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d. Der Wald: Spirituelle Lehrer

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Der „Wald“ repräsentiert die unkultivierten, unzivilisierten Gebiete, die im alten Indien offensichtlich wesentlich ausgedehnter waren als heute. Wenn man sich nun im Wald aufhält, beginnt man, sich jenen Erfahrungsbereichen zu stellen, die zuvor von kultivierten Konventionen und Annahmen verdrängt wurden. Der Wald wird oft mit Angst assoziiert – vor wilden Tieren, Verhungern, Orientierungslosigkeit. Daher ist er auch der beste Ort, um seinen Ängsten zu begegnen sowie zu beginnen, diese zu integrieren{12}. Diejenigen, die „fortgehen“ in die „Hauslosigkeit“, sollten die Möglichkeit schaffen, die üblichen Annahmen der menschlichen Gesellschaft hinter sich zu lassen. Zusammen mit diesen schwinden Sicherheit und Schutz der von der Gesellschaft geschaffenen Umwelt, auch wenn sie de facto nahe genug bei menschlichen Behausungen bleiben müssen, um Nahrung zu erhalten.

Es gibt heutzutage vielfältige Möglichkeiten, wie Menschen in den „Wald“ „fortgehen“, um gleichermaßen Befreiung von sozialen Vorgaben zu erlangen und dadurch ihr Bewusstsein über die Grenzen ihres sozialen Kontexts hinaus zu erweitern. So gibt es Wildnis-Erfahrungen und -Entdeckungsreisen, individuelle und gemeinschaftliche Retreats, Wanderungen und Pilgerreisen – ob lang oder kurz, „religiös“ oder „säkular“. Religiöse Gebäude wie Kirchen, Moscheen und Tempel erinnern in ihrer Konstruktion und Raumnutzung oft an den Wald. Sie bieten Inseln der Besinnung inmitten der obsessiven Atmosphäre moderner Städte. In gewisser Weise können Museen, Kunstgalerien, Gärten und Parks die gleichen Möglichkeiten bieten. Sogar Zuhause kann ein Meditations- oder Gebetsraum, ein Arbeits- oder Schlafzimmer einen Raum schaffen, in dem der Druck sozialer Erwartung und Glaubensvorstellungen vorrübergehend aufgehoben werden kann. Wir können in größerem oder kleinerem Rahmen fortgehen, anfangs vielleicht zur Entspannung. Durch Entspannung wird jedoch die Vorstellungskraft wiederhergestellt und wieder geöffnet und es können alternative Sinngehalte entstehen, so dass wiederum alternative Überzeugungen möglich werden.

Siddhartha Gautama ging jedoch sehr entschlossen und idealistisch in den Wald fort. Anstatt sich vorübergehend dorthin zu begeben, um eine andere Perspektive auf sein übliches Leben zu gewinnen, gab er dieses frühere Leben vollständig auf:


… Obwohl meine Mutter und mein Vater es sich anders wünschten und heftig weinten, rasierte ich mir Haare und Bart ab, zog die gelbe Robe an und ging fort aus dem häuslichen Leben in die Hauslosigkeit.{13}


Dabei übernahm er eine Reihe kultureller Konventionen, die damals im alten Indien üblich waren: die der Shramanas. Die Shramanas eröffneten der übrigen Gesellschaft einen wertvollen Zugang zur sonst unterdrückten alternativen Perspektive jenseits der Normen, Konventionen und Verantwortlichkeiten des Haushaltslebens. Innerhalb der indischen Kultur stand (und steht) diese umfassende Sicht religiösen Lebens in einem Spannungsfeld zum brahmanischen Modell. Ein Brahmane ist ein Priester, der aus einer gesellschaftlichen Führungsposition heraus rituelle Dienste leistet. Das brahmanische Modell muss sich auf dogmatische Gewissheiten über eine natürliche Ordnung berufen, wobei passende hinduistische Rituale durchgeführt werden. Der Shramana ist hingegen in der Position, all diese Gewissheiten in Frage zu stellen. Zur Zeit Buddhas gab es offensichtlich eine große Vielfalt an Shramana-Schulen, die sehr unterschiedliche Theorien über religiöses Leben boten{14}. Dennoch ist es der Kontrast zwischen dem Lebensstil des Shramanas und des Haushälters an sich, der eine starke Dichotomie geschaffen hat. Diese Dichotomie zeigte sich sowohl im Umfeld des Buddha als auch im Modell religiösen Lebens, dass sich im frühen Buddhismus etablierte{15}. Indem Siddhartha in den Wald fortgeht, überwindet er die gewaltige Kluft zu einem alternativen und sehr viel offeneren religiösen Lebensstil.

