte.

Jetzt hat Clara mich erreicht. Ihre Wimpern sind durch den Schweiß zu langen Spitzen zusammengeklebt, ein Tropfen läuft die Brillengläser herunter.

»Hi«, sage ich und versuche, es möglichst unbefangen klingen zu lassen.

»Hallo, Jan. Gut, dass ich dich noch erwischt habe.« Besonders sauer klingt Clara nicht. Sie pustet sich eine Haarsträhne aus der Stirn.

Wenn ich wüsste, was mich erwartet, ginge es mir besser.

Clara fingert in ihren Hosentaschen herum. Sie trägt eine alte Armeehose, die abgeschnitten und schwarz gefärbt wurde. Sie ist Clara viel zu groß und schlägt unter dem breiten Gürtel Falten, aber sie hat große Taschen.

»Ich hab was für dich«, sagt sie und zieht einen Brief aus der Oberschenkeltasche, den sie mir in die Hand drückt.

»Was ist das?«, frage ich.

Aber da wendet sie schon auf dem Absatz mit einer halben Drehung.

»Ich muss jetzt weiter. Zum Hip-Hop!«, ruft sie über die Schulter. Ich bleibe etwas verdattert auf der Straße zurück. Der Brief ist zunächst ein ganz normaler Umschlag. Darauf steht in der sehr aufrechten Handschrift Claras mein Name. Claras Schrift kenne ich natürlich. Als wir zusammen für die Englischklausur gebüffelt haben, habe ich oft genug in ihr Grammatikheft geschaut. Da hat alles seinen Platz, da sind die Verben grün unterstrichen und die Nomen rot. Bei mir dagegen – Kraut und Rüben. Also lernten wir immer nach ihren Aufzeichnungen. Und außerdem hätte ich wohl nie eine Zwei geschrieben, wenn ich nicht auch während der Klausur Gelegenheit gehabt hätte, einen Blick auf Claras Handschrift zu werfen. Sie hat das Heft extra ein wenig schräg gehalten, damit ich gut draufschauen konnte. Das muss man ihr lassen. Sie ist zwar zickig, aber ein echter Kumpel. Nur meinen Namen habe ich in ihrer Handschrift noch nie gesehen. Es ist seltsam, etwas so Vertrautes wie einen Namen in einer fremden Schrift zu sehen. Jedenfalls in Claras. Es ist fast so, als würde sie ihn aussprechen. Ich weiß nicht, ob es an dem schnellen Fahrradsprint von vorhin liegt, aber mein Herz schlägt ein bisschen schneller, als ich den Brief umdrehe, um ihn aufzureißen.

»Na, mein Großer, wie war’s denn in der Schule?«, höre ich in dem Moment eine Stimme hinter der Hecke unseres Gartens. Ich blicke auf. Die Stimme gehört meinem Vater, aber ich sehe ihn nicht gleich. Stattdessen stopfe ich den Brief in meine Gesäßtasche.

»Hier«, sagt mein Vater, als er mein suchendes Gesicht sieht. Er grinst zwischen zwei Buchsbaumzweigen durch, die er auseinanderhält.

»Was machst du denn da?«, will ich wissen und frage mich, wie lange er da schon gesessen hat und ob er mein Gespräch mit Clara belauscht hat. Mein Vater ist ein schlauer Hund. Im Gegensatz zu meiner Mutter würde er nie etwas direkt sagen, aber er kriegt die meisten Sachen ziemlich schnell mit. Auch im Gegensatz zu meiner Mutter. Und seit er zu Hause arbeitet, ist es noch schlimmer. Speziell bei Clara muss ich aufpassen, damit er nicht gleich auf eine Liebesgeschichte oder so was schließt.

»Unkraut ausreißen«, sagt er und lässt sich nicht anmerken, ob er mich und Clara gesehen hat oder nicht.

»Schule war okay«, sage ich und spiele sein Pokerspiel mit. »Alles cool.«

Er nickt. Dann winkt er mir mit seinen erdverschmierten Händen zu und sagt: »Mittagessen.«

Beim Essen erwähne ich nicht, dass Lasses Eltern am Wochenende nicht da sind. Ich sage allerdings auch nichts davon, dass ich von Samstag auf Sonntag bei ihm schlafen will. Ich denke an Claras Brief, ärgere mich, dass ich ihn noch nicht gelesen habe, stopfe Eierkuchen in mich hinein und versuche, nicht in Antonias freches Apfelmusgesicht zu schauen. Dabei kriege ich einen Bissen in den falschen Hals, würge und ersticke fast an dem heißen Fladen.

