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8. Kapitel
ОглавлениеSonja hielt ihr Stoffpüppchen selig umklammert. Es hieß Undine. Ein Name, den ihr Alma zugeflüstert hatte, als sie am Nachmittag die Puppe aus einem von Gustafs großen weißen Schnupftüchern gebastelt hatte. Das Innere des Kopfes bestand aus einem Wollknäuel, Hals und Hände waren mit einem Wollfaden abgebunden. Auf das Gesicht hatte Alma Augen gemalt und einen roten lachenden Mund. Sie hatte Sonja mit dem Püppchen an der Nase gekitzelt und ein bisschen an die Brust gestupst. Sonja hatte gelacht, und Alma hatte sie durch das Zimmer gejagt. Selten waren sie so unbeschwert miteinander. Das konnten sie nur, wenn Ottilie nicht da war und das Kinderfräulein frei hatte.
»Die gnädige Frau kommt nach Hause«, rief Galla und brachte Sonja schnell in ihr Zimmer. Die neue Puppe aus dem Schnupftuch versteckten sie unter der Bettdecke.
Als Ottilie das Haus betrat, saß Alma am Flügel und schien sich seit Stunden mit einer Etüde von Chopin zu beschäftigen. Ottilie hörte ein paar Minuten zu. Dann rief sie nach Galla. Die kam und knickste.
»Sonja soll zu mir kommen.«
Ottilie ging hinauf in ihre Räume, um sich umzukleiden. Galla sah Sonja mit einem verschwörerischen Blick an, strich ihr das Kleidchen glatt und brachte sie zur Mama. Die saß vor dem Spiegel und kämmte sich das Haar.
»Mein Engelchen, meine Kleine, ach, du süßes Kind.«
Stets ließ Sonja die Liebkosungen über sich ergehen. Sie kannte die ungestümen Gefühlsausbrüche der Mama, manchmal waren sie zärtlich und liebevoll. Aber die Mama konnte auch schimpfen und schreien. Das tat sie gern mit Galla, den Dienstmädchen, aber auch mit Alma.
Sonja hatte sich angewöhnt, alles genau zu beobachten. Denn irgendetwas stimmte mit ihr nicht. Manchmal dachte sie, dass sie ein verirrter Engel wäre, der vom Himmel gefallen war und den die Mama gerettet hatte. Außer der Mama wusste niemand in der Familie davon. Alle glaubten, dass sie vom Klapperstorch gebracht worden war. Denn so hatte es ihr die Mama erklärt: Die kleinen Kinder werden vom Storch gebracht, wenn sich die Eltern nur sehr ein Kindchen wünschen.
Später saßen sie beim Abendessen. Ottilie achtete darauf, dass ihre Töchter den Rücken gerade hielten.
»Eine Hausherrin bestimmt die Qualität eines Haushaltes und seinen Ruf«, dozierte Ottilie gern. »So, wie eine Frau sich zeigt, spricht und sich verhält, ist sie ein Vorbild für alle anderen Familienmitglieder. Ihr Verhalten entscheidet auch über den Anstand der Dienerschaft.«
Wenn Ottilie ihre Ermahnungen beendet hatte, herrschte wieder Stille. Es war den Töchtern verboten, bei Tisch zu sprechen. Ottilie zeigte auf ihr Weinglas, und der Hausdiener goss nach.
Nach dem Essen zog sich die Mutter stets zurück. Doch auch in den Stunden der Mittagsruhe wagten Alma und Sonja nicht, miteinander zu reden oder zu spielen. Es gab ein unausgesprochenes Gesetz, das die große und die kleine Schwester auf Distanz hielt. Sonja führte es auf das Geheimnis zurück und glaubte, dass die Mama nicht wollte, dass Alma es erfuhr. Vielleicht, so dachte Sonja, wäre Alma auch gern ein Engel. Doch sie wollte die Ältere nicht zurücksetzen und schwieg über ihre Vermutungen. Später einmal würde Sonja bedauern, dass sie ihre Gedanken nicht mit Alma geteilt hatte. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen … Aber der Reihe nach.
