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Wir waren zu langsam. Gerade als wir uns zu den neuen Updates vorgeklickt hatten, schlug es zum Ende der Stunde. Linne schloss sein New Yorker Telefonbuch, ohne zu wissen, wie viele Horowitze es gibt, und entließ uns in den brütenden Tag. Hinter Lasse rutsche ich das Treppengeländer zum Fahrradkeller hinunter. Während wir unsere Räder aufschließen, verabreden wir uns wie üblich zum Computerspielen. Seitdem Lasse so einen richtigen Gaming-Computer hat, fahre ich jeden Abend zu ihm ins Neubaugebiet, und Friedrich und der Sultan schlagen sich durch die Kohorten der Kobolde. Das geht jetzt schon zwei Wochen so, genauso lange, wie diese Hitze alles um uns herum in eine afrikanische Wüste verwandelt. Genau aus diesem Grund müssen wir uns auch immer abends treffen. Lasses Zimmer ist ein Dachzimmer, das außerdem noch nach Süden rausgeht, und erst wenn die Sonne sich hinter dem Nachbarhaus verkrümelt hat, ist es von einer halbwegs erträglichen Temperatur.

Vor dem Fahrradkeller versucht die Sonne, den Asphalt zu verbrutzeln. Ich blinzle in das grelle Licht.

»Horus ist gut drauf«, sagt Lasse und nickt gen Himmel.

»Aber nur noch wenige Stunden. Wenn es Nacht wird, wird es verdammt ernst«, gebe ich zurück. Lasse grinst.

»Allerdings sind die Nächte ein wenig kurz«, füge ich hinzu. Und tatsächlich sind wir seit zwei Wochen nie über die vierte Stufe des Kampfes mit Seth hinausgelangt. Dann war die Zeit auch schon um, und ich musste nach Hause. Wir haben aber einen Plan ausgeheckt. In den Pfingstferien wollen wir das Spiel bis zum bitteren Ende durchziehen.

Dieses Jahr wurden die drei beweglichen Ferientage direkt vor Pfingsten gelegt. Sie reichen fast an meinen Geburtstag ran. Nur zwei Tage Schule liegen dazwischen. In den Pfingstferien haben wir also jede Menge Zeit, Seth endgültig das Licht auszuknipsen bzw. anzustecken, um genau zu sein.

Wir schwingen uns auf die Räder. Seitdem wir mit dem Spiel begonnen haben, stelle ich mir manchmal vor, mein Fahrrad ist ein Pferd. Ich streiche mit der flachen Hand den Lenker entlang, als würde ich einem Schlachtross den Hals tätscheln.

»Morgen …«, sagt Lasse verschwörerisch.

Ich blicke fragend von meinem Pferd auf.

»Was ist morgen?«

»Da habe ich sturmfreie Bude. Mein Vater ist dann auf einem Seminar, und meine Mutter begleitet ihn.«

Mir ist sofort klar, was Lasse damit sagen will. Eine Nacht ohne Eltern – das könnte früher als erwartet zum entscheidenden Schlag gegen Seth führen.

»Cool, Mann. Das ist ja besser als Pfingsten!« Ich schlage in seine ausgestreckte Hand ein.

»Dann schaffe ich es vielleicht noch im alten Lebensjahr, Seth zu erledigen«, sage ich.

Es bricht eine gute Zeit an: Computersession, Wochenende, und Montag habe ich Geburtstag.

»Glaubst du, deine Eltern lassen dich bei mir übernachten?«, will Lasse wissen.

»Klar, logo«, sage ich. Aber eigentlich bin ich mir sicher, dass meine Eltern nicht damit einverstanden sind, dass ich bei Lasse schlafe, wenn wir dort alleine sind.

Bei der Eisdiele an der Kreuzung warte ich noch, bis die Ampel für Lasse grün wird. Gerade will ich ihn fragen, ob es nicht schlauer ist, sich eine andere Geschichte für unsere Eltern auszudenken, da sehe ich, wie Lasses Gesicht in Panik erstarrt. »Scheiße!«, presst er zwischen seinen Lippen hindurch.

»Was denn?«, frage ich.

»Luisa!«, zischt er. Luisa ist ein Mädchen aus unserer Klasse. Eine, um die man sich keine Gedanken machen muss. Über Clara kann man sich immerhin freuen oder ärgern. Aber Luisa ist irgendwie noch nicht einmal dazu gut.