»Schling nicht so, Jan«, sagt meine Mutter.

»Das kommt davon, weil er immer alles gleichzeitig macht«, kommentiert meine kleine Schwester unverschämt.

Ich schlucke den weichen Teig hinunter. »Iss lieber selbst, damit du wenigstens noch fünf Zentimeter wächst«, fauche ich zurück.

»Wenn man redet und isst, kriegt man Eierkuchen in die Lunge.«

»Ich hab nicht geredet, ich habe geatmet«. Ich werde langsam böse.

»Jan, bitte«, mischt sich meine Mutter ein. Da erkenne ich eine Chance, Antonia aus dem Feld zu schlagen.

»Aber es schmeckt so lecker«, sage ich und weiß, dass ich gegen die kleine Hexe gewonnen habe. Wenn ich meine Mutter als Köchin lobe, wird sie immer ganz stolz und lässt mich in Ruhe. Denn die Wahrheit ist, dass sich die meisten ihrer Gerichte ähneln und nach nichts schmecken. Ständig probiert sie neue salzlose Rezepte, backt Butterkuchen ohne Butter oder kocht nur vegetarisch. Die Eierkuchen sind ohne Zucker. Aber den streue ich mir selbst darüber. So schmecken sie wirklich ganz okay. Meine Mutter lächelt und häuft mir noch eine Ladung auf. Das Teil ist von unten angebrannt. Ich kippe alle braunen Stellen mit Zucker zu und stopfe es in mich hinein. Je schneller ich esse, desto schneller kann ich Claras Brief lesen.

»Von Zucker wird man fett«, weiß Antonia.

»Von Apfelmus wird man weich in der Birne«, murmle ich mit vollem Mund zurück und fange mir prompt ein Kopfschütteln meines Vaters ein. Aber ich weiß, dass er hinter seinen vollen Backen auch grinst.

»Die Eierkuchen sind wirklich ein Gedicht«, sagt mein Vater, um die Lage zu entschärfen.

In Gedanken klatsche ich ihn ab und freue mich darüber, dass er die gleiche Taktik fährt wie ich.

Nach dem Essen habe ich es ziemlich eilig, in mein Zimmer zu kommen. Ich hole Claras Brief raus und öffne den Umschlag mit dem Daumen. Zunächst bin ich enttäuscht. Es ist ein Rundschreiben eines der Naturschutzbünde, in denen Clara Mitglied ist. Er ist an Clara adressiert, aber auch wiederum nicht speziell an sie gerichtet, geschweige denn an mich. Es ist eine Einladung zu einem Informationsabend im Naturkundemuseum. Und der ist ausgerechnet morgen, in der Nacht des großen Kampfes. Misstrauisch starre ich den Brief an. Wenn Clara will, dass ich mit ihr zu einem Vortrag gehe, dann hätte sie mir das aber auch früher sagen können. Ich schlage die Broschüre auf, die dem Brief beiliegt.

Die Seiten sind mit einem Vogelkopf unterlegt, der dem Logo auf der horus-spiel.com-Homepage nicht unähnlich ist. Es ist tatsächlich ein Falkenkopf. Er zeigt den Vogel im Profil, den kurzen, kräftigen Schnabel, das große Auge, den so wissend aussehenden Kopf mit den nach hinten gestrichenen Federn.

In dem Heft steht, dass in Deutschland ein Falke entdeckt wurde, der zu einer bisher völlig unbekannten Art gehört. Dieses Tier hat einen großen Wert für Trophäenjäger und Sammler. Der Naturschutzbund hat deshalb ein Schutzprogramm entwickelt, für das noch Freiwillige gesucht werden. Jeweils für eine Woche soll man in der Nähe des Falken leben und das Tier beobachten, genauer gesagt, auf den Falken aufpassen. Ich lasse den Brief sinken.

Auf einmal habe ich doch das Gefühl, dass er an mich persönlich adressiert ist.

Flug der Falken

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