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Der Alte

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Am Rande von Vineta lag die Villa Bergers. Nathan hatte sie für ihn bauen lassen, und sie ihm zum Ruhestand geschenkt. Sie war auch ein Ersatz für das, was er damals bei der Gründung Gäas in Deutschland zurücklassen musste. Zehn Jahre lebte er nun hier. Aber seine Begeisterung für das Anwesen hatte stark nachgelassen. Er entwickelte sich mit der Zeit zu einem verbitterten alten Mann. Das fiel ihm auch selbst auf. Darüber ärgerte er sich dann umso mehr, was seine Verbitterung nur weiter steigerte. Sein jetziges Leben war für ihn zu einem langweiligen Alltagstrott geworden. Er hatte keine Aufgabe, die ihn ausfüllen würde. Um die alltäglichen Dinge kümmerte sich das Personal, ihm blieb fast nur noch die Langeweile. Zwar hatte er seinen Sport, das Bogenschießen, aber das konnte er auch nicht den ganzen Tag ausüben.

Also saß er, wie schon viel zu oft, mal wieder in seinem Park, der das Haus weiträumig umgab und ließ die Vergangenheit an sich vorüberziehen. Es gab eine Menge Erinnerungen, daran mangelte es ihm nicht. Schließlich lebte er jetzt schon einhundertsechzig Jahre. Nathan hatte damals, kurz nach ihrem Zusammentreffen, Bergers DNA mithilfe von Nanorobots manipuliert. So wurde er zwar nicht unsterblich, aber seine Lebenserwartung hatte sich dadurch mehr als verdoppelt. Er und Nathan einigten sich darauf, dass dies für ihr Vorhaben notwendig war. Nur gemeinsam waren die Widerstände zu überwinden, die sich in jenen Tagen weltweit gegen sie bildeten.

Ja, er hatte wirklich viel erlebt. Alles fing damit an, dass er seine mathematische Begabung entdeckte. Er war in der Lage, Zahlenereignisse ziemlich genau vorherzusagen. Das brachte ihm große Erfolge am Roulette-Tisch und später erst recht auf dem Börsenparkett. Ein Firmenimperium hatte er sich damit erschaffen, das die Welt noch nicht sah. Bereits von Anfang an setzte er in seinen Unternehmen auf soziale Verträglichkeit. Ausbeutung wie Leiharbeit, Lohndumping oder Outsourcing waren für ihn tabu. Dafür gab es Betriebskindergärten, Sportvereine und Gewinnbeteiligungen für die Mitarbeiter. Die Leute rissen sich um Arbeitsplätze in seinen Firmen.

Dann kam das Ereignis, das sein ganzes Leben verändern würde. Sein Forschungsprojekt, eine künstliche Intelligenz auf Quantenbasis zu bauen, entwickelte sich zur Pleite. Die aufgebauten Strukturen reagierten nicht oder kamen womöglich gar nicht zustande. Berger rettete das letzte Versuchsobjekt, einen Siliziumwürfel, vor der Verschrottung und nahm ihn zum Andenken mit nach Hause. So hatte er wenigsten einen außergewöhnlichen Briefbeschwerer. Sein Erstaunen war groß, als dieser Würfel anfing, mit ihm zu kommunizieren. Das Projekt war gar nicht so erfolglos, es fehlten nur die passenden Schnittstellen zu dem Quantenprozessor. Die hatte sich die KI mit der Zeit selbst eingerichtet. Nathan war damit geboren.

Bergers Leben änderte sich total, nachdem er mit Nathan eine Symbiose einging. Seither waren beide direkt über ein Netzwerk miteinander verbunden. Ungeahntes Wissen und Informationen standen ihm jetzt zur Verfügung. Im Gegenzug machte sich Nathan die Charaktereigenschaften Bergers zu eigen. Ein Glücksfall für die gesamte Menschheit. Beide gründeten später den Staat Gäa im Westen Afrikas. Ein sehr erfolgreiches neues Konzept für friedliches Zusammenleben unterschiedlichster Völker. Heute erstreckt sich Gäa über den gesamten südlichen Erdball. Afrika, Süd- und Mittelamerika, Australien, Indonesien sowie eine Menge weiterer ehemaliger Inselstaaten gehörten dazu. Der ganze Staat wurde von Nathan regiert. Durch die sinnvolle und humane Gesetzgebung, gepaart mit den fortschrittlichsten technischen Errungenschaften lebte man in Gäa wirklich wie im Paradies. Niemand musste arbeiten, aber die meisten taten es freiwillig.

Das Währungssystem wurde revolutioniert. Es gab eine großzügige Grundversorgung und zusätzlich leistungsgerechte Entlohnungen. Dafür schaffte man Spekulationsgewinne ab. Die Schere zwischen Arm und Reich wurde geschlossen, ohne die gleichen Fehler wie beim Kommunismus zu machen.

