Читать книгу Buddhas Mittlerer Weg - Robert M. Ellis - Страница 9

c. Die Vier Zeichen und sein Fortgehen

Оглавление

Solange wir uns sicher fühlen, gibt es nur wenig Beweggründe, unsere Einstellungen zu ändern. Wir neigen dazu, die Welt im Sinne der willfährigen Weltanschauung zu interpretieren, die diese Sicherheit aufrechterhält. Es braucht schon etwas, das zumindest unbequem und herausfordernd, vielleicht sogar traumatisch ist, um diese Selbstgefälligkeit zu erschüttern und uns zu zwingen, unsere Annahmen zu überdenken. So war es auch bei Siddhartha Gautama. Sein Leben im Palast war solide und sicher, solange es nicht durch von außen einwirkende Bedingungen in Frage gestellt wurde. Aber es wurde in Frage gestellt – in Form der sog. „Drei Erkenntnisse“ oder „Vier Zeichen“.

Die „Drei Erkenntnisse“ werden im Pali-Kanon als Teil der Erzählung über Siddhartha dargelegt. Die „Vier Zeichen“ hingegen finden sich nur als Teil der Erzählung über Vipassi, den früheren Buddha eines vergangenen Zeitalters. Die „Drei Erkenntnisse“ bestehen nur in neuen Gedanken, die Siddhartha in Form einer Einsicht kommen, dass seine Standpunkte zu Altern, Krankheit und Tod unangemessen sind. Es gibt einige wichtige Gegebenheiten, die sein Leben im Palast ausblendet, und ihm eröffnen sich, möglicherweise im Eiltempo, unterdrückte Erkenntnisse.


Inmitten solcher Pracht und eines völlig unbeschwerten Lebens, ihr Mönche, kam mir dieser Gedanke: „Ein unkundiger Weltling, obwohl selbst dem Alter unterworfen, ohne dem Alter entrinnen zu können, fühlt sich abgestoßen, beschämt oder angewidert, wenn er einen alten oder gebrechlichen Menschen sieht, lässt seine eigene Situation dabei außer Acht. Doch auch ich bin dem Altern unterworfen, kann dem Altern nicht entgehen. Wenn ich beim Anblick eines alten und gebrechlichen Menschen abgestoßen, beschämt oder angewidert wäre, wäre dies nicht angemessen für jemanden wie mich.“ Als ich so dachte, Mönche, schwand all mein Stolz auf meine Jugendlichkeit.{7}


Genau das gleiche wird dann über die Einstellungen zu Krankheit (beseitigt Siddharthas „Stolz auf seine Gesundheit“) und Tod (beseitigt seinen „Stolz auf sein Leben“) gesagt. Besonders interessant an dieser Fassung ist, dass sie sich nur auf die Erkenntnis Siddharthas konzentriert, dass er sich nur wegen begrenzter Bewusstheit vom Alter abgestoßen, beschämt und angewidert fühlt. Er hat Jugendlichkeit, neben Gesundheit, Alter und Leben als gegeben angenommen und seine gegenwärtige Annahme, diese seien dauerhaft, verabsolutiert.

Die „Vier Zeichen“ ist eine alternative Fassung derselben Erkenntnisse. Sie inszeniert die „Drei Erkenntnisse“ so, wie sie Menschen in der Welt jenseits des Palastes erleben. Sie fügt auch eine vierte Person hinzu – einen Shramana oder Hauslosen, religiös Suchenden, der ein neues Modell alternativer Denk- und Lebensweise bietet. Diese Fassung der Geschichte wird im Pali-Kanon über den früheren Buddha Vipassi erzählt{8}. Hier wird die Begegnung des Protagonisten mit Alter, Krankheit und Tod zu einer neuen Erkenntnis, indem sie auf diese Weise nach außen hin in Szene gesetzt wird. Er wird als auf naive Weise damit nicht vertraut dargestellt. Er macht seinen ersten Ausflug mit dem Wagen aus einem Palastmilieu heraus, wo er in völliger Unkenntnis darüber gehalten wurde, dass so etwas wie Altern, Krankheit und Tod überhaupt vorkommt.

