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7. Kapitel

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Alma hatte alles vorbereitet: Eine Umhängetasche mit Kleidungsstücken und Windeltüchern war für Sonja gepackt. Für sich selbst hatte sie nur einmal Wäsche zum Wechseln dabei. Es würde schon irgendwie gehen. Ihr Geld und das, was sie ihrem Vater gestohlen hatte, trug sie in einem Samtbeutel unter ihrem Kleid.

Seit dem Treffen mit Friedrich hatte sie unentwegt gegrübelt, was sie tun sollte. Sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen und fühlte vor allem eines: Scham. Alma schämte sich, dass sie ein Kind zur Welt gebracht hatte, sie schämte sich, dass sie damit Friedrich und dessen Familie unermesslichen Schaden zugefügt hatte, und sie schämte sich über ihre Feigheit.

Gustaf schreckte hoch. Er war beim Zeitunglesen im Sessel eingeschlafen. Er fluchte. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es bald zwei Uhr war. So schnell würde er nun nicht mehr einschlafen können. Am besten war es, Galla zu wecken und sich von ihr ein deftiges Nachtmahl zubereiten zu lassen. Er dachte an ihre üppigen Formen, die nur von einem Morgenmantel bedeckt sein würden, und wie er sie beim Braten von Eiern und Speck beobachten und vielleicht mehr als ein gutes Essen erleben konnte. Er rieb sich die Hände vor Vergnügen.

Der Flur zur Küche und zu den Räumen der Dienstboten lag in gespenstischer Ruhe. Plötzlich hörte er Dielen knarren. Gustaf stutzte. Den Dienstboten war es verboten, nachts im Haus herumzuschleichen. Er verharrte und lauschte in die Dunkelheit. Er hörte eine Tür klappen. Dann war es still. Totenstill. Gustaf ging eilig zu Gallas Kammer, machte sich gar nicht erst die Mühe zu klopfen, öffnete die Tür und erfasste mit einem Blick, dass ihr Bett leer war. In dem anderen lag eine Bedienstete und schnarchte leise. Was zum Teufel machte Galla um diese Tageszeit? Sofort durchzuckte ihn Eifersucht. Na, warte! Gustaf schnaubte vor Wut. Die Magd fuhr mit einem entsetzten Schrei aus dem Schlaf.

»Wo ist Galla?«, schnauzte er sie an.

Das Mädchen hielt sich mit beiden Händen die Decke bis zum Kinn und schüttelte ängstlich den Kopf. Gustaf winkte ab, verließ das Zimmer und ging mit schweren Schritten zur Hintertür. Sie war nicht verschlossen. Er durchquerte den Hof, fest davon überzeugt, Galla mit einem Mann zu überraschen.

»Das ist keine gute Idee, Alma. Wirklich nicht. Die Loewes haben doch gar keinen Platz für dich. Die Kleine hat es hier viel besser«, redete Galla auf Alma ein, die in der leeren Remise auf dem einzigen Stuhl saß, das Baby im Arm. Galla hatte sich vor ihren Schützling gehockt, Almas Beine umschlungen und wusste selbst nicht, was richtig war. Sie wusste nur, was falsch war: Nämlich dass die Herrin der Tochter das Kind gestohlen hatte. Aber Galla wusste auch, dass Alma für diese Flucht weder gewappnet war noch die Härte und Durchsetzungskraft für ein Leben außerhalb ihres Elternhauses besaß.

»Du wirst mich jetzt hinbringen«, beharrte Alma.

Die Tür flog auf. Galla sprang erschrocken hoch. Schadts riesige Gestalt stand im Türrahmen.

»Ins Haus!«

Er riss Galla von seiner Tochter weg und gab der Dienerin eine schallende Ohrfeige.

»Wird’s bald!«, brüllte er Alma an und begann auf Galla einzuprügeln.

»Sie hat keine Schuld, Papa. Galla hat keine Schuld. Es war meine Idee«, schluchzte Alma. Ihre Tränen fielen auf das Baby, das stillhielt, als verstünde es bereits, was sich zutrug, und als fühlte es selbst eine Schuld, weil es auf die Welt gekommen war. Ohne Rücksicht auf den Säugling griff Gustaf seine Tochter am Arm und zog sie mit sich hinaus.

