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Die Sonne brennt durch die Fensterscheibe auf mein rechtes Ohr. Ich habe das Gefühl, mir laufen glühende Ströme Lavaschlacke über die Stirn. Für Anfang Juni ist es viel zu heiß. Es sind noch drei Tage bis zu meinem Geburtstag, und so eine Hitze hat es noch nie gegeben, solange ich mich erinnern kann. Im Kursraum ist es stickig. Zehn nagelneue Laptops stehen auf den Tischen. Vor jedem Laptop hocken zwei bis drei Leute aus meiner Klasse. Ich habe mit Lasse einen zusammen. Wir warten, dass eine Verbindung zur Homepage von www.horus-spiel.com hergestellt wird. Das ist die Firma, die das Computerspiel Seths letztes Gefecht vertreibt. Aber das Netz ist wohl schon zu voll. Es dauert ewig, bis der Computer seine Bytes sortiert hat. Es ist fast ein Uhr, und in zehn Minuten ist die Stunde um.

Seit den Weihnachtsferien haben wir ein neues Unterrichtsfach. Es heißt Medienkunde und ist innerhalb kürzester Zeit zum Lieblingsfach der ganzen Klasse geworden. Kurz nach Weihnachten hatte die Sekretärin des Rektors einen Brief an unsere Eltern geschrieben, in dem sie mitteilte, dass im Medienkundeunterricht gelernt werden soll, wie man im Netz seriöse Informationen findet und Fake News erkennt. Faktisch bedeutet das, dass wir neunzig Minuten lang durch das Internet surfen, auf Y8.com rumhängen, chatten oder Youtube gucken, wobei man dabei natürlich nicht vergessen darf, den Ton auszuklicken.

Zum Glück ist unser Medienkundelehrer unser Klassenlehrer, Herr Linne. Der unterrichtet uns bereits in Biologie und hat nun in den Weihnachtsferien eine Fortbildung über neue Medien absolvieren müssen. Jetzt hat er ungefähr so viel Ahnung von Computern wie meine kleine Schwester Antonia. Er brauchte eine ganze Schulstunde dafür, seinen Videochat einzurichten. Dann stellt er uns Aufgaben, die er selbst nicht lösen kann, zum Beispiel:

»Wie schnell müsste der Weihnachtsmann sein, um alle Geschenke pünktlich am Weihnachtsabend zu verteilen?«

»Ist ein Virus ein Lebewesen?«

»Woran erkennt man eine seriöse Quelle?«

Dann sitzt er vor seinem Bildschirm und brütet über Suchmaschinen und stolpert über immer neue Links, während wir warten und Tetris spielen.

Mein Verhältnis zu Linne hat sich, seitdem wir Medienkunde haben, merklich gebessert. Im Gegensatz zu Claras Verhältnis zu ihm. Sie, die alles über Tiere weiß, sich für die Natur interessiert und für Greenpeace ihr halbes Taschengeld spendet, ist geradezu aufmüpfig und von einer Streberin in Bio zu einem totalen Nervbolzen in der Schule geworden. Clara sagt immer hundertprozentig das Gegenteil von dem, was erwartet wird. Selbst bei allgemein bekannten Tatsachen widerspricht sie. Als Linne zum Beispiel sagte, dass der Mensch vom Affen abstammt, war Clara prompt anderer Meinung.

»Der Mensch und der Affe haben die gleichen Vorfahren«, sagte sie.

»Ja, das habe ich doch eben gesagt«, rechtfertigte sich Linne.

»Nein. Sie haben gesagt, dass der Mensch vom Affen abstammt«, beharrte Clara.

»Das ist doch dasselbe«, versuchte Linne seinen Faden wieder aufzunehmen.

»Nein, ist es nicht. Es klingt so, als ob der Mensch etwas Besseres ist als ein Affe. Eine höhere Stufe der Entwicklung. Tatsächlich stehen Affen und Menschen gleichwertig nebeneinander.«

Es war schon klar, worauf Clara hinauswollte. Wenn Affen und Menschen auf einer Ebene stehen, dann darf es keine Tierversuche geben, keine Zoos, keinen Zirkus, keine Delikatessen mit Affenhirn. Linne versuchte einzulenken. Aber Clara ließ nicht locker. Und er hatte ja auch selbst Schuld. Was ließ er sie auch zu Wort kommen! Den Rest der Stunde nutzte Clara für ihre grüne Propaganda. Seitdem vermeidet Linne den Kontakt mit Clara. Ich hingegen bin viel zu gutmütig und hilfsbereit, und deshalb ruft er mich immer wieder auf.

Doch je weiter Linne nun zum Herzen des Internets vordringt, desto zerstreuter wird er. Und eines der ersten Dinge, die er vergessen hat, sind seine Schüler. Er lässt mich wieder in Ruhe. Unser Verhältnis ist eigentlich schon wieder recht normal.

Flug der Falken

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