Im Frühling 1907 stand auf dem Pariser Platz ein vierstöckiges Gebäude von vornehmer Schlichtheit. Während die Halle des Luxushotels bereits einen imposanten Anblick bot, waren das Restaurant, der künftige Palmengarten und der offene Innenhof mit dem Goethegarten noch eine Baustelle. Die Bausumme hatte sich von zwei auf siebzehn Millionen vervielfacht. Nun wollten die Banken Lorenz Adlon nichts mehr geben. Er stand kurz vor der Insolvenz. Hinter der Misere steckte einer, dem es förmlich Freude bereitete, dem Visionär die Luft zu nehmen: Bankier Leopold Koppel, Geschäftsführer von Adlons größtem Konkurrenten, der Hotelbetriebs AG. Er hatte den Geldinstituten empfohlen, dem hoch verschuldeten Hotelier nichts mehr zu leihen.
Die Handwerker waren mit dem Innenausbau der Empfangshalle beschäftigt. Tischler, Stuckateure und Bildhauer arbeiteten Hand in Hand. Jeschke überwachte die Arbeiten, während sich Lorenz Adlon mit seinem Dekorateur Stoffproben für die Möbel und Vorhänge anschaute. Nur das Beste konnte ihm gut genug sein.
»Diese Stoffe sind zu schwer und außerdem nicht strapazierfähig genug«, wies Adlon eine Mappe mit Proben ab. »Friedrich, geh zu mir nach Hause und hol die Stoffproben, die wir für die Möbel im Goethegarten vorgesehen haben.«
Er winkte seinem Laufburschen, der ihm ans Herz gewachsen war in den drei Jahren, seit er ihn auf Bitten von Gustaf Schadt zu sich genommen hatte. Inzwischen wollte Adlon Friedrich Loewe nicht mehr entbehren müssen. Er wusste, dass er sich hundertprozentig auf den Achtzehnjährigen verlassen konnte. Adlon gab ihm seinen Wohnungsschlüssel.
»Lauf zu und sei, so schnell es geht, wieder hier.«
»Sehr wohl, Herr Adlon.« Friedrich verbeugte sich kurz und ging eilig.
»Bring auch die Entwürfe für die Sitzmöbel mit. Es liegt alles auf meinem Schreibtisch«, rief ihm Lorenz Adlon nach.
Friedrich drehte sich um und nickte. Dabei wäre er fast mit einem Boten zusammengestoßen, der durch die Drehtür kam.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Friedrich.
»Die Firma Precht bittet um die Begleichung der Rechnung. Ich soll das hier Herrn Adlon übergeben«, sagte der Mann.
Friedrich wies auf seinen Patron. Auch wenn Lorenz Adlon versuchte, seine Zahlungsschwierigkeiten vor dem Personal und den Arbeitern geheim zu halten, wussten doch alle Bescheid. Die Menschen sind wie Geier, dachte Friedrich. Sie stürzen sich auf jede schlechte Nachricht, zerfetzen sie und tragen die Stücke durch die Gegend.
Lorenz Adlon nahm die Rechnung entgegen.
»Ich soll den Scheck gleich mitbringen«, murmelte der Bote verlegen.
»Herr Precht wird sein Geld bekommen. Vierzehn Tage nach Erhalt der Rechnung.«
Adlon reichte dem Boten ein Trinkgeld. Der blieb unschlüssig stehen.
»So ist es üblich«, beruhigte Adlon den Mann. »Das weiß Herr Precht.«
Der Bote nickte zögernd und ging.
Lorenz Adlon wandte sich wieder seinen Stoffen zu. Er tat dies mit größerer Geste als notwendig und übersah ausdrücklich, dass Leopold Koppel die Halle betrat, sich neugierig umschaute, um dann zielstrebig auf Lorenz Adlon zuzugehen.
