Читать книгу Kieferschmerzen selbst behandeln - Roland Liebscher-Bracht - Страница 8

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DER KIEFER – EIN UNTERSCHÄTZTES GELENK

Hätten Sie gedacht, dass die Muskeln des Kauapparats zu den am meisten belasteten Muskeln unseres Körpers zählen? Tatsächlich sind unser Kiefer, unsere Kaumuskulatur und das Kiefergelenk den ganzen Tag über aktiv. Zum einen ist dafür eine unserer Lieblingsbeschäftigungen verantwortlich: das Essen, das nur mit einem funktionierenden Kiefer beziehungsweise Kauapparat möglich ist – am besten schmerzfrei, denn wenn diese Voraussetzung nicht mehr gegeben ist, kann aus Genuss schnell Qual werden.

Zum anderen ist unser Kiefer aber nicht nur beim Essen und beim Kauen, sondern auch beim Sprechen und Gähnen permanent in Bewegung. Und neben diesen täglichen Beanspruchungen muss er auch noch anderen Belastungen standhalten: Innere Anspannung und Stress verarbeiten wir oftmals unbewusst. Im Schlaf kommt es dann bei vielen zu Zähnepressen und Zähneknirschen – und dabei wirken starke Kräfte auf unseren Kiefer. Was viele nicht wissen: Das kann sich mit der Zeit auf den ganzen Körper auswirken.

SYMPTOME UND HERKÖMMLICHE BEHANDLUNG

Schmerzen im Kieferbereich können sich auf unterschiedliche Arten, aber auch in unterschiedlichen Bereichen Ihres Kiefers bemerkbar machen. In der Regel suchen die Betroffenen wegen ihrer Kieferbeschwerden aber zunächst einen Zahnarzt oder Kieferorthopäden auf. Folgende Symptome stehen dabei meist im Vordergrund:

 Schmerzen (vor allem bei Bewegungen des Unterkiefers) und Druckempfindlichkeit im Bereich der Kiefergelenke und/oder der Kiefermuskeln beziehungsweise deren Sehnen

 Einschränkung der Beweglichkeit des Unterkiefers (oftmals als direkte Folge einer schmerzhaften craniomandibulären Dysfunktion (CMD, siehe Kasten)

 Kiefergelenkgeräusche (Knacken, Reiben) bei Bewegungen des Unterkiefers

 Schmerzen beim Öffnen des Mundes, also zum Beispiel beim Gähnen, Sprechen, Lachen, Abbeißen und Kauen

 Myofasziale Schmerzen im Kiefer-, Gesichts-, Schläfen- und Ohrbereich

 plötzlich in die Wange und den Unterkiefer ausstrahlende Nervenschmerzen

 chronische, als dumpf empfundene Gesichtsschmerzen

 dauerhaftes Verschieben des Kiefers (sogenannter Fehlbiss)

Bestimmt kennen Sie, wenn Sie dieses Buch in Händen halten, den einen oder anderen Schmerzzustand der eben aufgelisteten Kieferschmerzarten aus eigener leidvoller Erfahrung. Vielleicht haben Sie auch schon eine bestimmte Diagnose bekommen oder tragen nachts eine Aufbissschiene gegen das Zähneknirschen und -pressen (siehe >)? Und trotzdem plagen Sie sich weiterhin mit Schmerzen im Kiefergelenk sowie dem Unter- oder Oberkiefer herum?

Quälen Sie dazu mitunter vielleicht auch noch Rücken- und Nackenschmerzen, Schulterverspannungen, Kopfschmerzen im Bereich der Schläfen, Migräne, Tinnitus oder eine allgemeine Schmerzempfindlichkeit? Dann ist es höchste Zeit, etwas zu unternehmen. Denn Kieferschmerzen sind nicht in Stein gemeißelt, sondern durchaus heilbar.