Der Aufbau Gäas war gewiss nicht leicht. Einfach alles musste neu durchdacht und organisiert werden. Nathan nannte es damals einen Jahrhundertplan. Womit er schließlich ja auch recht behielt. Die erste große Krise kam mit dem Angriff der USA auf Gäa. Man versuchte, den Wirtschaftskonkurrenten zu zerstören und sich seine technischen Errungenschaften anzueignen. Aber da hatte der damalige US-Präsident Forster die Rechnung ohne Nathan gemacht. Gäa war bereits so fortschrittlich ausgerüstet, dass die US-Armee sozusagen im Handstreich vernichtend geschlagen wurde. Es war der erste Krieg, der dank Nathans Technologie absolut unblutig ablief. Keiner der Kontrahenten hatte Menschenopfer zu beklagen. Nur die Waffen und andere militärische Ausrüstungsgegenstände wurden zerstört. Sogar das gesamte Atomwaffen-Arsenal der USA konnte ohne Gefährdung der Bevölkerung vernichtet werden. Im Laufe der Zeit schlossen sich immer mehr Staaten Gäa an. Nur die nördliche Halbkugel versuchte bis heute verzweifelt, ihre von Konzernen und deren Lobbyisten kontrollierten Regierungen zu erhalten. Ungeachtet der stetigen Völkerwanderung Richtung Gäa wurde dort noch immer der schnöde Mammon verherrlicht.

Daran zerbrach auch Berger in gewisser Weise. Frustriert stellte er fest, dass er für die nördlichen Völker nichts ausrichten konnte, außer die Grenzen für die Einwanderer offenzuhalten. Er hätte gerne noch die ganze Erde in Gäa vereint, aber er hatte nicht mit dem Starrsinn und der Machtgier der verantwortlichen Politiker gerechnet. In ihrer maßlosen Arroganz verweigerten sie der Bevölkerung sämtliche Errungenschaften Gäas. Da zählte auch nicht, dass deren Einwohner, aufgrund des besseren Lebensstandards und medizinischen Versorgung mittlerweile ein Jahrzehnt länger lebten als ihre nördlichen Nachbarn.

Frustriert traf Berger vor zehn Jahren die Entscheidung, sich zurückzuziehen. Dabei war ihm auch voll bewusst, dass er damit seine bisherige Langlebigkeit aufgab. So war es von Anfang an vereinbart. Nathan sorgte in dieser Weise für die wichtigen Personen im Staat. Aber mit dem Austritt aus dem Staatsdienst endete auch dieses Privileg. Dann deaktivierte Nathan die lebensverlängernden Nanorobots. Allerdings konnten sich die Menschen auf einen sehr langen Lebensabend freuen, wurden sie doch bei absolut bester Gesundheit in den Ruhestand verabschiedet. Berger hätte man damals für etwa sechzig Jahre gehalten. Offensichtlich war es ein psychisches Problem, die Vielzahl von Erlebnissen eines so langen Lebens zu verkraften. Beinahe alle seiner Mitstreiter aus den ersten Tagen Gäas wählten bereits vor ihm diesen Weg. Er war schon damals der Dienstälteste. So war er mit hundertsechzig Jahren auch heute der älteste Mensch der Welt. Wahrscheinlich hatte er die Belastungen besser ertragen, weil er ständig mit Nathan verbunden war. Vielleicht hatte dieser im Hintergrund bei Berger etwas nachgeholfen.

Bergers Erlebnisse füllten ganze Bücherregale. Schließlich war er rund dreimal so lange aktiv wie andere Menschen. Er musste an Emma denken. Emma Rocco-Masters hatte nicht nur seine Biografie geschrieben, sondern auch die Entstehungsgeschichte von Gäa dokumentiert. Unzählige Tage saßen sie damals zusammen bis alles erzählt und erläutert war. Wehmütig dachte er an die Zeit zurück. An seine alten Kampfgefährten der ersten Stunde. An Rocco, der das kleine Waisenmädchen Emma aus den Fängen eines Warlords befreite und später adoptierte. Dann war da noch Scherer, sein Geschäftsführer, der lange Jahre sein Imperium, die All-Invest AG leitete. Oder Ali Al Houcha, sozusagen Gründungsmitglied von Gäa, der Einzige aus dem Team, der heute noch aktiv war. Nicht zuletzt Masters, der später Emma heiratete. Er wurde vom US-Geheimdienst zum Spionieren und Sabotieren nach Gäa geschickt. Berger, der dank Nathan über alles und jeden Bescheid wusste, hatte ihn nicht nur sofort enttarnt, sondern auch von den Vorzügen Gäas überzeugt. Masters wechselte die Seiten und übernahm später sogar die Leitung der staatlichen Sicherheitsabteilung.

Aber es half nichts, die turbulenten Zeiten waren vorbei. Jetzt gab es nur noch Leere und Langeweile in Berger. So hatte er sich sein Rentnerdasein nicht vorgestellt. Eigentlich erging es ihm wie den meisten Menschen. Viel Arbeit ist oft unangenehm, aber erst, wenn sie fehlt, weiß man, welche Erfüllung man darin fand.

