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Die lange Treibjagd

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Es dauerte nicht lange, und Yoshitsune begriff endlich, daß er sich den Haß seines Halbbruders eingehandelt hatte, denn Yoritomo machte keinen Hehl aus seiner Feindseligkeit ihm gegenüber. Von dieser Erkenntnis zutiefst niedergeschlagen, zog Yoshitsune sich zurück, und sein Kampfgeist und sein Lebenswille erlahmten. Dies wirft ein bezeichnendes Licht auf das empfindsame Wesen dieser starken Kriegerpersönlichkeit.

Der erste, der ihn im Stich ließ, war Go-Shirakawa, der Kaiser im Ruhestand, der ihm zunächst seinen Schutz und seine Anerkennung hatte zukommen lassen, doch nun ohne zu zögern Partei für den politisch geschickteren Yoritomo ergriff. Letzterer war mehr denn je dazu entschlossen, dem ihm lästig gewordenen Halbbruder allen Ruhm wieder zu entreißen. In seinem Palast in Kamakura lauschte er dem gehässigen Bericht des Kajiwara-no-Kagetoki, der glücklich darüber war, sich für die Kränkung, die er durch Yoshitsune am Vorabend der Schlacht von Yashima erlitten hatte, rächen zu können. Schon bald machten Verleumdungen die Runde, deren Ziel es war, die Hochachtung, die die Mehrheit der Minamoto-Krieger Yoshitsune entgegenbrachte, zu erschüttern und ihn letztendlich zugrunde zu richten. Man brachte sogar das Gerücht in Umlauf, daß Yoshitsune plane, sich mit seinem Onkel Yukiie zu verbünden, um Kamakura zu erobern.

Yoshitsune beschloß wenige Wochen nach seiner Rückkehr nach Kyôto, sich persönlich zu Yoritomo zu begeben, um ihm zu berichten, wie die Ereignisse sich tatsächlich zugetragen hatten. Auch wollte er ihm die gefangenen Taira, die noch nicht hingerichtet worden waren, ausliefern. Doch in Koshigoe, unweit von Kamakura, übermittelte ihm ein Bote einen Befehl Yoritomos, der besagte, daß die Truppen und auch die Gefangenen ihren Weg fortsetzen sollten, daß es aber Yoshitsune selbst bis auf Widerruf strengstens untersagt sei, die Stadt zu betreten. Er gehorchte. Als ihm nach und nach die Hintergründe für das Verhalten seines Bruders bewußt wurden, verfaßte er einen langen Brief, in dem er ihm die Aufrichtigkeit seiner Absichten und seine tiefe Ergebenheit ihm gegenüber darlegte. Er erinnerte ihn an die gemeinsamen Blutsbande und appellierte an sein Mitgefühl. Dieses »Schreiben aus Koshigoe« gestattet tiefe Einblicke in die Seele dieses Mannes, der über unerschöpfliche Kräfte zu verfügen schien und der auf dem Schlachtfeld ein rücksichtsloser Kämpfer war. Hinter dieser Fassade zeigte sich ein Mensch von großer Unschuld, der den Ränkespielen seiner Gegner mit großer Naivität begegnete. Sein Brief fand kein Gehör, und er mußte sich nach Kyôto zurückbegeben, ohne von seinem Bruder empfangen worden zu sein. Also zog er sich dorthin zurück und verbrachte seine Zeit auf angenehme Weise, doch zum Müßiggang gezwungen, mit der Frau seines Lebens, Shizuka. Eines Tages wurde ihm ein Befehl Yoritomos überbracht, der ihn zum Gouverneur über die weit entfernte Provinz Iyo auf Shikoku ernannte. Doch dann wurde an seiner Stelle ein Verwalter berufen, so daß Yoshitsune weiter in Kyôto blieb.