Blut tropfte aus Gallas Nase. Sie rannte zum Fenster und schaute Alma und Sonja nach, wie sie vom Vater zurück ins Haus gebracht wurden. Dort war inzwischen die Amme wach geworden und nahm Alma das Kind ab, das leise zu wimmern begann.

Gustaf stieß seine Tochter ins Arbeitszimmer und verschloss die Tür von außen. Von den Wänden glotzten die Masken aus Afrika. Alma stand da und wartete auf ihr Urteil. Am liebsten wollte sie sterben. Es blieb sich gleich. Sie weinte still.

Nach einer ganzen Zeit ging endlich der Schlüssel. Der Vater kam. Er hatte gefrühstückt, und seine Stimmung war besser. Er reichte ihr sein Taschentuch und nahm sich einen Stuhl. Als Alma sich geschnäuzt hatte, zog er sie zu sich heran und setzte sie auf sein Knie.

»Ich werde Mutter nichts davon sagen.« Seine Stimme hatte einen verschwörerischen Klang.

Im Laufe ihres Lebens hatte Alma gelernt, mit den Launen des Vaters umzugehen.

»Ich will doch mit Friedrich und Sonja zusammen sein«, schluchzte sie und wagte nicht, sich loszumachen. Zu sehr fürchtete sie das Umschlagen seiner Stimmung.

»Du willst mit deinem Kind in einem Loch leben? Ohne Geld, ohne Ausstattung? Wie stellst du dir das vor?« Er wippte mit den Knien, als könne er sie so beruhigen.

»Friedrich arbeitet doch, und ich kann mir auch was suchen.«

»Arbeit? Was denn?« Der Vater schmunzelte.

»Ich könnte … Klavierlehrerin sein … oder Handarbeiten machen.«

»Am Ostbahnhof lernt niemand Klavier. Da holt dich die Polizei, und du kommst ins Frauenhaus!« Gustaf lachte gutmütig.

Tränen liefen Alma über das Gesicht. Gustaf seufzte. Die Gefühle seiner Tochter strengten ihn an. Er wollte das Gespräch zum Abschluss bringen.

»Mausebär, dein Friedrich ist ein dummer Junge gewesen. Er sollte eine ordentliche Tracht Prügel bekommen. Bedanken kann er sich bei deiner Mutter, dass sie den Schaden klein hält.« Er schob sie vom Knie. »Und du auch.« Gustaf erhob seinen massigen Körper.

»Wenn ich weggehen würde von hier, weit weg … könnte ich dann Sonja mitnehmen?«

»Wo willst du denn hin?« Gustafs Stimme klang gereizt.

»Nach Amerika!« Alma hoffte, ihren Vater zu beeindrucken. Schließlich liebte er das Reisen.

»Was willst du denn dort allein mit einem Kind?«

Alma zögerte, sie hatte so gründlich über Amerika noch nicht nachgedacht, nur dass es weit genug weg war von zu Hause, um irgendwelche Nachteile für die Mutter und den Vater, für den Ruf der Familie, mit sich zu bringen.

»Ich könnte …«

Weiter kam Alma nicht. Eine Ohrfeige traf ihr Gesicht. Sie taumelte.

»Schluss jetzt mit diesem Unsinn!« Gustaf räusperte sich. »Wir werden die Verlobung mit Siegfried von Tennen bekannt geben.«

Alma wich angewidert zurück. »Das geht nicht … ich kann nicht.«

Allein die Vorstellung, diesem Mann anzugehören, womöglich das Ehebett mit ihm zu teilen, schüttelte sie.

Doch Gustaf war unerbittlich. »Du trägst Verantwortung für deine Familie.«

Alma schluckte.

»Um deinen Friedrich brauchst du dir keine Sorgen mehr zu machen. Da kümmere ich mich drum. Wäre doch gelacht, wenn am Ende nicht alle zufrieden sind. Was, Mausebär?!«

Gustaf ging zum Schrank, holte eine Flasche Likör und zwei Gläser. Während er gleich zwei Gläser hintereinander kippte, bekam Alma ein kleines Schlückchen, an dem sie brav nippte.