Seufzend erhob er sich, nahm seine Bogenausrüstung und schlenderte zum Schießplatz. Eigentlich wäre es ihm mit dieser Ausrüstung möglich, überall zu schießen. Dafür bräuchte er nur den Projektor aufzustellen und die gewünschte Entfernung auszuwählen. Dann wurde im gewählten Abstand ein Schutzschild aufgebaut, der nicht nur die Pfeile festhielt, sondern auch Unbeteiligte vor Fehlschüssen schützte. Die Zielscheibe wurde gleich an die passende Stelle projiziert. Berger hatte aber dafür seinen Lieblingsplatz am äußeren Rand des Parks ausgewählt. Dort war er durch Palmen vor der Sonne geschützt und gleichzeitig weit genug von Besuchern und Personal entfernt. In aller Ruhe baute er den Bogen auf und begann, wie nahezu jeden Tag, mit seinen Schießübungen. Der gesundheitliche Aspekt des Sports interessierte ihn nicht so sehr. Für ihn war es eine Meditation. Vollkommen auf den Bewegungsablauf und die körperliche Spannung konzentriert, vergaß er sein Umfeld und seine Sorgen. Umso ungehaltener reagierte er auf die Störung, die in Form eines alten, bärtigen Greises auf ihn zukam.

Als er dann erkannte, dass niemand außer ihm diesen Mann sah, war er völlig aufgewühlt. Er war sich selbst nicht im Klaren darüber, ob er sich freuen oder ärgern sollte. Wie auch immer, der Besuch brachte Abwechslung in sein Leben. Seit nahezu zehn Jahren hatte er keine solche Verbindung mehr aufgebaut. Er glaubte sogar, dass diese Art der Kommunikation auf Dauer abgeschaltet wäre. „Hallo Nathan, welch hoher Besuch. Was führt dich zu mir? Muss ich wieder mal die Welt retten?“

Wie ich sehe, geht es dir gut, zumindest körperlich.“ Berger wusste, dass alles, was er von Nathan sah und hörte, direkt in sein Gehirn projiziert wurde. Hatte er doch über hundert Jahre auf diese innige und sehr intime Art mit Nathan kommuniziert. Jetzt fehlte ihm aber die Übung, um das Gespräch auch auf seiner Seite lautlos zu führen. Glücklicherweise sah ihn niemand, wie er einfach so in die Luft redete. Man hätte sicher den Gesundheitsdienst für den armen alten und offensichtlich senilen Mann gerufen.

„Du liegst mit Deiner Frage nicht ganz falsch. Ich könnte echt Hilfe gebrauchen. Ich habe ein paar beunruhigende Informationen erhalten. Es kommen Ereignisse auf uns zu, die die Mobilisierung aller Kräfte erforderlich machen könnten.“

„Na, du übertreibst wohl wieder. Hörst du irgendwo das Gras wachsen, oder suchst du nur eine Beschäftigung für einen gelangweilten alten Mann?“ „Zum Teil hast du Recht, natürlich beobachte ich dich in regelmäßigen Abständen. Dabei habe ich festgestellt, dass du in letzter Zeit mental nicht sehr gut drauf bist. Du könntest wirklich Abwechslung gebrauchen. ...Und ich vermisse meinen alten Partner.“

„Das hat mir gerade noch gefehlt, ein sentimentaler Taschenrechner!“

„Es freut mich, dass dir wenigstens dein Humor geblieben ist. Aber es stimmt, ich brauche dich. Eine Person, der ich hundertprozentig vertraue.“ „Du hast doch meinen Nachfolger“, versuchte Berger halbherzig abzuwehren. Er fand sich auf die Schnelle nicht damit ab, noch mal aktiv in das Weltgeschehen einzugreifen. „Deine Erben, es sind übrigens drei, für jeden Kontinent einen, leisten Hervorragendes. Aber sie werden dort gebraucht, wo sie jetzt sind. Außerdem habe ich dich wegen der besonderen Bindung zwischen uns ausgewählt. Du weißt ja, dass ein Teil von dir auch in mir steckt. Das wäre bei der geplanten Aktion von großem Nutzen.“

Nun, ganz gleich, welche Aufgabe du für mich hast, ich brauche Bedenkzeit. Du weißt ja, dass du dich im Moment mit einem alten, senilen Tattergreis unterhältst.“ „Überlege es dir ein paar Tage. Unabhängig davon, ob du mitmachst oder ich einen anderen suchen muss, brauchen wir noch Monate für die Vorbereitung. Ich lasse die Netzverbindung zu dir aktiv, nutze sie, um Fragen zu stellen und mir deine Entscheidung mitzuteilen.“

Dieses Gespräch verhalf Berger zu einigen schlaflosen Nächten. Aber auch tagsüber ließ ihn das Thema nicht los. Er kam aus dem Grübeln nicht mehr heraus.

„Jetzt ist Schluss! Das halte ich nicht länger aus. Ich mache mit, egal welche Abenteuer auf mich zukommen! Was soll ich in meinem Alter denn noch fürchten?“ Berger rief Nathan an und sagte zu. Als dieser ihm dann offenbarte, um was es ginge, waren auch die letzten Zweifel verflogen. Bei so einer Aktion musste er unbedingt dabei sein. Da bereute er seinen Entschluss auf keinen Fall, wenigstens vorerst.

Der Regent II

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