Читать книгу Der Regent II - Roland Bochynek - Страница 10
Luna A
ОглавлениеBeatriz Morrell war nicht begeistert. Zwar wurde schon offiziell bekannt gegeben, dass sie das Kommando über die erdnahe Raumstation Terra I abgibt. Aber ihre zukünftige Aufgabe, die Leitung auf Luna A zu übernehmen, war eigentlich für frühestens in einem Jahr geplant. Die neue Station war noch im Bau. Das war selbst für Gäa ein Mega-Projekt. Außerdem fühlte sie sich hier auf Terra I wohl. Hier kannte sie sich aus. Schließlich hatte sie den Posten seit deren Inbetriebnahme inne. Die Station war überschaubar.
Terra I war eine Scheibe mit dreihundert Metern Durchmesser und hundert Metern Höhe. Hauptsächlich war sie ein Umschlagplatz für Rohstoffe und Produkte, die man von der Erde per Transmitter hochschickte, um sie von hier aus zu den Verbrauchsstellen weiterzugeben. Benötigt wurden die Güter fast ausschließlich auf den Raumschiffen. Die gesamte Flotte versorgte man auf diese Weise.
Im Gegenzug verschickte man gewonnenes Neutralium nach Gäa. Damit vermied man häufige Starts und Landungen auf der Erde. Sie hätten mit der Zeit die Schichten der Stratosphäre zu sehr verwirbelt. Die Konsequenzen für das irdische Klima waren selbst für Nathan nicht vorhersehbar. Also vermied man es, soweit es möglich war. Eine Werft für Wartung, Reparatur und Neubau der Schiffe gab es auch auf der Station.
Es war schon ein reger Betrieb hier oben. Nahezu hundert Raumschiffe flogen mit den unterschiedlichsten Aufgaben durch das Sonnensystem. Die meisten erfüllten Forschungsaufträge, nicht wenige dienten als Ernter zur Gewinnung von Neutralium. Sie versorgten Gäa, die Raumstation und die anderen Schiffe mit diesem Energie- und Rohstofflieferanten.
Während der Bauzeit von Luna A war Terra I bis an seine Grenzen ausgelastet. Es gab eine Menge Material, das einfacher auf der Erde produziert und dann in den Weltraum geschickt wurde, als hier vor Ort zu fertigen. Meistens handelte es sich um Teile, für dessen Produktion ein hoher Personaleinsatz erforderlich war.
Obwohl es kein Problem darstellte, im erdnahen Orbit zu arbeiten, scheuten sich doch sehr viele Menschen davor. Dabei gab es kaum einen Unterschied zu Arbeitsplätzen auf der Erde. Es existierte künstliche Schwerkraft und durch die Transmittertechnik war man in Nullzeit wieder zu Hause. Für eine große Anzahl Menschen kam der Fortschritt eben doch zu schnell. Das sah man auch an dem Verhalten der Bevölkerung in den nördlichen Ländern, die nicht zu Gäa gehörten. Dort gab es sogar Sekten, die ihren Lebenszweck darin sahen, alle technischen Errungenschaften Gäas als Lügen oder Teufelszeug abzutun.
Mittlerweile hatte sich die Situation auf den beiden Stationen verändert. Die Transmitterverbindung zwischen Erde und Luna A war endlich in Betrieb. Dadurch reduzierte sich die Hektik auf Terra I. Das merkte auch Morrell am Rückgang ihres eigenen Arbeitsvolumens. Jetzt hätte sie hier wieder einen etwas ruhigeren Posten. Aber nicht mehr lange. Aus irgend welchen Gründen sollte sie das Kommando auf Luna A sofort antreten. Ihr gefiel es überhaupt nicht, eine Baustelle zu übernehmen. Ingenieure wären dafür doch sicher geeigneter.
Niemand erklärte ihr, warum die Station vorzeitig in Betrieb genommen wurde. Es solle sich um ein geheimes Sicherheitsprojekt handeln, mehr würde sie erfahren, wenn sie dort angekommen war. Schweren Herzens machte sie sich mit einem Koffer voll persönlicher Sachen auf den Weg zum Transmitter. Ihren Nachfolger hatte sie schon eingewiesen. Der Abschied von ihren Freunden und Kollegen dauerte auch nicht lange.
Nach einem kurzen, etwas wehmütigen Blick zurück, trat sie durch das Transmittertor. Damit tat sie einen wahren Riesenschritt. Zeitlos überwand sie etwa 300.000 Kilometer, eine ganze Lichtsekunde. Während Terra I auf einer geostationären Umlaufbahn, also 36.000 Kilometer von der Erde entfernt flog, stand Luna A im Zentrum von L1. Das war der Librations- oder auch Lagrange-Punkt 1 zwischen Erde und Mond. Der Ort, an dem sich die Anziehungskräfte beider Himmelskörper gegenseitig aufhoben. Er lag 321 000 Kilometer von der Erde entfernt, also salopp ausgedrückt, kurz vorm Mond.
