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b. Der Palast

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Siddhartha Gautama soll ein Prinz gewesen sein, der in einem Palast im Land der Shakya, nördlich des Ganges-Tals, wohlbehütet aufwuchs. Ashvaghosha berichtet ausführlich über den Luxus und Komfort dieser Umgebung. Der Pali-Kanon gibt zwar eine wesentlich kürzere Darstellung, die jedoch ausreicht, um uns einen tiefen Eindruck davon zu vermitteln:


Ich wurde fein erzogen, ihr Mönche; höchst fein, überaus fein war meine Erziehung. Im Haus meines Vaters wurden Lotosteiche angelegt: in einem blühten blaue Lotosblumen, in einem anderen weiße Lotosblumen und in einem dritten, rote Lotosblumen, nur zu meinem Vergnügen. Ich verwendete nur Sandelsalbe aus Benares und meine Kopfbedeckung, meine Jacke, mein Untergewand und meine Tunika waren aus Benares Musselin. Tag und Nacht wurde ein weißer Schirm über mich gehalten, damit mich Kälte und Hitze, Schmutz oder Tau nicht bekümmerten. Ich hatte drei Paläste: einen für den Sommer, einen für den Winter und einen für die Regenzeit. Während der vier Monate des Regens wurde ich im Palast für die Regenzeit von Musikerinnen unterhalten und ich verließ in diesen Monaten nicht den Palast. Während in den Häusern anderer Leute Diener und Sklaven eine Mahlzeit aus Bruchreis und saurem Haferbrei erhielten, wurde ihnen im Haus meines Vaters Reis und Fleisch nach Belieben angeboten.{5}


Die Lotosteiche und Paläste suggerieren überbordenden Reichtum, die Kleidung Luxus und Komfort, der Schirm Überbehütung, die Tatsache, dass er den Palast während der Regenzeit nicht verließ, Isolation. Es gibt ein Anklingen sexueller Schwelgerei bei den „Musikerinnen“, das bei Ashvaghosha{6} zu einem ganzen Kapitel sexueller Versuchung exzessiv ausgearbeitet wurde. Es gibt auch Großzügigkeit oder zumindest Freigiebigkeit bei der Behandlung der Dienerschaft im Vergleich zur gesellschaftlichen Norm der damaligen Zeit.

Auch wir sind Siddhartha Gautama. Wenn wir die volle Bedeutung einer Geschichte erfassen wollen, die aus einem zeitlich und räumlich entfernten Kontext stammt, müssen wir ihre Bedeutung in Bezug auf unsere eigene Erfahrung in jeder Phase untersuchen. Was ist in diesem Zusammenhang unser Palast?

Der augenscheinlichste Aspekt des Palastes ist Reichtum und Luxus, was Buddhisten über Jahrhunderte hinweg mit Maßlosigkeit in Verbindung gebracht haben. Wir könnten diese Maßlosigkeit mit dem konsumorientierten Lebensstil all derer vergleichen, die es in der heutigen Welt zumindest bequem oder es besser haben. Wir mögen keine drei Paläste haben, aber wir können uns zerstreuen, indem wir an verschiedene Orte in Urlaub fahren, an denen es neue Vergnügungen gibt. Wir mögen keine Bediensteten haben, aber Maschinen erledigen einen Großteil der Arbeit, die diese in der damaligen Zeit geleistet hätten. Wir mögen keine drei Lotosteiche haben, aber wir haben maßgeblichen Einfluss auf unsere häusliche Umgebung, können sie gestalten, wie wir es wünschen. Wir können diesen Einfluss auf unsere konkrete Umgebung auch zunehmend auf virtuelle Umgebungen ausdehnen, in denen es quasi unbegrenzte Möglichkeiten zur Wunscherfüllung gibt. Wir mögen keine „Musikerinnen“ haben, aber wir haben Musik, Dating-Apps, sinnliche Filme und sogar Pornografie zur Verfügung, wann immer wir wollen.