In diesem offenen Lebensstil, der nur durch eine individuelle Suche bestimmt war, stand es jedem Shramana frei, allein zu meditieren und zu reflektieren oder sich Gruppen anderer Shramanas anzuschließen. Unerfahrene Shramanas fühlten sich jedoch offensichtlich davon angezogen, die relative Sicherheit eines spirituellen Lehrers zu suchen. Ein Lehrer konnte dem frischgebackenen Aussteiger helfen, sich erfolgreich mit diesen neuen Bedingungen auseinanderzusetzen. Der Unterrichtsrahmen (und die Solidarität mit anderen Schülern) konnte aber auch im Kleinen die gleichen Bedingungen schaffen, die sie gerade in der Mehrheitsgesellschaft aufgegeben hatten, die in allen vergleichbaren menschlichen Lebenswelten anzutreffen sind: feste Führungs- und Gesellschaftsrollen, Annahmen und Konventionen, die von der Gruppe geteilt werden, und Fragen der Abgrenzung, wer in die Gruppe aufgenommen werden sollte. Diejenigen, die ihren ursprünglichen sozialen Kontext auf so entschiedene Weise verlassen, sind anfällig für neue Formen der Ausbeutung durch etwas, was wir heute „religiöse Sekte“ nennen würden. Das liegt daran, dass sie noch keine hinreichend verwurzelten alternativen Wege gefunden haben, um ihre menschlichen Bedürfnisse nach sozialer Unterstützung zu befriedigen.

Dies ist der Handlungsrahmen, in dem wir die nächste Phase von Siddharthas Geschichte interpretieren müssen. Hier gibt es aufeinanderfolgende Begegnungen mit zwei spirituellen Lehrern, die (in den Pali-Fassungen) Alara Kalama und Udaka Ramaputta heißen. In der Darstellung des Pali-Kanons{16} werden die beiden Begegnungen in exakt den gleichen Worten beschrieben, der einzige Unterschied ist die von den Lehrern vertretene „Basis“: „Nicht-Sein“ bei Alara Kalama und „weder Wahrnehmung noch Nicht-Wahrnehmung“ bei Udaka Ramaputta. In beiden Fällen kommt Siddhartha zum betreffenden Lehrer auf der Suche nach Unterweisung darüber, wie man „das heilige Leben in diesem Dhamma und dieser Disziplin“ führt. Er lernt schnell über die jeweils vermittelten Lehren „aus dem Wissen und der Gewissheit heraus zu sprechen“. Dann erkennt er, dass die Lehrer mehr als das erreicht haben, sie haben „direktes Wissen“ der „Basis“, die sie lehren. Siddhartha erlernt dann auch dieses „direkte Wissen“ auf gleichhohem Niveau wie seine Lehrer. In beiden Fällen erkennt der Lehrer dies an und ehrt daraufhin Siddhartha, indem er anbietet, die Führung seiner Gemeinschaft mit ihm zu teilen. Jedes Mal ist Siddhartha aber mit dem Ergebnis unzufrieden und geht auf der Suche nach weiterführender Weisheit fort.

Die „Basis“, auf die sich jeder Lehrer beruft, muss in Beziehung zum Schema der vier „immateriellen Zustände“ oder „höheren Jhanas“ (oder Dhyanas, Stufen meditativer Vertiefung) verstanden werden, die in der buddhistischen Lehre zu finden sind. Die vier niederen Jhanas bestehen aus Vertiefungsstufen, die durch ausdauernde Meditation unter guten Bedingungen erreicht werden können. Sie weisen bestimmte, definierbare Merkmale auf (Einspitzigkeit, anfängliches und fortgesetztes Denken, Verzückung, Glückseligkeit und Gleichmut), die zunehmend präsent sind. Die höheren Jhanas werden dann in der frühen buddhistischen Literatur als höhere und subtilere Errungenschaften dargestellt. Sie können von Mönchen erreicht werden, die auch über das vierte Jhana hinaus, weiterhin Fertigkeiten und Anstrengungen auf die Meditation verwenden. Diese höheren Jhanas werden als „die Basis, die aus grenzenlosem Raum besteht“, „die Basis, die aus grenzenlosem Bewusstsein besteht“, „die Basis, die aus dem Nicht-Sein besteht“ und „die Basis, die aus weder Wahrnehmung noch Nicht-Wahrnehmung“{17} besteht, beschrieben. Nichtsdestotrotz werden diese höheren Jhanas als nicht zum Ziel letztendlichen Erwachens führend wahrgenommen. Ihre traditionelle Bedeutung in der Geschichte von Siddharthas Begegnungen mit seinen Lehrern besteht darin, zu zeigen, dass sie Siddhartha zu äußerst subtilen Ebenen meditativer Verwirklichung führen, aber nicht darüber hinaus. Traditionell war also die Erklärung für Siddharthas Weiterziehen, dass seine Lehrer nicht weit genug gegangen waren und nicht in der Lage waren, ihm den vollständigen Pfad zu letztendlichem Erwachen zu lehren.