Diese Geschichte wird bei Ashvaghosha noch weiter ausgearbeitet. Hier veranlassen die Götter das Erscheinen eines alten Mannes, eines kranken Mannes und eines Leichnams, Siddhartha begegnet ihnen nicht wirklich{9}. In Ashvaghoshas Fassung ist alles eine theatralische Inszenierung oder bloße Scheinwelt, um Siddharthas Gedanken zu manipulieren. Während Siddharthas Eltern alles versuchen, um die gefällige Sicherheit im Palast nicht zu erschüttern, arrangieren die Götter, die das Wohl der Welt anstreben, Gegendarstellungen, um ihn daraus aufzurütteln. Seine Eltern sind entschlossen, Siddhartha wegen einer bei seiner Geburt gemachten Prophezeiung abzuschirmen. Diese Prophezeiung besagte, er würde entweder ein großer König werden oder, wenn er das königliche Leben verließe, stattdessen eine große, erleuchtete Persönlichkeit. Ihr Motiv ist offensichtlich, ihn zu einem großen König zu machen, und auf diese Weise die unkonventionelle und störende Gefahr zu bannen, dass ihr Sohn sich auf eine persönliche spirituelle Suche begibt.

Sehr leicht wird man durch diese Ausgestaltung der Geschichte dazu verleitet, Siddharthas Einsichten hier als Teil einer scheinbar vorbestimmten Entwicklung für die ganze Welt zu betrachten. Aber das große Kino betont lediglich die Bedeutung von Siddharthas Einsichten. Man könnte leicht annehmen, dass sie wichtig sind, weil sie die Grundlage einzigartiger Offenbarungsansprüche in der buddhistischen Tradition bilden. Wenn wir uns jedoch auf die eigentlichen Einsichten konzentrieren, gewinnen sie weit mehr Einfachheit und Universalität. Sie sind wegen dieser Universalität wichtig. Wenn wir anfangen, sie nur in Hinblick auf die Behauptungen einer Tradition zu betrachten, verlieren sie sogar an Bedeutung. Sie werden dann bloß zu entfernten historischen Ereignissen von anthropologischem Interesse innerhalb spezifischer Kulturen.

Die buddhistische Tradition neigt zudem dazu, Siddhartha hier als die Wahrheit des „Leidens“ (Dukkha) erkennend darzustellen, verkörpert durch Vergänglichkeit (Annica). Alter, Krankheit und Tod sind letztlich Veränderungen, die Leiden verursachen, und sie zu verleugnen könnte dazu führen, die Tatsache des Wandels zu ignorieren. Wäre dies tatsächlich alles, hätte die Geschichte immer noch eine universelle Bedeutung. Wahrscheinlich haben wir alle schon einmal den Rausch der Jugend, Gesundheit oder des Lebens empfunden, über den Siddharthas „Erkenntnisse“ ihn hinausführen. Das Versäumnis, das Leid des Wandels zu erkennen, ist jedoch nur eine mögliche Form des umfassenderen Täuschungsmusters, über das Siddhartha hier hinausgeht. Wäre das nicht der Fall, wäre seine Geschichte nicht relevant für diejenigen, die sich konsequent mit Alter, Krankheit und Tod auseinandergesetzt haben, statt ihre Auswirkungen auf uns zu verdrängen. Siddhartha erkennt nicht nur das „Leiden“ – die Bedeutung seiner Erkenntnis hat einen breiteren Geltungsbereich als das. Es ist vielmehr ein Erkennen der Begrenztheit von Verabsolutierung und der Notwendigkeit, eine kritische Haltung einzunehmen, die darüber hinausgeht, unabhängig von der Annahme, die wir verabsolutiert haben. Wir könnten durchaus denken, dass Jugend, Gesundheit oder Leben alles sei. Wir könnten auch denken, dass unsere Nation oder unser geliebter Partner oder katholisches Dogma oder der Sturz des Kapitalismus oder sogar Buddhismus alles sei. Jedes Mal können wir ein böses Erwachen erleben, in dem die Begrenztheit dessen, was wir für das Ganze hielten, plötzlich offenbar wird. Nur wenn wir Siddharthas Drei Erkenntnisse so interpretieren, erhalten wir ein Bild von universeller Relevanz und vollständiger Flexibilität.