»Eine verheiratete Frau hat viele Möglichkeiten. Da fragt keiner, wenn sie Umgang mit ihrem Schwesterchen pflegt.«

Mit einem beredten Zwinkern machte Gustaf seine Tochter auf diese Möglichkeit aufmerksam.

Und da kam wieder diese Scham. Sie nahm Alma die Luft und legte sich auf ihr Herz. Sie schämte sich vor ihrem Vater, weil sie fliehen wollte, und sie schämte sich wegen ihrer Feigheit, dass sie es nicht tat.

Ein paar Tage später nahm Gustaf Alma mit ins Kontor. Nach der nächtlichen Auseinandersetzung wollte er das vertraute Verhältnis zur Tochter wiederherstellen und buhlte um ihre Zuneigung. Alma redete sich ein, dass sie das Beste für Sonja, für Friedrich und für dessen Familie tat, wenn sie den Vater für alles sorgen ließ. Sie verbot sich, den goldenen Käfig zu sehen, in dem sie saß, und dass sie nicht in der Lage war, sich zu befreien.

Gustaf hatte eine Lagerhalle und Büroräume zwischen dem ehemaligen Hamburger und Lehrter Bahnhof gemietet, wo er auf fast tausend Quadratmetern seine Waren lagerte und die Geschäfte abwickelte. Sein Kontor befand sich oberhalb des Warenlagers und war über eine Eisentreppe zu erreichen. Alma stand an der Fensterfront und schaute hinunter ins Lager, wo sich die Waren aus den Kolonien stapelten. Pralle Jutesäcke gefüllt mit Kaffee- und Kakaobohnen. Etwas kleinere Säcke mit Gewürzen von Anis bis Zimt lagen nach dem Alphabet geordnet in Regalen. Auf dem Boden davor fanden sich Tropenhölzer, Kisten mit Elfenbein und Schildpatt, flankiert von Stiegen voll mit Halbedelsteinen.

Tawonga schleppte Materialproben die Treppe hinauf und legte sie auf einem Holztisch ab, der das Zentrum des Kontors bildete. Alma beobachtete, wie der Junge die Eisentreppe wieder hinunterflitzte. Unten angekommen, sah er hinauf und warf ihr einen konspirativen Blick zu. Alma reagierte unmerklich, wandte sich vom Fenster ab und dem Tisch zu und ließ ihre Fingerspitze über die kostbaren Materialien gleiten. Gustaf reichte ihr einen braunen Umschlag.

»Du wirst dich doch nicht langweilen, Mausebär?«

Alma schüttelte den Kopf. Sie spielte das Mädchen und wusste ihren Vater damit einzunehmen.

»In dem Brief findest du Fotos, die deinen Vater zeigen«, sagte er stolz. »Die Fotografin ist eine famose Frau. Sie reist allein, hat ihre Fotoausrüstung in Kisten dabei und verkauft die Bilder weltweit. Sie fand, dass dein Vater ein gutes Objekt zum Fotografieren ist.«

Alma zog die schwarz-weißen Aufnahmen aus dem Umschlag. Sie zeigten Gustaf in unterschiedlichen Situationen und Posen. Zwei schwarze Männer trugen ihn in einer Sänfte, übermütig schwenkte er seinen Tropenhelm in die Kamera. Auf einem nächsten Foto waren vier Galgen, an denen schwarze Männer hingen. Davor stand Gustaf mit Offizieren der Kaiserlichen Armee.

»Rebellen, die uns das Leben schwer machen«, erklärte Gustaf. »Sie versuchen ihre Landsleute gegen uns aufzuwiegeln. Die Soldaten waren gezwungen, ein Exempel zu statuieren.«

Alma blätterte schnell weiter. Eine Gesellschaft beim Essen auf der Terrasse eines Kolonialhauses.

»Wir feiern den Geburtstag unseres Gouverneurs.« Gustaf tippte auf den Mann, dann auf sich selbst.