Solche Darstellungen des Pfades beginnen jedoch mit Annahmen über die letztendliche Verwirklichung des Erwachens und leiten daraus umgekehrt ein Verständnis des Pfads ab. Dabei besteht die Gefahr, die Universalität des Mittleren Wegs zu untergraben. Sie verwandeln ihn bestenfalls in eine technische Beschreibung der Errungenschaften, die im begrenzten kulturellen Rahmen buddhistischen Klosterlebens anzustreben sind. Schlimmstenfalls verwandeln sie ihn in ein Dogma, das den Mittleren Weg an sich untergräbt. Ich möchte behaupten, dass aus den Begebenheiten mit Alara Kalama und Udaka Ramaputta eine ganz andere und viel universellere Bedeutung abgeleitet werden kann, und nicht nur, dass Siddhartha sie bloß übertroffen hat, weil sie noch nicht erleuchtet waren. Beim Mittleren Weg geht es nicht darum, was erreicht wird, sondern vielmehr darum, wie wir es beurteilen. Die Art und Weise, wie wir über die Schlussfolgerungen urteilen, die wir aus meditativer Erfahrung ziehen können, ist hier weitaus bedeutsamer als die Frage, welche Kategorie von meditativer Erfahrung sie angehören.

Alara Kalama und Udaka Ramaputta hatten beide tiefgreifende Erfahrungen, die, wie man annehmen muss, ihr Leben positiv verändert und sie vielleicht in die Lage versetzt haben, neue Ebenen der Weisheit und des Mitgefühls zu entwickeln. Nichtsdestotrotz besteht das Scheitern beim Urteil in jedem Fall darin, dass sie zu dem Schluss kamen, dass diese Erfahrungen schon alles waren. Jede Erfahrung eines endlichen Wesens ist zwangsläufig sowohl hinsichtlich der Informationen, die sie liefert, als auch hinsichtlich des Ausmaßes, in dem sie psychische Zustände angemessen und verlässlich macht, begrenzt. Diese Erfahrungen, so tiefgründig sie auch sein mögen, können keine Ausnahme sein. Die buddhistische Tradition neigt zur Schlussfolgerung, die Unterweisungen dieser beiden Lehrer seien nur deshalb unzureichend gewesen, weil sie das wahre und letztendliche Ziel noch nicht erreicht hatten. Eine fundiertere und universellere Schlussfolgerung wäre jedoch, dass sie nur deshalb unzureichend waren, weil sie glaubten, das wahre und letztendliche Ziel schon erreicht zu haben.

Zweifellos muss derselbe Einwand auch gegenüber Siddhartha vorgebracht werden, so nützlich, positiv und ehrfurchtgebietend seine Erfahrungen auch sein mögen. Da er menschlich und begrenzt ist, müssen alle Erfahrungen, die er macht, denselben Kriterien unterworfen werden, die Siddhartha auf Alara Kalama und Udaka Ramaputta angewandt haben soll. Wir müssen die Schlussfolgerung ziehen, dass sie nicht perfekt, absolut oder endgültig sind. Damit schmälern wir weder ihn noch seine Verdienste in irgendeiner Weise, sondern erkennen einfach an, dass es sich um große menschliche Errungenschaften handelt. Um dem Mittleren Weg zu folgen, müssen wir dem Beispiel Siddharthas folgen, statt ihn zu idealisieren.