Das vierte Zeichen fügt auch ein Element hinzu, das in den Drei Erkenntnissen nicht vorhanden ist – eine Alternative. Nur wenn wir eine Alternative zu den begrenzten zuvor erwogenen Optionen haben, können wir darüber hinausgehen. Wenn wir uns vorstellen, Siddhartha nähme nur die Begrenztheit seiner Annahmen über Jugend, Gesundheit und Leben wahr, ohne eine Alternative Sichtweise zu haben, könnte das Ergebnis lediglich ein Gefühl sein, in der Falle zu sitzen. Negative Gefühle gegenüber unseren Annahmen zu haben, ohne einen Ausweg daraus, könnte quälend sein. In genau diesem Zustand sind wir oft gefangen, wenn wir mit einer Sichtweise unzufrieden sind, die unseren Bedürfnissen nicht mehr gerecht wird. Unsere Erfahrung oder Vorstellungskraft kann dann zu begrenzt sein, um uns über die bloße Verneinung dieser Sichtweise hinauszuführen. Denken Sie an einen religiösen Gläubigen, dessen ganzes Leben auf absoluten Überzeugungen gründete, der dann aber „seinen Glauben verliert“, nicht mehr länger in der Lage ist, diese Überzeugungen aufrechtzuerhalten. Er könnte zu denken anfangen, Gott sei theoretisch unmöglich und absurd. Gleichzeitig aber kann er ohne Gott nur Nichtigkeit sehen – ein Leben ohne die einzige Art von Bedeutung, die er bisher erfahren konnte. Infolgedessen fühlt er sich vor die Wahl gestellt, entweder an einem Glauben festzuhalten, den er intellektuell betrachtet für bankrott hält, oder ihn für eine Welt der Sinnlosigkeit aufzugeben. Welch grausames Los! Aber eins, das nur durch unsere falsche Beschränkung auf zwei gegensätzliche Möglichkeiten (eine Sichtweise und ihre Verneinung) und das Unvermögen, die Möglichkeit der Existenz dritter Optionen auch nur in Betracht zu ziehen, verursacht ist.

Glücklicherweise hat der Buddha eine dritte Option zwischen einem Weiterleben in den allseitigen Zwängen der Palast-Sichtweise und der potenziellen Nichtigkeit, die jenseits des Palastes liegen könnte. Diese dritte Option wird durch die vierte Sichtweise offengelegt:


Als er in den Lustgarten gefahren wurde, sah Prinz Vipassi einen kahlköpfigen Mann, einen, der fortgegangen war, in einer gelben Robe. Und er sagte zum Wagenlenker: „Was ist mit diesem Mann los? Sein Kopf ist nicht wie der anderer Männer und seine Kleidung ist nicht wie die anderer Männer.“

„Prinz, man nennt ihn einen, der fortgegangen ist.“ „Warum nennt man ihn einen, der fortgegangen ist?“

„Prinz, mit einem, der fortgegangen ist, meinen wir einen, der wahrhaft dem Dhamma folgt, wahrhaft Gelassenheit lebt, gute Handlungen ausführt, verdienstvolle Taten vollbringt, harmlos ist und wahrhaft Mitgefühl für lebende Wesen hat.{10}


Es ist der bloße Unterschied zwischen dem Shramana und dem ihm zuvor Bekannten, der das Interesse des Prinzen weckt. Er sieht anders aus und sein andersartiges Aussehen deutet auf einen abweichenden Lebensstil mit abweichenden Annahmen hin. Im alten Indien dürfte dieser Unterschied weit mehr als nur eine andere Berufswahl gewesen sein, vielmehr ist es ein grundlegender Unterschied in Tradition und Kultur. Die Tradition, als hausloser Wanderer fortzugehen, wurde oft mit Urvölkern im alten Indien in Verbindung gebracht – denjenigen, die den dominanten Eindringlingen vorausgingen, von deren Nachkommen Siddhartha Gautama möglicherweise abstammt. Was auch immer die historische Erklärung für kulturelle Unterschiede zwischen Siddharthas Hintergrund und dem des Shramana sein mag, was zählt ist die erstaunliche Tiefe der kulturellen Kluft. Heute wäre möglicherweise die naheliegendste Analogie der Spross eines Mitglieds der sozioökonomischen Elite, der aus Oxford oder Harvard „aussteigt“ und sich einer Gemeinschaft schäbiger Landstreicher anschließt.

Neben der kulturellen Kluft gibt es jedoch auch eine Idealisierung der Shramanas. Was immer dieser Mann macht, er macht es „wahrhaft“. Er wird nicht als eine Person gesehen, die einen Entwicklungsprozess durchläuft, der darauf abzielt, besser und argloser zu sein, sondern einfach als eine absolute Verkörperung von Tugend und Mitgefühl. Die Idealisierung findet sich nicht nur in den Worten des Wagenlenkers, sondern auch in der Eilfertigkeit, mit der Siddhartha hierauf beschließt, denselben alternativen Lebensstil anzunehmen. Obwohl also der Shramana eine echte Alternative bietet, ist es eine idealisierte Alternative. Im Fortgang der Geschichte werden wir sehen, welche weiteren Beschränkungen durch diese Idealisierung entstehen und wie Siddhartha sie überwindet.