Alma dachte über ihre Eltern nach. Während die Mutter zu Hause saß und für die wenigen Wochen lebte, in denen der Vater endlich in Berlin und bei der Familie war, nahm er sich alle Freiheiten.

Gustaf löste sich von Alma und ging Lorenz Adlon entgegen, der mit Jeschke die Treppe heraufkam. Die Männer begrüßten sich herzlich.

Alma schob die Fotos zurück in den Umschlag, dabei fiel ihr Blick auf den Stempel auf der Rückseite eines der Bilder. Er zeigte die Umrisse eines Frauenkopfes, kunstvoll war der Name der Fotografin hineingesetzt – Undine Adams. Sie hat all das Schöne und das Schreckliche gesehen, dachte Alma, und auch noch fotografiert.

»Alma ist heute an meiner Seite. Ihr fällt sonst zu Hause die Decke auf den Kopf«, erklärte Gustaf gut gelaunt. Lorenz Adlon und Lorenz Jeschke begrüßten Gustavs Tochter.

Gustaf führte seine Gäste zum Holztisch. »Ich habe hier meine besten Materialien ausgelegt. Findet heraus, was euch gefällt und zum neuen Haus passt.«

Lorenz Adlon griff nach dem Stoßzahn eines Elefanten, wog ihn in den Händen und reichte ihn an Jeschke weiter.

»Wie lange sind die Lieferzeiten, Gustaf?«

»Sechs, acht Monate werde ich brauchen, um alles heranzuschaffen«, erwiderte Gustaf.

»Das wird knapp! Ich muss mich drauf verlassen, dass es keine Verzögerungen gibt«, sagte Adlon senior kompromisslos.

Gustaf blieb entspannt. »Konntest du dich jemals auf mich nicht verlassen? Lass uns die Mengen festlegen.«

Er setzte sich an seinen Schreibtisch, um die Bestellung aufzunehmen. Jeschke schob für seinen Vater und sich die Stühle zurecht. Gustaf winkte seiner Tochter.

»Komm, Mausebär, setz dich zu uns.« Alma zögerte, und Gustaf glaubte zu erraten, was seine Tochter wollte. »Oder soll dir Tawonga die getrockneten Ananas zeigen und die Nüsse?«

Er lächelte verschmitzt und war sich sicher, dass sein Mausebär ein wenig naschen wollte. Alma lächelte brav. Und Gustaf rief, zufrieden über seine Intuition, nach dem Jungen.

Kaum war Alma außer Sichtweite der Männer, rannte sie die Eisentreppe hinunter.

»Pass auf, dass mir niemand folgt«, flüsterte sie Tawonga zu und wusste nicht genau, ob der Junge sie schon verstand. Galla hatte das Treffen organisiert und Tawonga eingeschworen, für ihre Sicherheit zu sorgen. Zur Bestätigung setzte er sich nun im Schneidersitz auf den Boden vor die Treppe, bereit, Alma zu warnen, wenn Gustaf oder die Gäste das Kontor verließen.

Alma musste nicht lange suchen, um Friedrich zwischen den Regalen zu finden. Sie fielen sich in die Arme.

»Dein Vater war bei uns. Er hat bei Herrn Adlon ein Wort für mich eingelegt. Alma, ich darf für ihn arbeiten.« Friedrichs Worte überschlugen sich glücklich. »Bei Herrn Adlon kann man aufsteigen, sagt dein Vater. Vielleicht kann ich irgendwann Page werden. Ich werde viel mehr Geld verdienen als auf dem Kohlenhof. Vielleicht«, er schaute sie voller Hoffnung an, »können wir dann heiraten.«

Diesmal war es Alma, die gedämpft auf die Zukunftspläne reagierte. Sie wollte endlich etwas richtig machen, etwas, das sich so anfühlte, als trage es Vernunft in sich, etwas, das ihr aus dieser unerträglichen Scham heraushalf.

»Ich muss standesgemäß heiraten, Friedrich. Vater hat mir versprochen, dass ich dann Sonja bekomme.«

Friedrich schaute sie irritiert an.