»Herr Adlon, ich grüße Sie!«, rief er, als träfen sie unerwartet aufeinander. »Alles vom Feinsten und mit Geschmack ausgewählt. Da zeigt sich, dass Sie das Tischlerhandwerk von der Pike auf gelernt haben«, umschmeichelte der Bankier den Bauherrn und spielte auf Lorenz Adlons Tischlerlehre in dessen Geburtsstadt Mainz an.
»Herr Koppel, bedaure, aber ich habe alle Hände voll zu tun.« Lorenz winkte einem sechzehnjährigen Laufburschen. »Janus, begleite Herrn Koppel zur Tür.«
Doch Berlins mächtigster Bankier ließ sich nicht so einfach vor die Tür setzen.
»Später«, erwiderte er scharf.
Janus wich zurück. Lorenz blieb souverän und gab dem Jungen mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass er sich entfernen durfte. Der Dekorateur entschuldigte sich. Er wollte die Zeit für seine Arbeit nutzen. Koppel und Adlon standen sich nun allein gegenüber.
»Ihre Mittel sind aufgebraucht. Sie sind am Ende! Und wie man hört, fehlt es noch an allem: Die Einrichtung der Zimmer ist höchst unvollständig, Porzellan, Silber, Weißwäsche noch nicht geordert, an den Wänden sind keine Tapeten, die Küche ist ohne Ausstattung, die Speisekammern sind leer.« Koppel beugte sich zu Adlon: »Es ist also nur noch eine Frage der Zeit, bis Sie Bankrott anmelden.«
»Auf diesen Augenblick warten Sie nun schon drei Jahre vergeblich«, entgegnete Lorenz ruhig.
»Ich habe gute Nerven und einen sicheren Instinkt«, versuchte Koppel den Hotelier zu verunsichern.
Ich auch, dachte Lorenz und wartete ab. In Momenten, in denen die Luft dünn wurde und die Bedrohung groß, spürte Adlon stets, dass irgendwo die Rettung wartete, dass das Schicksal ihm ein Verbündeter sein würde.
Plötzlich wechselte Koppel den Ton.
»Für einen Mann mit Ihren Erfahrungen und Ihrer Durchsetzungskraft empfinde ich nur Hochachtung. Deshalb darf ich im Auftrag meiner Aktiengesellschaft so frei sprechen. Bei uns gehen seit Wochen die Diskussionen, wem wir in unserem Unternehmen die Position des Generaldirektors anbieten können.« Koppel schaute Lorenz Adlon an, als verbinde sie jahrelanges Vertrauen. »Wir haben da an Sie gedacht, verehrter Herr Adlon. Im Gegenzug übernimmt die Hotelbetriebs-AG alle Ihre Schulden.«
»Mein Adlon soll ein Hotel in Ihrer Kette werden?« Lorenz lachte ungläubig über diesen Versuch, ihn hereinzulegen.
»In unserer Kette, Herr Adlon, unser schönstes und bestes Haus.« Koppel lüftete den Hut. »Warten Sie nicht zu lange mit Ihrer Entscheidung. Irgendwann könnte es zu spät sein, und dann ist das alles hier nichts mehr wert.«
Er schlenderte bester Laune durch die Halle zur Drehtür, als gehöre ihm das alles bereits.
Jeschke, der das Gespräch beobachtet hatte, trat neben seinen Vater. Beiden war der Ernst der Lage bewusst.
Ein paar Tage später war Lorenz Adlon zu Gast bei seinem Freund Gustaf im Kontor. Sie tranken Whisky. Draußen tobte ein Unwetter, die Blitze zuckten und erhellten in regelmäßigem Abstand für Sekunden den Raum. Donner grollte.