Während Siddhartha dieses alternative Leben wählt, indem er aus dem Palast in den Wald „fortgeht“, entwirft er bereits implizit die Vorstufen zur Auseinandersetzung mit dem Mittleren Weg. Er tut dies, obwohl der Mittlere Weg noch nicht explizit Teil seines Denkens ist. Denn der Mittlere Weg beginnt, wo auch immer wir anfangen, und er ist der hilfreichste Pfad, der vor uns liegt. Es mag unmöglich sein, direkt vom Erkennen der Begrenzungen einer Reihe von Annahmen zu einer ausgewogenen Position zu gelangen, in der wir auch die Begrenzungen des Gegenentwurfs sehen. Wir müssen uns von der ersten Palette absoluter Annahmen befreien, bevor wir die zweite mit gegensätzlichen überhaupt klar genug verstehen können. Um uns auf den Mittleren Weg einzulassen, müssen wir also vermutlich damit beginnen, vom anfänglichen Kontext mit all seinem Ballast absoluter Annahmen „fortzugehen“. Dabei ist es schwierig, die Alternative nicht zu idealisieren, weil alle Erwartungen auf ihr lasten.

In Ashvaghoshas erweiterter Fassung des „Fortgehens“ wird der Konflikt auf Grund absoluter Annahmen auf beiden Seiten durch einen zusätzlichen moralischen Konflikt betont. Es wird verdeutlicht, dass Siddhartha durch sein „Fortgehen“ seine Frau und seinen kleinen Sohn im Stich ließ sowie seine Eltern und zukünftige Pflichten. Siddharthas Wagenlenker, Chanda, erinnert ihn an diese sozialen Verantwortlichkeiten und versucht erfolglos, ihn davon abzuhalten, dem weltlichen Leben zu entsagen.{11} Dies bringt heutige Lesende, die sich voll und ganz mit Siddhartha als Helden identifizieren wollen, oft in moralische Konflikte, da er ein für viele heutige Lesende zentrales moralisches Tabu gebrochen hat. Die alten Inder mögen seine Familie zu verlassen, nachsichtiger beurteilt haben (vorausgesetzt, sie wurden von anderen Verwandten versorgt), vor allem, weil sie „Fortgehen“ demgegenüber idealisierten. Für heutige Lesende, die sich schwertun, den universellen, spirituellen Helden zu finden, den sie in solch einer präfeministischen Figur suchen – offensichtlich konsultiert er nicht einmal seine Frau, um ihre Unterstützung und Zustimmung zu erhalten, bevor er sie verlässt - dürfte dies jedoch ein schwacher Trost sein

Es gibt aber eine weitere Lesart des Fortgehens, die diesen Wunsch, Siddhartha zu idealisieren, loslässt. Bei dieser Lesart muss Siddhartha nicht perfekt sein und somit müssen wir seine Fehler nicht wegrationalisieren. Er findet Wege nach vorn, die unweigerlich verworren und unbefriedigend sind, und die Opfer vielerlei Art erfordern. Aber genau in der Verworrenheit dieses Prozesses liegt die Universalität des Mittleren Wegs. Siddhartha stellt in Frage, was er bisher für absolut hielt – die Werte des Palastes. Er hat sein ganzes Leben lang auf diese Werte gesetzt. Um sich von der absoluten Macht dieser Werte zu befreien, muss er das Extrem der Loslösung wählen. Vielleicht können wir uns andere mögliche Wege vorstellen, die er hätte einschlagen können, die kompromissorientierter gewesen wären. Wäre es so schwierig gewesen, vorerst im Palst zu bleiben, während er Alternativen kennenlernt und sogar seine Macht im Palast nutzt, um schrittweise seine Werte zu verändern? Aber wahrscheinlich hätte Siddhartha dies nicht praktisch umsetzen können. Stattdessen würde seine psychische Gewöhnung an die Werte des Palastes ihn weiterhin beherrschen. Nur durch seine Flucht und zunächst, indem er das Extrem gegensätzlicher Werte ausprobiert, kann er verhindern, in die alles verzehrende, absolute Umgebung, die ihn umgibt, hineingezogen zu werden. Um wegzukommen, muss er Opfer bringen, selbst solche, die sich auf andere auswirken, und es kann sich durchaus als Fehler erweisen oder als etwas, das man später bereut. Alles, was wir also tun können, ist zu versuchen, die Gesamtheit der Bedingungen zum Zeitpunkt unseres Urteils zu berücksichtigen. Wenn wir nur einer starren moralischen oder sonstigen Regel folgen, könnten wir wichtige Bedingungen außer Acht lassen.