»Ich werde Sonja zu mir nehmen. Niemand kann einer verheirateten Frau verbieten, ihre jüngere Schwester zu versorgen. Wir können uns immer treffen … im Park … oder bei deinen Eltern.«

»Aber Sonja ist mein Kind.« Friedrich umgriff Almas Arme. »Wir drei gehören zusammen.«

Alma wand sich los. »Du tust mir weh.«

»Ich mache alles, was ich kann. Vielleicht hat Herr Adlon auch Arbeit für meinen Vater und …« Seine Augen flehten. »Alma, ich schaffe das.« Er nahm ihre Hände.

»Ich versuch es, Fritz. Ich versuche, tapfer zu sein.« Sie entzog sich Friedrich und strich ihr Kleid glatt. »Wie geht es euch denn so? Deiner Mutter und den anderen?«

»Meine Mutter hat jetzt Arbeit als Waschfrau. Mathilde und meine Brüder gehen wieder zur Schule.«

Plötzlich öffnete sich die schwere Eingangstür. Schnell tauchten sie hinter einer Kiste ab und beobachteten, wie Louis Adlon die Lagerhalle betrat. Tawonga stand auf, um ihn vorbeizulassen. Louis nickte dem Knaben zu, nahm die Stufen immer zwei auf einmal und verschwand im Kontor. Tawonga setzte sich wieder auf seinen Posten.

Alma holte ein paar Geldscheine unter ihrem Gürtel hervor und reichte sie Friedrich.

»Für euch. Es ist unser Reisegeld.« Friedrich wehrte ab. »Ihr braucht es jetzt.«

Entschieden schob ihm Alma das Geld zu. Als er es in seiner Hand spürte und sie losließ, wussten beide, dass nun jeder auf sich allein gestellt war.

Beim Eintritt ins Kontor sah Louis Adlon die Runde, die einvernehmlich mit der Ausgestaltung des künftigen Hotels beschäftigt war.

»Einen Teil der Ware werde ich über meine englischen Zwischenhändler ordern. Für die Hölzer habe ich einen Mann in Kamerun«, erklärte Schadt gerade, als er Adlon junior eintreten sah.

»Louis! Wie schön!« Gustaf erhob sich und ging ihm entgegen.

»Ich bitte um Verzeihung, dass ich störe.« Louis wandte sich an seinen Vater. »Ich muss dich sprechen, Vater.«

»Bitte, leg los!«, entgegnete der Alte unwirsch.

Jeschke stand auf und bot Louis seinen Stuhl an. Doch der beachtete seinen Stiefbruder nicht.

»Unter vier Augen.«

Lorenz erhob sich unlustig und folgte dem Sohn an die andere Seite des Kontors.

»Ich möchte dir etwas zeigen.« Nach der peinlichen Auseinandersetzung hatte Louis überlegt, wie er den Vater unterstützen könnte. Er holte eine Skizze aus seiner Tasche, die den Pariser Platz und die ihn umgebenden Straßen zeigte. »Ich habe mich nach diesem Grundstück in der Wilhelmstraße erkundigt. Es ist frei, wir könnten es sofort kaufen«, sagte Louis. Auf seiner Karte waren die Baustelle des künftigen Hotels und das neue Grundstück farblich hervorgehoben.

Lorenz sah, dass die Parzellen nur an einer Ecke zusammenstießen.

»Die Grundstücke liegen doch viel zu weit auseinander«, beanstandete der Vater.

»Wir schaffen einen Innenhof und verbinden die beiden Häuser.« Louis schraffierte die Verbindungsstelle.

»Nein! Wir brauchen das Nachbargrundstück Unter den Linden 2«, beharrte der Vater.

»Um das Zehn- oder Zwanzigfache des Werts zu bezahlen, weil die Konkurrenz die Hand draufhält?«

»Die werden wir ausstechen.«

Der Alte wollte wieder zurück auf seinen Platz an Gustafs Schreibtisch. Louis hielt ihn auf.

»Unter den Linden sind die Suiten. In der Wilhelmstraße bringen wir bezahlbare Zimmer für Touristen unter.«

»Mein Grandhotel steht auf dem Pariser Platz und nicht in einer Seitenstraße.«

»Ich habe das Grundstück bis heute Abend reserviert«, gab Louis nicht auf.