Gleichwohl ist es nicht die physische Umgebung des Palastes an sich, die dessen umfassende Bedeutung ausmacht. Vielmehr sind es die kulturellen Prägungen und gewohnheitsmäßigen psychischen Zustände, die sie begleiten. Diejenigen, die in einer armen Gesellschaft reich sind, müssen ihren Reichtum in besonderem Maße schützen. Da sich ihr Leben so sehr von anderen in ihrer Umgebung unterscheidet, entwickeln sie auch ideologische Mittel, um diese Werte zu verteidigen. Wie Marx herausstellte, werden die sozialen und wirtschaftlichen Interessen derer, die Reichtum und Ressourcen kontrollieren, oft durch die Kontrolle über Lehren aufrechterhalten, die dem Rest der Gesellschaft durch soziale Konditionierung von Kindesbeinen an eingebläut werden.

Es gibt zwei leicht unterschiedliche Vorgehensweisen, um solch eine herrschende Ideologie aufrechterhalten zu können. Eine Methode besteht darin, seine privilegierte Position mit einer universellen Quelle von absolutem Wert zu legitimieren – Gott hat sie verliehen, sie ist „natürlich“ oder „unumgänglich“. Eine andere besteht darin, seine Position als eine nur für sich und seine Gruppe in einzigartiger Weise gerechtfertigte darzustellen. Das bedeutet, unterschiedliche Werte anzuführen, die unterschiedliche Positionen für verschiedene Gruppen festlegen („es ist unsere gewohnte Praxis, derartige Dinge zu tun, auch wenn die Gewohnheiten anderer sich davon unterscheiden“). Diese beiden Ansätze sind nicht immer völlig voneinander zu trennen, weil natürlich unterschiedliche Werte als Teil eines größeren letztendlichen Werts beansprucht werden können. Wie dem auch sei, die Ideologie verhindert, das unangenehme Fragen, hinsichtlich möglicher Veränderung der Gesellschaftsordnung aufgeworfen werden.

In Siddhartha Gautamas Umfeld scheint es in der Gesellschaft bereits konkurrierende Werte gegeben zu haben. Wir wissen dies schlicht aufgrund der zahlreichen Debatten, die der Buddha später mit Vertretern verschiedener anderer Sichtweisen führte, die alle im Pali-Kanon niedergeschrieben sind. Wo es unterschiedliche Werte gibt, ist es für die herrschenden Klassen schwieriger, einfach zu behaupten, dass ihre Position gottgegeben, natürlich und notwendig sei. Die Alternative besteht jedoch darin, sich überhaupt nicht mit universellen Fragen zu beschäftigen, sondern die eigenen Werte auf einen bestimmten, begrenzten Kontext zu gründen. Je isolierter oder abgeschirmter dieser Kontext ist, desto leichter ist es, diese begrenzten Werte als die einzig denkbaren aufrechtzuerhalten. Die abgeschirmte Lebensweise von Siddhartha im Palast stellt eine Möglichkeit dar, Überzeugungen gegen Kritik zu immunisieren.

Eine moderne Analogie dazu ist vermutlich weniger geographische Isolation, sondern vielmehr der „Echokammer“-Effekt in sozialen Medien. Dieser Effekt entsteht dadurch, dass Menschen in sozialen Medien nur die Inhalte sehen, die für sie ausgewählt wurden – entweder gezielte Werbung oder Freunde, die sie ausgewählt haben, weil sie wie sie sind, oder ihre Interessen teilen. Wenn Menschen nicht mit gegensätzlichen Ansichten in Kontakt kommen und sich mit diesen auseinandersetzen müssen, sehen sie ihre Annahmen als die einzig möglichen und vernünftigen an. Einmal mehr scheint der Palast Kernelemente des modernen Lebens zu repräsentieren: nicht nur konsumorientierte Bequemlichkeit, sondern auch intellektuelle Isolation.

Als Produkt dieser Umstände repräsentiert der Palast auch die Überzeugung, dass es keinen besseren oder universelleren, über den spezifischen Kontext hinausgehenden Wert gibt, an dem man arbeiten kann. Der Palast ist somit ein tief konventioneller Ort, an dem die Werte der königlichen Familie absoluten Vorrang haben. Diese Konventionalität ist möglicherweise sehr stark mit Pflichten verbunden und ritualisiert, wie es bei der britischen Königsfamilie oft dargestellt wird. Dennoch könnte sie auch ein hohes Maß an hedonistischer Genusssucht befördern, wie sie in Ashvaghoshas weiterentwickelter Version von Buddhas Lebensgeschichte dargestellt wird.