Insgesamt gab es fünf solcher Punkte. L2 lag hinter dem Mond, dort, wo sich die gemeinsame Schwerkraft von Erde und Mond durch die Fliehkraft des Orbits aufhob. L3 lag hinter der Erde, also in entgegengesetzter Richtung. L4 und L5 lagen auf der lunaren Umlaufbahn, jeweils von der Erde aus gesehen sechzig Grad vor und hinter dem Mond. Diese Langrange-Punkte boten sich natürlich an, um dort Objekte antriebslos zu stationieren. So hatte Gäa schon Forschungsstationen und Observatorien an L3, L4 und L5 stationiert. Nur L2 wurde noch nicht genutzt. Schließlich war die Kommunikation dorthin schwierig, weil der Punkt im Funkschatten des Mondes lag. Wer wollte auch schon freiwillig hinterm Mond leben?
Morrell schaute sich verwundert an ihrer neuen Wirkungsstätte um. Überall herrschte eine hektische Betriebsamkeit. Niemand beachtete sie. Das war schon bemerkenswert. Normalerweise fiel sie allerorten auf. Mit ihrer großen, stattlichen, aber doch sehr femininen Erscheinung hatte sie meistens die Aufmerksamkeit auf ihrer Seite. Nur hier schien jeder voll und ganz mit seiner Aufgabe beschäftigt zu sein.
„Auch gut“, sagte sie sich, „allein mit einem süßen Augenaufschlag kommt man hier nicht weiter, gut zu wissen.“ Dem Grunde nach war ihr das sogar recht. Schon oft hatte man ihr, wegen ihrem attraktiven Aussehen, die Führungsfähigkeiten, die sie zweifelsfrei besaß, nicht zugetraut. Nur Nathan war in der Sache neutral, wen wundert’s. Sie aktivierte den Navigationsmodus ihres Kommgerätes und ließ sich zu ihrem neuen Büro leiten.
Die Kommandoübergabe war schlicht und einfach. Sie wurde bereits vom Projektleiter, der für den technischen Aufbau der Station verantwortlich war, erwartet. Gemeinsam riefen sie die entsprechende Routine des Stationscomputers auf, der alle Berechtigungen auf sie übertrug. Damit hatte sie jetzt das Kommando. Der Projektleiter war sichtlich froh, dass von nun an jemand anderes die Gesamtverantwortung trug und er sich mehr seiner ursprünglichen Aufgabe widmen konnte. Er machte sich auch sehr schnell wieder aus dem Staub.
Morrell richtete sich erst einmal häuslich ein. Ihre privaten Räume grenzten unmittelbar an das Büro. „Praktisch“, bemerkte sie, „so ne Art Heimarbeitsplatz.“ Nach einer Tasse Kaffee verschaffte sie sich mithilfe des Computers einen Überblick über den Baufortgang und Zustand der Station. Dann stellte sie sich mit einem Rundschreiben bei allen Stationsmitarbeitern vor. Auf eine Personalversammlung verzichtete sie, das fand sie bei der allgemeinen Hektik nicht sinnvoll. Das wird sie später nachholen. Schließlich rief sie Nathan an, um endlich zu erfahren, was hier gespielt wurde.
„Ihr werdet auf Luna A einen außergewöhnlichen Gast beherbergen“, war Nathans Antwort. „Aber es handelt sich nicht um eine Person, sondern um ein Artefakt. Es wurde im Asteroidengürtel gefunden. Alan Forster ist mit der Ernter XV auf dem Weg zu euch. Er hat es entdeckt und bringt es mit. Eure Aufgabe lautet, das Teil sicher unterzubringen und dessen wissenschaftliche Untersuchung zu unterstützen. Ich werde dir alle Informationen, die ich über das Objekt besitze, zusenden. Bis auf Widerruf läuft die Aktion unter strengster Geheimhaltung.“ Unmittelbar danach erhielt sie eine Datei mit Sicherheitsmerkmalen der höchsten Stufe.
Jetzt, nachdem Morrell wusste, worum es ging, stürzte sie sich sofort auf ihre Arbeit. Die Logistik war kein Problem, die funktionierte dank der Transmitter einwandfrei. Die Schwierigkeit lag bei der Organisation. Wegen der provisorischen Inbetriebnahme musste erst mal festgelegt werden, was nicht benötigt würde. Für den erforderlichen Rest war dann ein Ablaufplan vonnöten, damit sich die einzelnen Aufbaukolonnen nicht gegenseitig behinderten. Morrells Vorgänger hatte schon gute Arbeit geleistet. Sie brauchte nur ein paar Kleinigkeiten zu ergänzen. Dann kam die nervige Aufgabe, darauf zu achten, dass sich sämtliche Teams an den Plan hielten. Schließlich sah auch im fortschrittlichen Gäa jeder seine eigene Aufgabe als die wichtigste an. Es würde noch einige Besprechungen mit den einzelnen Projektleitern geben, bis alles so liefe, wie sie es sich vorstellte.