Als Siddhartha die einzelnen Lehrer verlässt, sagt er:


Dieser Dhamma führt nicht zu Ernüchterung, zu Leidenschaftslosigkeit, zu Aufhören, zu Frieden, zu direktem Wissen, zu Erleuchtung, zu Nibbana, sondern nur zu Wiedererscheinen auf der Basis von Nicht-Sein [oder Weder-Wahrnehmung-Noch-Nichtwahrnehmung]. Weil ich mit jenem Dhamma nicht zufrieden war, ließ ich ihn zurück und ging fort.{18}


Dies wirft eine zentrale konzeptionelle Frage auf, die für das Verständnis des Mittleren Wegs wichtig ist. Stellen wir eine negative Behauptung auf, herrscht eine grundlegende Ambivalenz. Diese Behauptung kann entweder als Bekräftigung eines negativen Gegenteils verstanden werden oder einfach so, dass etwas Positives nicht bejaht wird. Zum Beispiel kann „ich glaube nicht, dass Hunde immer Fleisch essen“ entweder bedeuten, dass ich glaube, dass Hunde nicht immer Fleisch essen, oder, dass ich nicht genug Informationen zu diesem Thema habe, um definitiv daraus schließen zu können, dass sie es tun. Im obigen, dem Buddha zugeschriebenen Zitat kann sein Glaube, dass die Lehre (Dhamma oder Dharma) von Alara Kalama und Udaka Ramaputta nicht zu Ernüchterung, etc. führt, einerseits dahingehend interpretiert werden, dass es einen Dhamma gibt, der zu Ernüchterung, etc. führt, diese aber nicht. Andererseits kann es so gelesen werden, dass er einfach nicht abschließend erkennen kann, dass dieser Dhamma nicht zu Ernüchterung, etc. führt, wobei er unsicher bleibt, ob es eine Alternative gibt, die zu Ernüchterung, etc. führt.

Siddhartha ist auf einer Suche. Er hat ein Ziel vor Augen, das für ihn von Bedeutung ist. Das setzt aber nicht voraus, dass die Erfüllung seines Strebens darin besteht, dieses Ziel zu erreichen, wie er es sich ursprünglich vorgestellt hat. Es bedeutet auch nicht notwendigerweise, dass ein Scheitern darin, Erleuchtung zu erreichen, ein vollständiges Scheitern in diesem Streben wäre. Gerade in den Erfahrungen mit Alara Kalama und Udaka Ramaputta muss er die Natur dieses Strebens erneut überdenken. Sollte er sich ausgemalt haben, es würde ihn im Wald zu einer vollständigen Antwort führen, die im Palast nicht verfügbar war, wäre er nicht nur einmal, sondern zweimal enttäuscht worden. Dies bedeutet aber nicht, dass er auf seiner Suche nicht weiter vorangekommen ist. Es bedeutet vielmehr, dass er beginnt, sich vom Streben nach absoluten Antworten abzuwenden, und stattdessen versucht, Verblendungen zu überwinden, die er durch Erfahrung erkennen kann. Wie mir hier scheint, beginnt sich die Bedeutung dieses Strebens bereits in eine zu verwandeln, die durch den Mittleren Weg bestimmt wird, statt durch das Positiv-Absolute, das durch die Idee des Erwachens repräsentiert wird.

Siddharthas Enttäuschung über religiöse Lehrer spiegelt sich in der Erfahrung jedes anderen Menschen wider, der jemals eine Autoritätsperson idealisiert hat und desillusioniert wurde. Die meisten von uns wählen Stellvertreter, um sich von der Autorität der Eltern zu lösen, aber auch diese werden dann als unzulänglich empfunden. Das kann der Fall sein, wenn wir die Begrenztheit eines Lehrers oder Hochschulprofessors erkennen, den wir in unserer Jugend gekannt oder idealisiert haben. Es kann passieren, sexuellem Missbrauch durch einen Guru zum Opfer zu fallen. Möglicherweise führt die kritische Perspektive, die Geschichtswissenschaft und Philosophie in Bezug auf fundamentalistische Überzeugungen über Jesus oder den Buddha bieten dazu, dass sie nicht mehr als die absolut makellosen Persönlichkeiten erscheinen, als die wir sie idealisiert hatten.

Dennoch bleibt der Archetyp bestehen. Wir müssen nicht aufhören, Erwachen bedeutungsvoll zu finden, oder uns von ihm inspirieren zu lassen oder in die Richtung zu streben, die es repräsentiert, nur weil wir erkennen, dass es uns an Begründungen für den Glauben an dessen Verwirklichung mangelt. Idealisierungen fallen, aber sie müssen keine Ideale mitreißen. In vielerlei Hinsicht werden Ideale stärker, wenn sie nicht mehr projiziert werden, wenn sie aufhören, Perfektion in Personen oder Dingen anzunehmen, die nicht perfekt sind. Dann sind wir besser in der Lage, ihre verworrenen und unvollkommenen Teile zu erkennen, die wir eher durch Erfahrung finden.

Buddhas Mittlerer Weg

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