Wenig später verlangte Yoritomo, daß Yoshitsune ihm seinen Onkel Yu­kiie ausliefere. Yoshitsune täuschte eine Krankheit vor, um dem Befehl nicht nachkommen zu müssen. Der Herr von Kamakura war außer sich vor Wut. Er beschloß, sich seines Halbbruders zu entledigen, der in seinen Augen noch immer ein Hindernis auf dem Weg zur absoluten Macht im Lande darstellte. Er entsandte den Kriegermönch Tosabo Shôshûn und mehrere Dutzend Krieger, damit diese Yoshitsune in seinem Haus in Kyôto ermordeten. Der Angriff fand in einer Nacht statt, doch Benkei und sein kleiner Trupp getreuer Anhänger waren schon seit längerem auf der Hut gewesen, und es gelang ihnen, den Angriff abzuwehren und die Häscher Yoritomos zu erschlagen. Nach diesem Mordversuch gab es für Yoshitsune keine Zweifel mehr an den Intentionen seines Halbbruders. Eine Versöhnung war undenkbar geworden, und in Kyôto war er nicht mehr sicher. Gemeinsam mit Yukiie und einigen Samurai beschloß er, in See zu stechen und zu versuchen, Verbündete zu finden. Das überraschte Yoritomo, der sich bereits Gedanken darüber gemacht hatte, was geschehen wäre, hätte Yoshitsune beschlossen, direkt auf Kamakura zu marschieren. Zweifelsohne hätten sich ihm unterwegs zahlreiche Verbündete angeschlossen. Doch obgleich Yoshitsune zutiefst gekränkt war durch das Verhalten seines Bruders, den er doch stets respektiert hatte, lag ihm der Gedanke fern, selbst zu versuchen, die Oberherrschaft über den Klan der Minamoto zu erstreiten.

Seiner Expedition war kein Glück beschieden. Ein Großteil seiner Flottille wurde durch einen Taifun vernichtet. Zwar überlebten er, seine Frau Shizuka und sein Getreuer Benkei, doch ohne Mitstreiter waren sie gezwungen, ein Leben im Verborgenen zu führen. An jenem Tag begann die größte Menschenjagd in der Geschichte Japans. Yoshitsune wurde für vogelfrei erklärt, und der Bann des Kaiserreiches lag auf ihm.

Zunächst verbargen sich die Flüchtigen in Yamato, später in den Bergen von Yoshino, und schließlich kehrten sie nach Kyôto zurück. Ein landesweiter Suchbefehl wurde ausgegeben, alle Grenzposten des Landes wurden darüber informiert. Man durchsuchte Wohnhäuser und Tempel, und man verpflichtete sogar Priester, Yoshitsune festzunehmen, wenn sie seiner habhaft werden könnten. Die Suche nach dem Untergetauchten wurde für Yoritomo zur Obsession. Doch ein ganzes Jahr lang gelang es den Gesuchten, sich erfolgreich zu verbergen. Aber die Maschen des Netzes wurden immer dichter, und Yo­shi­tsune beschloß, in den Norden des Landes zu gehen, nach Mutsu (Ôshû), wo er Schutz bei Fujiwara Hidehira finden würde, wie bereits in seinen Jugendjahren. Fujiwara war ein naher Verwandter, und er war stark genug, der aufstrebenden Macht aus dem Süden des Landes die Stirn bieten zu können.

Begleitet von Benkei und einer Handvoll tapferer Getreuer, die ihm bis in die Hölle gefolgt wären, begab er sich nach Norden. Seine Frau mußte er jedoch in Kyôto zurücklassen, da sie schwanger war und somit den Strapazen der heimlichen Reise nicht gewachsen gewesen wäre. Kaum hatten sie die Stadt verlassen, begannen die Reiter Yoritomos, sie zu jagen. Immer wieder wurden sie in Kämpfe verwickelt, aus denen sie siegreich, doch mit Verlusten hervorgingen. Ihr kleiner Trupp schmolz dahin wie Schnee in der Sonne. Jeder dieser Siege war nur eine Verlängerung der Galgenfrist, und einer nach dem anderen bezahlten die Begleiter Yoshitsunes für ihre bedingungslose Treue mit ihrem Leben.