»Ich kann nicht mehr schlafen. Ich habe Angst, Gustaf, dass ich kurz vor dem Ziel scheitere, dass ein paar Mauern bleiben, die sich nicht mit Leben füllen lassen.« Der Alkohol half Lorenz, sich auszusprechen. »Und Seine Majestät fragt schon nach der Eröffnung.«
Gustaf füllte erneut die Gläser und resümierte gelassen:
»Das ist die Angst vor der Vollendung.«
Adlon winkte ab: »Ach, hör auf. Gerade noch halte ich den Kopf über Wasser.«
»Jetzt erschrickst du vor der Größe deines Werkes. Jetzt kommt das Zittern in den Knien, das andere schon am Anfang hindert, ihren Visionen überhaupt zu folgen.«
Die pathetischen Worte konnten Lorenz nicht beruhigen, er hielt sie für eine Aufmunterung ohne Bezug zur Realität. Lorenz trank seinen Whisky, als könnte ihm nur noch der Alkohol helfen, das alles zu überstehen.
Gustaf erhob sich. »Komm, ich will dir etwas zeigen.«
Ein weiterer Blitz zuckte und gab dem Moment etwas Magisches. Lorenz folgte seinem Freund die Eisentreppe hinunter ins Warenlager. Sie gingen zwischen den Jutesäcken und Holzkisten bis zu einem Raum in der Nähe des Eingangs. Wieder erhellte ein Blitz die Umgebung. Gustaf drehte das elektrische Licht an und öffnete die Tür. Dort ragte ein in Stoff gehüllter Turm bis zur Decke hinauf. Mit einer energischen Handbewegung zog Gustaf das Tuch zur Seite. Darunter kam ein Pagodenbrunnen zum Vorschein, in dessen Rundungen Elefanten eingearbeitet waren.
»Da ist er – der künftige Mittelpunkt deines Adlon.«
Lorenz schaute auf den Springbrunnen. Doch sein Gesicht spiegelte keine Freude.
»Bist du nicht zufrieden?«, fragte Gustaf, unsicher geworden. Sie hatten vor sehr langer Zeit über ein solches Kunstwerk gesprochen. Lorenz’ Auftrag war vage gewesen. Dennoch hatte sich Gustaf ins Zeug gelegt, teils aus eigenem Ehrgeiz, aber vor allem, um seinem Freund eine Freude zu machen.
Lorenz prüfte das Material, sein Daumen fuhr über die aufwendigen Schnitzereien.
»Wunderbare Handwerksarbeit.« Er ging um den Brunnen und aus Gustafs Blick. Dort blieb er stehen. »Meine Finanzen sind am Ende.«
»Ich habe mit dem Zwischenhändler und dem Künstler einen Kredit ausgehandelt. Die warten mit der Bezahlung«, beruhigte Gustaf seinen Freund.
»Verstehst du denn nicht? Ich habe kein Geld mehr. Das Hotel wird nicht fertig.«
Schadt wusste nur zu gut, dass sein Freund stets bis an seine Grenzen ging. Doch Scheitern war beider Angelegenheit nicht, solange es Mittel und Wege gab, das zu verhindern. Wofür waren sie einstmals aufgebrochen und hatten sich aus der Enge ihrer Herkunft befreit? Gustaf Schadt legte seinem Freund beruhigend die Hand auf den Arm.
»Wenn du erlaubst, werde ich dir jetzt sagen, was zu tun ist.«
Lorenz Adlon nickte müde. Da war sie, die Freundschaft, die sie all die Jahre getragen hatte. Wenn einer aufgeben wollte, kam der andere und zog ihn mit.
»Koppels Angebot ist ein sicheres Zeichen dafür, wo du wirklich stehst. Nämlich kurz vor dem Sieg!«
Lorenz wollte die Worte seines Freundes als wohlmeinende Schönrederei abwehren. Doch Gustaf fuhr unbeeindruckt fort.