Von nun an rief sie täglich den Gesamtplan von Luna A auf, um den darin gekennzeichneten Fortgang zu kontrollieren. Immer wieder staunte sie beim Anblick des Plans über die Dimensionen der Station.
Luna A hatte die Form eines Kegelstumpfes. Ihr größter Durchmesser betrug eintausendfünfhundert Meter. An der Spitze waren es noch zweihundert. Das ganze Gebilde war zwei Kilometer lang. Die große Grundfläche diente als Landeplattform für Raumschiffe. Für alle bisher gebauten und geplanten Schiffe bis zu zweihundert Meter gab es verschließbare Schächte, die ins Innere führten. Die Schachtböden dienten als Hangars und gleichzeitig als Werften. Das ermöglichte Reparaturen oder Neubauten unter Atmosphärendruck. Die Oberfläche der Station wurde ebenfalls zum Andocken genutzt. Dazu gab es noch eine Vielzahl von Andockstellen, die über die Seitenflächen verteilt waren. Das Innere von Luna A glich einer Großstadt. Wohnbereiche wechselten mit Forschungsstationen ab. Dazwischen fand man Fabrikationsanlagen für alle möglichen Zwecke.
Dies war auch der Hauptgrund, warum Luna A gebaut wurde. Hier sollten einmal Produkte entstehen, für deren Herstellung ein hoher Energieaufwand erforderlich war. Nathan hatte festgestellt, dass durch den hohen Energieverbrauch auf der Erde zu viel Materie verbraucht würde. Einer der wenigen Nachteile des Neutraliums, bei der Umwandlung in Energie geht dem Planeten Masse verloren. Langfristig gesehen kann dieser Masseverlust die Erdrotation und Umlaufbahn um die Sonne beeinflussen.
Natürlich würde sich das in den nächsten fünfhundert Jahren noch nicht bemerkbar machen, aber Nathan dachte in anderen Dimensionen. Die Schwerindustrie sollte auf jeden Fall in absehbarer Zeit in Luna A beherbergt werden. Dafür wurde die Station auch so ausbaufähig konzipiert. Das war effektiver, als das im Asteroidengürtel gewonnene Neutralium erst zur Erde zu schicken, um dann die fertigen Produkte wieder in den Weltraum zu befördern. Hier gab es nämlich wesentlich mehr Bautätigkeit als in Gäa selbst.
Die Kegelform war aber nur der Anfang. Das kleinere Ende diente dazu, später eine gleich große Zwillingsstation daran anzubauen. Schon jetzt hatte Luna A den Spitznamen „Halbes Jojo“. Die Spitze nannte man den Umkehrpunkt. Dort würde es einen Bereich mit Schwerelosigkeit geben. Überall sonst herrschte künstliche Schwerkraft. Damit trennte man die beiden Gravitationssphären, wenn der zweite Teil, Luna B genannt, hier angebaut war. Aber das würde noch nicht alles sein. Im Endausbau konnten bis zu sechs solcher Kegel durch den zentralen Andockpunkt verbunden werden. Vergeblich versuchte Morrell abzuschätzen, wie viele Menschen einmal hier wohnen und arbeiten würden. Außer Nathan wusste das wohl niemand, schließlich war er es, der die Pläne für die Station entwarf.
Ein so großes Gebilde ließ sich nur äußerst schwer und nur mit sehr hohem Energieaufwand bewegen, deshalb hatte es Nathan der Einfachheit halber an L1 aufgehängt. Außerdem bestand so keine Gefahr, dass Gezeitenkräfte die Struktur beeinflussten. Natürlich wurden auch Triebwerke in die Station eingebaut. Aber obwohl diese gewaltige Ausmaße hatten, dienten sie doch nur zur Lagekorrektur. Für ein Versetzten an einen anderen Standort war das Gebilde nicht konstruiert.
Im Moment war der größte Teil der Station leer. Äußerlich sah alles schon fertig aus, aber im Inneren würde man noch Jahre daran arbeiten, um die Räumlichkeiten komplett fertigzustellen. Zur Zeit konzentrierten sich die Anstrengungen auf die Landeplattform und die angrenzenden Räume. Am Rest von Luna A würde nur dann weiter gebaut, wenn die Sonderaktion Ressourcen übrig ließ. Bis Forster hier eintraf, musste mindestens ein Hangar für das Schiff in Betrieb sein. Dazu auch die entsprechenden Labors, die zur Untersuchung des Artefaktes dienten. Natürlich durfte die weitere Infrastruktur nicht fehlen. Schließlich rechnete man mit Dutzenden von Wissenschaftlern. Auch würde mindestens genauso viel Hilfspersonal benötigt. Das erforderte entsprechende Unterkünfte und Verpflegungsstationen. In den nächsten Wochen war noch eine Menge zu erledigen.