Der Vater klopfte ihm herablassend auf die Schulter und ging zurück.

»Was schlägst du als Material für die Intarsien vor?«, wandte er sich an Gustaf, als wäre sein Sohn gar nicht mehr da.

Louis Adlon fasste sich, wünschte allen einen schönen Tag, verließ das Kontor und dachte: Der Alte benimmt sich, als wäre er Gott.

Er spielt uns gegeneinander aus, dachte Jeschke.

Als Alma und Gustaf nach Hause kamen, spielte im Salon das Grammophon. Ein Dienstmädchen nahm ihnen die Mäntel ab.

»Ihre Frau hat Besuch. Die Baronin von Tennen.«

Gustaf nickte, brummte etwas Unverständliches und machte, dass er unbeachtet am Salon vorbeikam. Alma wollte es ihm gleichtun. Doch Ottilie, die mit Frau von Tennen eine Patience legte, rief mit süßer Stimme:

»Alma, Frau von Tennen und ich, wir träumen schon von der Hochzeit.«

Der achtjährige Sebastian, der zu Füßen der Frauen mit seinen Zinnsoldaten und Holzpferden spielte, sah neugierig auf. Alma trat ein.

»Wir werden Ende des Jahres die Verlobung bekannt geben«, flötete Ottilie und legte einen Herzbuben an seinen Platz. »Siehst du, die Karten sagen es auch.« Sie lachte über den Zufall.

Es klingelte an der Tür.

»Das wird wohl Siegfried sein.«

Frau von Tennen nickte Alma zu, zeigte auf den Platz neben sich und goss Tee ein.

Das Dienstmädchen führte den Bräutigam herein. Er trug wieder Leutnantsuniform, trat zackig auf die Frauen zu und verbeugte sich akkurat.

»Guten Tag, gnädige Frau Schadt. Mama. Alma.«

Siegfried nahm den freien Stuhl Alma gegenüber.

»Milch, Zucker, Zitrone?« Ottilie bediente den künftigen Schwiegersohn mit Tee.

»Ich danke sehr. Milch.« Siegfried nahm die Tasse entgegen.

Alma senkte den Blick.

Ottilie blieb in Hochstimmung. »Im Sommer geht Siegfried mit dem Papa in die Kolonien. Ich habe also meinen geliebten Schatz noch eine Weile im Haus. Dennoch werden wir ab sofort mit den Hochzeitsvorbereitungen beginnen.« Sie seufzte theatralisch. »Es ist so schön, wenn man sich dafür Zeit nehmen kann. Ach, wenn ich mir das nur vorstelle: Brüsseler Spitze, die Hochzeitstorte, die Gästeliste. Bei mir musste damals alles ganz schnell gehen. Zwischen zwei Reisen wollte Gustaf klare Verhältnisse schaffen.«

Siegfrieds Blick hing an Alma, die in ihre Teetasse starrte und den öligen Kreisen folgte, die der Tee bildete.

»Hatten Sie einen angenehmen Tag, Alma?«, riss Siegfried sie aus ihren Beobachtungen. Alma blickte auf und nickte.

»Alma, vielleicht zeigst du Siegfried den Garten«, schlug Ottilie vor, während sie die Karten mischte.

Alma hatte wenig Lust dazu. Doch es erschien ihr allemal besser, als weiterhin hier zu sitzen und von allen angestarrt zu werden.

Alma und Siegfried spazierten über den Hof, und ohne sich über ihre Gründe Rechenschaft abzulegen, führte Alma den künftigen Bräutigam zur Remise.

»Hier habe ich früher immer mit den Kindern von unserem Gärtner gespielt. Manchmal durfte ich auch ins Haus.«

»Kartoffelpuffer essen?«

Alma schaute Siegfried überrascht an. »Ja!«

Siegfried nickte. Plötzlich sah er jungenhaft aus und weich.

»Da hat man Spaß dran, was!« Er lachte. »Aber durch unsere Adern fließt anderes Blut. Wir haben nichts mit denen gemein.«

»Das ist doch Unsinn«, entfuhr es Alma.