»Wir werden die Berliner Weggefährten zusammenholen. Die alte Unternehmerrunde. Ich bin überzeugt, dass deine Situation ihren Ehrgeiz und ihre Solidarität herausfordert.« Gustaf fühlte, während er sprach, Begeisterung in sich wachsen. »Und noch etwas! Bevor wir uns Verbündete suchen, musst du deine Familienverhältnisse ordnen. Sieh zu, dass dein Jeschke gut versorgt wird, weit weg von der Hauptstadt.«
»Ich soll meinen fähigsten Sohn in die Provinz schicken?«, protestierte Adlon.
Gustaf duldete keinen Widerspruch.
»Dann führst du deinen Louis in die Geschäfte des neu eröffneten Hauses ein. Das Adlon gehört in die Hände der Familie Adlon. Da hat ein Jeschke keinen Platz und die Journaille keinen Anlass mehr für Spekulation.« Gustaf klopfte Lorenz Adlon auf die Schulter. »Und mach dir keine Sorgen um die Finanzen. Solange ich beitragen kann, tue ich das. Was ist also mit dem Brunnen? Gefällt er dir?«
Lorenz zögerte nun nicht mehr. Er war wieder hellwach. Der Vorschlag seines Freundes war kühn und nicht von der Hand zu weisen.
»Der Springbrunnen wird der Mittelpunkt meines Adlon sein«, entschied er und setzte seinen Rundgang um das Kunstwerk fort.
»Wann, glaubst du, werden die Adlons alles zurückzahlen, was du ihnen aus deiner Tasche vorstreckst? Nicht einmal einen Schuldschein hast du dafür«, schimpfte Ottilie mit Gustaf und sah, wie Alma Sonja eine Scheibe Brot mit Konfitüre bestrich und auf den Teller legte. Alma hatte den Moment genutzt, in dem ihre Mutter abgelenkt war. Sonja aß gern, was Alma ihr auf den Teller legte. Bald würden sie sich nicht mehr verstecken müssen, dachte Alma. Bis zur Hochzeit mit Siegfried waren es nur noch wenige Wochen. Nach der Hochzeitsreise würde sie Sonja zu sich holen. Der Papa hatte es ihr so versprochen. Alma verbat sich, darüber nachzudenken, ob und wie sie sich ihrer Mutter gegenüber durchsetzen wollte.
Gustaf trank seinen Kaffee aus, er hatte es eilig, ins Kontor zu kommen.
»Wenn das Hotel läuft, werden sich meine Investitionen verdoppeln und verdreifachen. Verlass dich drauf, Ottilie.«
Er schmiss die Serviette auf den Tisch und stand auf. Sein Geld in einer Immobilie anzulegen konnte nicht verkehrt sein. So würde er es auch den Investoren für das Adlon schmackhaft machen, die er für Anfang des Monats in seine Villa eingeladen hatte.
Fast alle Berliner Unternehmer hatten zugesagt. Ihre Kutschen und Automobile, die in der Auffahrt der schadtschen Villa standen, zeigten Vermögen und Status.
Die Herren betraten neugierig das Haus, wo eine Vielzahl zum Teil angemieteter Dienstboten die Herrschaften empfing und ihnen die schweren Mäntel und Hüte abnahm. Die Türen zum Salon, zum Esszimmer, zur Bibliothek und zu Gustafs Arbeitszimmer standen weit offen, sodass alle Platz fanden. Getränke wurden gereicht und Zigarren. Man sah erfreut den einen oder anderen Bekannten und kam schnell miteinander ins Gespräch.
Zur gleichen Zeit ließ sich Lorenz Adlon den Kaiserdamm bis zur Heerstraße und wieder zurückfahren. Immer wieder schaute er nervös auf seine Uhr. Gustafs Plan sah vor, dass der Hotelier wie ein Ehrengast in letzter Minute auftauchte.
»Mit frischem Wind, der deinen Enthusiasmus zeigt …«
Friedrich, der in den letzten Wochen das Fahren eines Automobils gelernt hatte, saß am Steuer und genoss die lange Tour. Gewöhnlich verliefen die Fahrten nur zwischen dem Continental in der Friedrichstraße, den Restaurants am Kurfürstendamm und der Baustelle am Brandenburger Tor.