Ein universeller Wert, den die Vier Zeichen vermitteln, ist Vorläufigkeit. Wenn unsere Urteile nur vorläufig sind, können wir eine kritische Sichtweise auf unsere gewohnheitsmäßigen Annahmen einnehmen (wie durch die Drei Erkenntnisse verdeutlicht). Entscheidend ist jedoch, dass wir auch neue Alternativen erkennen und in Betracht ziehen können (wie durch das Vierte Zeichen verdeutlicht).

Indem Siddhartha über einen verabsolutierenden Kontext hinausgeht, in dem er gezwungen wäre, in der alten Weise zu denken, schließt sein „Fortgehen“ auch den ersten Schritt anderer grundlegender Prinzipien ein, die ich (im weiteren Verlauf) als Aspekte des Mittleren Wegs erörtern werde. Dazu gehört Skepsis, mit der wir unseren fehlbaren, menschlichen Status anerkennen und so die Gewissheiten in Frage stellen, die wir nur übernommen haben, weil wir diese Fehlbarkeit in der Vergangenheit ignoriert haben. Dazu gehört auch die Integration, die eigentliche Konfliktbewältigung, indem wir über festgefahrene Positionen hinausgehen, entweder bei uns oder anderen. Fest verwurzelte Spaltungen zu beseitigen ist relativ einfach, wenn wir bereits zivilisierte Bedingungen für Dialog und Reflexion geschaffen haben. Es ist sehr viel schwieriger, wenn wir durch die Macht einer Gruppe gefangen sind, die enormen Druck auf uns ausübt, damit wir weiterhin in einer bestimmten absoluten Weise, in Übereinstimmung mit ihren Werten denken. Der erste Schritt zur Integration muss darin bestehen, uns von den Werten dieser Gruppe so weit zu trennen, dass ein breiteres Bewusstsein entstehen kann. In dieser Phase hat Siddhartha sowohl in Hinblick auf seine Skepsis als auch auf seine Integration noch Wegstrecke vor sich, aber er beginnt, sie implizit zu erkennen und anzuwenden.

Dieser erste Schritt ist wahrscheinlich der schwierigste und riskanteste des Mittleren Wegs. Er macht uns anfällig für Frustration, Ablehnung, Spott, moralische Ächtung oder fast jede Strafe, die uns die Gruppe auferlegen kann. Es ist zugleich der schwierigste Schritt, sich sicher oder gelassen zu fühlen, wenn wir ihn gehen, weil wir immer noch von absolutem Denken herumgeschubst werden. Wir haben vielleicht nur ein schwaches und vorläufiges Bewusstsein unserer umfassenderen Erfahrung.

Es gibt aber immer einige Mutige, die bereit sind, diese ersten Schritte zu gehen. Denken Sie an den Whistleblower, der Korruption in einer großen und mächtigen Organisation aufdeckt. Denken Sie an den Priester, der die Grundannahmen seiner Kirche zu überprüfen beginnt und riskiert, seinen Gläubigenstatus zu verlieren, den er sich während seines ganzen Lebens und seiner Karriere aufgebaut hat. Denken Sie an den Junioroffizier, der beschließt, Befehle zu missachten, auf die Gefahr hin, wegen Hochverrats hingerichtet zu werden. Diese Menschen sind sich weder bewusst, Helden zu sein, noch wissen sie, dass es gut ausgehen wird. Dennoch gehen sie Risiken ein – sie blicken über den eigenen Tellerrand hinaus und wagen es, anders zu denken. Auf diese Weise bleiben sie mit dem Kern moralischer Motivation verbunden, auch wenn sie Regeln missachten. „Fortgehen“ kann für all das stehen, wenn wir unseren Geist für diese Inhalte öffnen, und sie nicht nur für Handlungen des zur Erleuchtung vorbestimmten Buddhas halten. Man sollte das „Fortgehen“ lieber als Fehler betrachten, als es im Nachhinein zu rechtfertigen, denn seine Hauptbedeutung liegt in der Bereitschaft, Fehler zu machen.

Buddhas Mittlerer Weg

Подняться наверх