Er lenkte ein. »Sie sind das hübscheste Mädchen, das mir je begegnet ist, und ich danke meiner Mutter, dass sie … dass sie uns zusammengebracht hat.«

»Und wenn ich Ihnen nun etwas sagte, das vielleicht kein gutes Licht auf mich wirft?« Alma hatte plötzlich Lust zu rebellieren.

»Kein gutes Licht auf Sie?« Siegfried schüttelte den Kopf. »Das kann es gar nicht geben.«

»Und wenn doch?« Alma spielte mit dem Feuer.

»Schütten Sie mir Ihr Herz aus, Fräulein Alma, dann werd ich es auch tun.« Er wurde ganz enthusiastisch.

»Sie zuerst!«, sagte Alma geistesgegenwärtig und zeigte auf eine Bank hinter der Remise. Sie gingen die wenigen Schritte und setzten sich.

Siegfried räusperte sich. »Das Angebot Ihres Herrn Vater, in seinem Geschäft zu lernen, ehrt mich. Aber ich werde in absehbarer Zeit Offizier sein. Ich werde in die Schutztruppe Seiner Majestät eintreten und in den deutschen Kolonien für Recht und Ordnung sorgen.«

»Recht und Ordnung?«, wiederholte Alma. Sie dachte an die Fotos ihres Vaters.

»Die Negerstämme liegen in ihrer Entwicklung weit zurück. Sie müssen erzogen werden zu deutscher Tugend, Tüchtigkeit und deutschem Fleiß.« Er sprach begeistert. »Aber das ist Männersache. Eine Frau gehört nicht ins schwarze Afrika. Wir machen es ganz so, wie Ihr Herr Vater es mit seinen Reisen praktiziert: ein halbes Jahr Trennung und Dienst in der Truppe, bis wir etwas älter sind, Alma. Dann richten wir uns neu ein.«

»Ein ganzes halbes Jahr werden Sie also nicht zu Hause sein?« Alma wurde hellhörig.

»Vielleicht auch länger. Sie werden doch einverstanden sein?«

»Aber ja! Ich werde mich schon zu beschäftigen wissen.«

Siegfried atmete auf. Sie würde ihm die Freiheit lassen.

»Und nun sind Sie dran«, sagte er, glücklich, dass er den Mut gehabt hatte, offen zu seinen Plänen zu stehen.

»Womit denn?« Alma sprang auf und lief ein paar Schritte den Weg entlang.

Er folgte ihr. »Mit Ihrem Geheimnis.«

»Ach, was soll ich denn für ein Geheimnis haben?« Sie rannte los und rief übermütig: »Wer zuerst im Haus ist.«

Siegfried versuchte ihr zu folgen, doch sein Säbel hinderte ihn beim Laufen.

Galla hängte Almas Kleider auf Bügel, räumte Unterwäsche und Strümpfe an ihren Platz, während sich Alma zur Nacht das lange Haar bürstete. Dabei schaute sie nachdenklich in den Spiegel. Seit dem Gespräch mit Siegfried am Nachmittag formte sich ein neues Bild ihrer Zukunft.

»Wenn Siegfried in den Kolonien ist, kommt Friedrich, sooft es geht, zu uns. Wir geben dem Personal frei, und niemand wird etwas bemerken. Du wirst doch bei mir wohnen, Galla?«

»Wenn deine Mutter es erlaubt.«

»Sie muss es. Das wird meine Bedingung sein.«

Galla nickte, nicht überzeugt, dass sich Alma gegen Ottilie durchsetzen würde. Sie begann ihrem Schützling einen Zopf zu flechten.

»Vielleicht kommt Siegfried bei einem Gefecht um. Papa hat mir erzählt, dass es oft Kämpfe gibt, bei denen geschossen wird«, sinnierte Alma weiter über ihr Leben als Frau von Tennen. »Ich weiß, dass man einem Menschen nicht den Tod wünschen darf … aber … es wäre ja dann Schicksal.«

Galla wiegte den Kopf hin und her, wie sie es immer dann tat, wenn man eine Sache so oder so sehen konnte und Worte diesen Zwiespalt nicht auszudrücken vermochten.