Mit Gongschlag trafen sie vor der schadtschen Villa ein. Gustaf kam ihnen entgegen und begrüßte seinen allzu nervösen Freund mit einem strahlenden Lächeln.
»Es wird nichts schiefgehen, Lorenz. Das ist heute dein Tag.«
Friedrich suchte eine Lücke für den Wagen. Doch alle Plätze in der Nähe des Einganges waren bereits belegt. Das gab ihm die Gelegenheit, zum Hintereingang des Anwesens zu fahren. Er schaute auf die Mauer, das kleine schmiedeeiserne Gartentor und die Remise, die einstmals sein Zuhause gewesen war. Drei Jahre war er nun nicht mehr hier gewesen.
Die Diener reichten Kaffee, Portwein, Whisky und Rotwein. Der Rauch der Zigarren erfüllte die Luft. Wie verabredet betrat Lorenz Adlon die Szene mit wehendem Mantel, den ihm ein Diener im Gehen abnahm. Er schüttelte Hände, die meisten Männer waren ihm gut bekannt.
Schadt klopfte an sein Glas.
»Meine Herren, ich brauche Ihnen meinen Freund Lorenz Adlon nicht vorzustellen, die meisten kennen ihn fast genauso gut wie ich. Allerdings liegt meine Betonung auf ›fast‹, denn Adlon und ich kennen uns seit Kindertagen. Wir sind in Mainz Hauswand an Hauswand aufgewachsen, hatten dieselben Lehrer und haben uns oft am selben Tag eine Backpfeife eingefangen. Doch es geht heute nicht darum, in alten Erinnerungen zu schwelgen, obwohl wir alle sicher genügend Anekdoten im Gepäck hätten.« Man lachte vergnügt. »Heute geht es ums Geschäft. Sie alle haben die Möglichkeit, sich in einer großartigen Unternehmung zu verewigen.«
Er erteilte Lorenz mit einer Handbewegung das Wort und setzte sich, um der Rede des Freundes zu folgen. Es wurde still.
»Ich freue mich, dass Sie mir und meiner Vision die Ehre geben, meine Herren, und deshalb erlauben Sie mir, dass ich nicht um den heißen Brei herumrede. Seine Majestät wünscht sich ein Hotel, das seinesgleichen auf der Welt sucht. Im Adlon soll alles verkehren, was Rang und Namen hat. So die Forderung Seiner Majestät. Sie alle sind eingeladen, Teil dieser einzigartigen Unternehmung zu werden und deutsche Schaffenskraft, deutsche Größe im Geist einer neuen Zeit zu verewigen. Die technische Ausstattung wird alles Bisherige in den Schatten stellen. Fließend warmes und kaltes Wasser in jedem Zimmer, Zentralheizung selbstverständlich, elektrische Staubsaugersysteme, Rohrpost im ganzen Haus, ein eigenes Elektrizitätswerk und einen Eiskeller, dazu ein Brunnen für die Wasserversorgung. Meine Herren, Sie haben die Möglichkeit, in ein Haus zu investieren, das Berlin in neuem Glanz erstrahlen lässt. Ich brauche Ihren Kredit für zwei Jahre. Danach ist Zeit für die Kasse.«
Adlon und Schadt verständigten sich mit einem Blick. Gustaf stand auf und übernahm das Wort.
»Es wird benötigt: weiße Wäsche im gesamten Haus, bestickt mit Monogramm. Tafelsilber, Silberbestecke, Porzellan, Karaffen, Krüge, Möbelbezugsstoff, Bettgestelle, die gesamte Kücheneinrichtung, Tapeten für alle Räume, Möbel für die Inneneinrichtung, Lampen und Beleuchtung. Und nicht zuletzt müssen sich die Speisekammern mit Delikatessen füllen.«
Schadt reichte eine Liste herum und gab seinen Rechtsanwälten mit einem Wink zu verstehen, den Geschäftsmännern die Vertragsklauseln zu erläutern.