»Na und?«, gebe ich achselzuckend zurück.

»Na und? Mann, die ist doch in das Haus neben uns gezogen. Ich musste heute Morgen noch drei Scheiben Toastbrot mehr essen, damit ich nicht mit ihr zur Schule fahren muss. Was meinst du, wie lange die vor unserem Haus rumgetrödelt hat, um mich abzufangen.« Lasse ist rot im Gesicht geworden. Dass Luisa jetzt neben ihm wohnt, habe ich gar nicht gewusst. Ich überlege, ob ich ihn zum Abschied noch vergackeiern soll, etwa: »Ist doch praktisch, dann musst du sie später nicht nach Hause bringen«, aber da prescht Lasse auf einmal los. Mitten bei Rot über die Ampel. Ein BMW hält mit quietschenden Reifen. Eine Frau, die aus der Eisdiele kommt, schüttelt den Kopf. Aber Lasse hat es überlebt. Er grüßt mit der Hand zum Abschied, und dann gebe auch ich meinem Pferd die Sporen und rase durch die flirrende Luft.

Ich überlege, ob ich meinen Eltern gar nicht sagen soll, dass Lasses Eltern nicht da sind. Das würde einiges erleichtern. Ich keuche, weil ich so schnell fahre. Dennoch ist die Luft um mich herum wärmer als die, die ich ausatme. Ich stelle mir vor, mit meinem Pferd entlang der Pyramiden zu reiten. Ich bin Friedrich II., der nicht nur in unserem Computerspiel in Ägypten ist, sondern ja auch tatsächlich da war. Er hat einen Kreuzzug gemacht, bei dem hat er sich mit dem Sultan angefreundet, den er eigentlich bekriegen sollte. Es gibt sogar die Legende, dass Friedrich Jahre später seinen Tod nur vorgespielt hat, um sich wieder nach Ägypten abzusetzen. Das wäre ziemlich clever von ihm gewesen, denn das Leben in Deutschland war für Kaiser damals ein tierisches Generve. Es gab seit zweihundert Jahren Kriege um Jerusalem, die alle nichts gebracht hatten, außer Unmengen von toten Rittern und Muslimen. Friedrich aber hat sich mit dem Sultan von Ägypten zusammengesetzt und gesagt: »Hör zu, Mann, das mit dem Krieg ist doch völlig bescheuert. Wie wär’s, wenn wir euch nicht mehr angreifen, und ihr lasst uns in Ruhe nach Jerusalem, um dort zu beten.« Und genauso wurde es gemacht. Friedrich wurde sogar zum König von Jerusalem gekrönt. Der Papst, der die Kreuzzüge angeleiert hatte, war natürlich total sauer, dass nun alles vorbei war – und hat dauernd versucht, Friedrich Scherereien zu machen. Der hat dann auch schnell die Schnauze voll gehabt und ist immer länger in Jerusalem geblieben und mit dem Sultan durch Ägypten gereist. Die beiden wurden echte Freunde, und der Sultan hat ihm schließlich einen seiner wertvollsten Falken geschenkt. Über den hat Friedrich dann ein Buch geschrieben. Es war schon ein Unding, dass ein Kaiser sich gut mit den Feinden des Christentums versteht, aber ein Ritter, der ein Buch schreiben konnte, brachte das Fass erst recht zum Überlaufen. Und Friedrich war echt sauer auf all die Spießer und Besserwisser. Irgendwann ist er dann einfach gestorben, vielleicht aber auch abgetaucht. Denn die Leiche wurde angeblich nie gefunden. Und auch sein Falke war verschwunden. Aber wo sollte er schon hin sein, wenn nicht nach Ägypten zu seinem Sultan-Kumpel. Aber das konnten die Deutschen natürlich nicht zugeben. Deshalb haben sie sich vorgestellt, dass Friedrich in einem Berg, dem Kyffhäuser, lebt und eines Tages wieder zurückkehrt, um sein Kaiserreich zu neuem Glanz zu führen. Raben sollen anzeigen, wenn es so weit ist. Bis heute hat er sich aber noch nicht blicken lassen. Dabei, schätze ich, gibt es dort Raben ohne Ende.

Flug der Falken

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