Der Glaube, es gebe keine berechtigten Werte, die höher als Konvention sind, ist Relativismus, den ich als eine Ansicht verstehe, dass kein bestimmter Wert besser gerechtfertigt ist als irgendein anderer. Man kann sich vorstellen, dass Siddhartha von seinen Eltern, anderen Verwandten oder sogar treuen Dienen gedrängt wird, „ein anständiger Prinz“ zu sein. Das würde bedeuten, die Werte seiner Vorväter allein auf Grund seiner Position aufrechtzuerhalten. Sie würden sagen, ein Priester oder religiös Suchender zu sein, mag für andere das Richtige sein, aber nicht für dich. Es gibt kein allgemeineres moralisches Ziel, das alle Menschen einschließen sollte, würden sie unterstellen, es gibt nichts Höheres, das man anstreben kann.

Wiederum ist dieser Relativismus ein Standardmerkmal modernen Lebens. Um Konflikte zu entschärfen, greifen wir nur allzu gerne darauf zurück, wenn wir Menschen mit anderen Wertvorstellungen treffen: „Es ist OK für dich, aber nicht für mich.“ Hindus können arrangierte Ehen eingehen, Muslime Halal-Fleisch essen und Vietnamesen Hunde – nicht meine Gepflogenheit, aber jedem das Seine. Solch eine Haltung mag oft nur in angemessener Toleranz gegenüber harmlosen Unterschieden bestehen, aber sie kann auch eine weitere Bewertung oder Beurteilung unterbinden, wenn diese vonnöten sind. Relativismus mag weniger selbstverständlich gegenüber Nazis sein, die Juden massakrieren oder gegenüber Verstümmlern weiblicher Genitalien in vielen Teilen des heutigen Nordafrikas. Wir können es uns nicht leisten, die Möglichkeit, zu urteilen, zu unterbinden.

Wir stellen nun fest, dass der Palast nicht für einen einzelnen Glauben oder eine Glaubensrichtung steht, sondern für eine ganze Reihe voneinander abhängiger. Es gibt Maßlosigkeit, aber diese Maßlosigkeit braucht die Unterstützung einer isolierten Konventionalität. Diese Konventionalität ist auch in der Lage, jeglichen Konflikt mit anderen Werten durch Relativismus abzuwehren.

Vielleicht haben Sie auch bemerkt, dass diese Werte in recht enger Beziehung zu dem stehen, was oft als ihr Gegenteil angesehen wird. Gerade die Tatsache, dass diese Werte und ihre Gegenteile voneinander getrennt werden und nicht hinterfragbar sind, ist das Bedeutsamste an ihnen. Es wäre überhaupt nicht schwer, sich Siddhartha in Folge der Isolation als streng und pflichtbewusst vorzustellen, wie es viele Palastbewohner tatsächlich waren. Die Konventionalität könnte auch genauso gut mit Absolutismus wie mit Relativismus in Verbindung gebracht werden. Die Palastbewohner könnten also davon überzeugt sein, im Besitz universeller Wahrheit (über Gottes Gebote oder die Natur oder was auch immer) zu sein und, dass dies ihnen ihre erhabene gesellschaftliche Stellung verleiht.

Letztlich ist das Bedeutsamste am Palast dessen Verhältnis zur Macht. Die Machthaber werden eine Ideologie aufrechterhalten, mit deren Hilfe sie ihre gesellschaftliche Stellung behaupten können. Macht wird erhalten, indem alternative Ansprüche derer, die sie anfechten könnten, nicht mehr gelten. Wir erhalten Macht über andere oder unterdrückte Teile unserer selbst, indem wir uns weigern, alternative Werte anzuerkennen, die diese Macht angreifen könnten. Der Palast ist an der Macht und er bleibt es, indem er sich isoliert und den Glauben aufrechterhält, das müsse so sein.

Buddhas Mittlerer Weg

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