Während drinnen Geschäfte gemacht wurden, standen draußen auf dem Hof die Kutscher und Chauffeure, rauchten und unterhielten sich.
Abseits vom allgemeinen Trubel ging Friedrich zur Remise und schaute durch die inzwischen blinden Fenster. Da hörte er eine Kinderstimme. Er ging ums Haus. Im Garten spielte das Kinderfräulein mit Sonja Blindekuh.
Die Augen mit einem Tuch verbunden, suchte Sonja mit vorgestreckten Händen und stieß auf Friedrich. Sie befühlte den groben Stoff seiner Hose.
»Wer bist du denn?«, fragte sie überrascht und zog sich das Tuch von den Augen.
Friedrich ging vor Sonja in die Hocke. »Ich bin Friedrich.«
»Das ist aber unser Garten«, beharrte Sonja gegenüber dem fremden Mann.
»Ich habe hier auch einmal gespielt.«
Friedrich war beeindruckt von dem kleinen Wesen, das ihm doch schon ein vollkommener Mensch zu sein schien.
»Warum denn?« Sonja blieb skeptisch.
»Weil ich hier gewohnt habe. Da, in der Remise.«
Das Kinderfräulein, das erst weit nach Sonjas Geburt zu den Schadts gekommen war, aber schon das eine oder andere Gerücht gehört hatte, ging dazwischen.
»Komm, Sonja«, sagte sie und zog das Kind eilig fort.
»Er soll mitkommen und mit uns Tee trinken«, protestierte Sonja und zeigte auf Friedrich. Sie wollte ihn nicht so schnell gehen lassen, wo sie ihn doch gerade kennenlernte. Aber das Kinderfräulein nahm Sonja auf den Arm und trug sie zum Haus. Sonja machte sich steif und begann zu schreien.
»Ich will aber nicht … ich will nicht …!«
Alma hatte die Szene vom Fenster aus beobachtet und kam gelaufen.
»Bist du denn von allen guten Geistern verlassen, Fritz? Was machst du hier?«
»Sie sieht dir ähnlich.«
Sie zögerte. »Dir auch.«
»Findest du?«, fragte Friedrich überrascht.
Almas Stimme wurde weicher. »Und manchmal, wenn sie lacht, dann sehe ich dich.«
Sie schauten sich an und bemerkten jeder für sich, dass sie erwachsen geworden waren.
»Ich weiß jetzt, was Geld bedeutet.« Friedrich drehte seine Mütze zwischen den Händen.
Alma wollte abwehren. Er sollte sich nicht schuldig fühlen. Doch Friedrich fühlte sich keineswegs schuldig.
»Geld ist Freiheit. Der eine darf entscheiden, der andere muss sich unterordnen und ist nicht würdig, sein Kind selbst zu erziehen.«
»Was meinst du, wie es mir hier geht«, wehrte sich Alma. »Mutter bestimmt, was mit Sonja passiert. Sie sorgt dafür, dass ich nie mit ihr allein bin. Und mich behandelt sie wie ein dummes Kind. Bald bin ich hier raus. Und dann, Friedrich, dann liegt doch alles vor uns.«
Die letzten Worte hatte Alma in großem Aufruhr gesagt, und sie klangen ehrlich. Doch Friedrich wusste es längst besser.
»Ja«, sagte er und schaute sie an. Sie erwiderte seinen Blick und verstummte.
Aus dem Haus war Applaus zu hören.
»Alles Gute für die Hochzeit, Alma.« Friedrich griff in seine Jackentasche und holte ein kleines in Seidenpapier gewickeltes Päckchen heraus. »Für Sonja zum Geburtstag. Gibst du es ihr?«
Alma nickte. Das Papier knisterte in ihrer Hand. »Was ist es denn?«
»Ihr werdet es dann sehen. Leb wohl!«
Friedrich wollte nicht länger bei ihr stehen. Er ging zurück zur Straße, wo der Wagen parkte.