Bald war außer Yoshitsune und Benkei nur noch Sato Tadanobu am Leben, der Bruder von Tsuginobu, der sich bei Yashima für seinen Meister aufgeopfert hatte, indem er den für diesen bestimmten Pfeil mit seinem Körper abgefangen hatte. Und auch Tadanobus Ende verdient es, erzählt zu werden. Sato war ein begnadeter Schwertkämpfer, der zu Recht gefürchtet war und dessen Ruf in ganz Kyôto bekannt war. Yoshitsune hatte auf dessen Drängen die Rüstung mit ihm getauscht und ihm gestattet, zurückzubleiben, um den Verfolgern so lange wie möglich den Weg zu versperren und somit Yoshitsune und Benkei einen wertvollen Vorsprung zu verschaffen. Tadanobu setzte Yoshitsunes Helm auf und verbarg die untere Gesichtshälfte unter seinem menpo39, damit ihn niemand erkennen konnte. Daraufhin verbeugte er sich vor seinem Meister und sagte ihm Lebewohl. Gleich einem unheilbringenden kami40 preschte er der Kolonne der Verfolger entgegen. Da dieser tollkühne Angriff vollkommen unerwartet erfolgte, gelang es ihm, etwa 20 von ihnen den Kopf abzuschlagen, bevor der Reitertrupp sich von seiner Überraschung erholt hatte. Schließlich hatten sie ihn eingekreist, doch unverhofft riß er sein Pferd herum und durchbrach den Kreis seiner Feinde, was noch mehr von ihnen das Leben kostete. Die Reiter Yoritomis verfolgten ihn, den sie für Yoshitsune hielten, doch im Schutz der Dämmerung gelang es ihm, nach Kyôto zu entkommen. Er hoffte, hier neue Kräfte sammeln zu können, um sich später, in Mutsu, Yoshitsune wieder anschließen zu können. In der Stadt angelangt, suchte er Unterschlupf im Haus einer Frau, die er kannte. Doch diese erwies sich als Verräterin, und in der Morgendämmerung hatten zweihundert bewaffnete Männer das Haus umzingelt. Tadanobu, den ein leises Geräusch alarmiert hatte, sprang aus dem Bett, tötete die beiden ersten Samurai, die ins Haus eingedrungen waren und kletterte aufs Dach. Er erkannte sofort, daß er diesmal keine Chance haben würde, zu entkommen. Niemals wieder würden seine Augen die großen Wälder des Nordens erblicken. Überall standen Bogenschützen, bereit, ihre Pfeile abzuschießen, und in den umliegenden Gassen wimmelte es von den Soldaten Yoritomos.

»Bande von Feiglingen!« schrie er, und alle blickten zu ihm hinauf, wie er auf dem Dach stand. »Einen schlafenden Samurai anzugreifen! – Wenn ich es wollte, könnte ich im Kampfe sterben. Und zuvor würden viele von euch den Tod gefunden haben, denn ich würde kämpfen, bis meine Klinge schartig ist. Aber ich will nicht, daß am Ende einer von euch sich eines Tages damit brüsten kann, Sato Tadanobu besiegt zu haben.« Nachdem er diese Worte gerufen hatte, wandte er die Spitze seines Schwertes gegen sich und gab sich den Tod.41

Yoshitsune und Benkei, die sich als Pilgermönche verkleidet hatten, setzten ihren Weg nach Norden fort. Zweifelsohne fanden sie auf ihrer gefährlichen Wanderschaft immer wieder Helfer, vor allem unter den Bonzen und den Kriegermönchen, die sich in der Gegend gut auskannten. In der Geschichte dieser langen Treibjagd auf Yoshitsune tritt mehr und mehr die Persönlichkeit Benkeis in den Vordergrund. Während Yoshitsune zunehmend pessimistischer wurde, erwies sich sein riesenhafter Begleiter als einfallsreich und sprühend vor Energie. Wiederholt war es nur seiner List und seinem Geschick zu verdanken, daß die beiden dem sicheren Tod entkamen. Das bekannteste Beispiel hierfür ist das Passieren von Ataka-no-Seki. Diese Episode ist auch Gegenstand eines nô-Theaterstücks.