»Als Witwe werde ich versorgt sein, und dann kann ich …« Sie brach ab, schlüpfte ins Bett und ließ sich von Galla zudecken.

»Dann werde ich Friedrich heiraten«, flüsterte Alma.

»Für alles ist noch Zeit, kleine Alma, die Hochzeit ist nicht heute und nicht morgen.«

Galla legte wie jeden Abend ein Tuch über die Lampe und summte ein Lied, das sie als Kind gehört hatte, wenn es die Frauen am Feuer sangen.

Alma schloss die Augen und genoss die Zärtlichkeit der Dienerin, die aus einer Welt kam, in der es Kaffee und Kakao gab, Elefanten und eine ewige Sonne, die die Haut der Menschen dunkel gefärbt hatte und in der Männer wie Siegfried als Soldaten dienten. Dann schlief Alma ein.

»Warum hast du mich abgewiesen, um dann genau das zu tun, was ich dir vorgeschlagen habe: die Wilhelmstraße zu kaufen?«

Louis legte seinem Vater die Zeitung auf den Tisch, in der eine Kolumne über die Aktivitäten des alten Adlon berichtete und ihm zu seinem Geniestreich, die beiden Häuser durch einen Innenhof zu verbinden, gratulierte.

Lorenz tat geschäftig. »Deshalb kommst du extra her? Hast du nichts Besseres zu tun?«

Es musste sich endlich etwas ändern, hatte Louis auf dem Weg zum Vater beschlossen. Schon sein ganzes Leben warb er um dessen Liebe und Aufmerksamkeit, tat alles, was der sich wünschte, und doch gab er immer wieder nur Anlass zu Kritik.

»Warum ziehst du Jeschke vor?«

»Ich ziehe niemanden vor«, wehrte Lorenz ab.

»Weil er sich hocharbeitet, wie du einstmals, und ich das nicht muss?«

»Für dich ist alles nur ein Zeitvertreib.« Endlich sah der Alte von seinen Unterlagen auf.

Louis lachte verletzt. »Vater, ich arbeite. Ich führe unser Continental und die beiden Gasthäuser.«

»Ohne jeden Ehrgeiz. Unser Continental ist nur zur Hälfte ausgebucht. Das müsste dich interessieren.«

Das hatte gesessen. Louis schwieg getroffen.

»Wenn ich so gewesen wäre wie du – ängstlich, mit tausend Vorbehalten –, stünden wir heute bettelarm auf der Straße.«

Louis kannte diese Litanei. Lorenz Adlon und die Männer seiner Generation hatten 1871 nach dem Sieg über Frankreich und der Gründung des Deutschen Reiches einen ungeheuren Aufbruch erlebt. In dieser wirtschaftlich aufstrebenden Zeit hatten sie sich ihre Träume erfüllt und ihre Unternehmen aufgebaut.

»Mein Vater konnte stolz auf mich sein!« Lorenz schlug zur Bekräftigung mit der flachen Hand auf den Tisch.

»Warum haben wir Kinder ihn dann niemals kennengelernt?«

»Es hat sich nicht ergeben«, wehrte Lorenz ab.

»Du hast dich für deinen Vater geschämt, weil er nur ein Schuhmacher war.« Jetzt wollte Louis den Vater treffen.

»Du gehst zu weit«, donnerte Lorenz.

»Du bestimmst, wer in deinem Leben einen Platz haben darf und wer nicht.«

Stille trat ein.

Louis zögerte einen kurzen Moment, dann verließ er die Baracke auf der Baustelle des Neubaus und stieg in seinen Wagen, um ins Continental zu fahren. Er schämte sich für seine Feigheit und dafür, dass er keine Konsequenzen zog, dass er auf seinem Platz blieb und sich immer wieder dem Urteil des Vaters aussetzte. Sein Vater hatte recht. Er hatte keine Visionen. Denn hätte er welche, würde er seiner Wege gehen und sein eigenes Geschäft aufbauen. Aber er blieb. Aus Pflichtgefühl. Das Pflichtgefühl eines Sohnes, dem schon als kleiner Junge gesagt worden war, dass er die Geschäfte seines Vaters fortführen werde.

Das Adlon

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