Die beiden Männer näherten sich dem Grenzposten von Ataka. Es war offensichtlich, daß dort bereits bekannt war, daß sie als Bettelmönche verkleidet reisten, denn auf einem Brett waren die bereits verwesenden Köpfe mehrerer Mönche, die während der letzten Tage erschlagen worden waren, zur Schau gestellt. Der Anblick war entsetzlich, und der Gedanke an den Tod all der Unschuldigen ließ ihre Herzen schneller schlagen. Doch für die Umkehr war es zu spät, die Wächter hatten sie bereits erblickt und erwarteten sie. Benkei, der in das wollene braune Gewand der Bettelmönche gekleidet war, wechselte einen kurzen Blick mit seinem Meister, der ein Stück hinter ihm ging, verkleidet als Träger seines eigenen Gepäcks, auf dem Kopf einen großen Strohhut, den er tief ins Gesicht gezogen hatte.

»Halt! Wer seid Ihr?«

Benkei hatte seine Antwort bereits parat, und gelassen erwiderte er: »Wir sind zwei Mönche auf der Reise, die ausgesandt wurden, um Geld zu sammeln für den Wiederaufbau des Todai-Tempels.«

»Zeigt mir Euren Auftrag.«

Auch dies hatte Benkei vorausgesehen. Er durchwühlte ein Gepäckstück und zog eine Schriftrolle hervor, welche er ein Stück aufrollte. Er hielt dabei die Arme ausgestreckt vor sich, hatte sich aber so hingestellt, daß der Wächter nicht erkennen konnte, daß das Papier unbeschrieben war. Mit unglaublicher Dreistigkeit begann er mit lauter Stimme im Singsang eine lange Litanei vorzutragen, die von der unglücklichen Geschichte des Todai-Tempels handelte und in die er immer wieder unverständliche Gebetsformeln einflocht. Er tat dies auf solch vollendete Weise, daß der andere geradezu hypnotisiert war. Doch irgendwann war es dem Wächter zuviel und er unterbrach Benkei: »Und der andere?« fragte er, indem er Yoshitsune, der sich zum Vortrag Benkeis mit dem Gesicht nach unten auf den Boden geworfen hatte, mit dem Fuß anstieß. Benkei reagierte unverzüglich und eilte zu ihm, während er rief: »Steh auf! Was soll das schon wieder? Antworte gefälligst dem Herrn Offizier! Ich habe langsam genug von dir und deinen Späßchen!« Mit diesen Worten begann Benkei mit aller Kraft auf Yoshitsune einzuprügeln. Der Offizier lachte, als er das Schauspiel sah. Dieser arme Teufel, der sich verprügelt wie ein Hund im Staub wälzte, konnte unmöglich Yoshitsune, der Bruder des großen Yoritomo sein. Kein Diener hätte je gewagt, seinen Meister auf solche Art zu erniedrigen. Er gab ihnen ein Zeichen, daß sie ihres Weges ziehen konnten.

Ein Stück weiter, hinter der ersten Wegbiegung, fiel Benkei auf die Knie, brach in Tränen aus und flehte seinen Meister um Vergebung an. Yoshitsune hieß ihn, sich zu erheben und dankte ihm von Herzen für seine ausgezeichnete Geistesgegenwart.

Schließlich, Ende 1187, erreichten sie die Provinz Mutsu. Hier, weit entfernt von Kyôto, lag das Lehen des Fujiwara Hidehira, eine rauhe Gegend. Sein Herrschaftsgebiet, dessen Hauptstadt Hiraizumi war, stellte die letzte Bastion gegen die Vorherrschaft von Kamakura dar, und er war nicht gewillt, Yoritomo den Treueid zu leisten. Er konnte sich auf hervorragende Krieger verlassen, die in seinen Diensten standen. Yoshitsune und Benkei wurden mit offenen Armen empfangen. Sie fühlten sich endlich in Sicherheit bei diesem großen Lehnsherren des Nordens, der ihnen eine Unterkunft nahe des Flusses Koromo bauen ließ.

Die Krieger des alten Japan

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