CRANIOMANDIBULÄRE DYSFUNKTION

Kieferschmerzen können auch ein Symptom für eine viel umfangreichere Erkrankung sein, die oftmals nur sehr schwer erkannt und somit auch eher selten diagnostiziert wird. Bei der craniomandibulären Dysfunktion, kurz CMD, handelt es sich um eine funktionelle Störung des Kauapparats. Fehlbelastungen im Kiefer und in der Kaumuskulatur sorgen hierbei für einen Fehlbiss. Dadurch, dass Oberkiefer und Unterkiefer beim Kauen nicht mehr richtig aufeinandertreffen, entstehen dann Kieferbeschwerden. Zudem kann die Fehlstellung Auslöser für weitere Störungen sein, etwa Kopf-, Nacken- und Augenschmerzen.

In der Forschung ist belegt, dass die Symptome einer Dysfunktion der Kiefergelenke umso umfangreicher werden, je länger sie besteht und nicht behandelt wird. Außerdem kommen im Zeitverlauf immer mehr Schmerzpunkte hinzu. 1 Denn sind Muskel- und Gelenkfunktionen erst einmal fehlreguliert, ist bald auch das Kräftegleichgewicht gestört.

DIE ÜBLICHE DIAGNOSE

Aufgrund der Vielfalt der Schmerzzustände fällt es nicht nur den Patienten schwer, die Beschwerden richtig einzuordnen. Auch Ärzte sind oftmals ratlos und wissen nicht, wo sie mit der Therapie ansetzen sollen. Sie behandeln daher häufig leider nur die Symptome der einzelnen Schmerzzustände, ohne das gesamte Beschwerdebild im Blick zu haben. Verordnet werden in erster Linie Medikamente und andere schnell wirkende Hilfsmittel. Doch Schmerztabletten wie Ibuprofen schaffen bei Kieferschmerzen zwar rasch Abhilfe, sind langfristig jedoch keine Lösung. Wenn Ihre Schwester heiratet, Ihre Oma 90 wird oder Sie selbst einen runden Geburtstag feiern, spricht nichts gegen die Einnahme von schmerzstillenden Medikamenten, um diesen Termin zu überstehen. Es sollte aber bei der einmaligen Anwendung bleiben und nicht in eine dauerhafte Therapie münden.

Genau das passiert jedoch, wenn Patienten rezeptfreie Präparate über einen viel zu langen Zeitraum einnehmen.2 Dadurch erhöht sich das Risiko einer Abhängigkeit.3 Schmerzmittel beenden das Problem also nicht, sondern belasten den Körper noch zusätzlich. Das ist umso bedenklicher, weil insgesamt knapp die Hälfte aller Schmerzmittel in der Apotheke ohne ein Rezept gekauft werden.4

Für Sie spielt es vermutlich gar keine Rolle, ob die Schmerzen akut ausgelöst werden oder ob sie mittlerweile schon einen chronischen Verlauf genommen haben. Viel wichtiger ist: Die Schmerzen sind da und Sie wollen sie so schnell wie möglich wieder loswerden. Das verstehen wir gut und deshalb sind Sie bei uns genau richtig. Und so viel schon einmal vorweg: Wir können Ihnen mit unserer Schmerztherapie helfen, Ihre Schmerzen zu beseitigen – und möglicherweise sind Sie auch bald die lästige Zahnschiene los.

QUANTITÄT STATT QUALITÄT

Herkömmliche Ärzte und Therapeuten gehen davon aus, dass erst eine differenzierte Diagnostik, die alle Schmerzen des Betroffenen berücksichtigt, zu einer ganzheitlichen Heilung führen kann. Wie so oft in der »klassischen« Medizin versucht man so jedoch einfach nur, fehlendes Ursachenwissen, also Qualität, durch zahlreiche unterschiedliche Experten – vom (Zahn-)Arzt und Orthopäden über den Physio- bis hin zum Psychotherapeuten –, also Quantität, zu ersetzen.

Entsprechend weit gefächert sind die herkömmlichen Therapien. Sie umfassen unter anderem:

 Schmerzmittel

 Physiotherapie (Massage, Dehnung, Kräftigung, Mobilisation)

 Nervenbehandlung

 Eisanwendungen

 Elektrotherapie

 Ultraschall

 Wärmeanwendungen

 Einlagen

Was all diese Behandlungen und Maßnahmen eint: Sie bringen meist keinerlei Verbesserungen. Denn das ursprüngliche Problem lösen sie nicht.


Der erste Anlaufpartner bei Kieferschmerzen ist oft der Zahnarzt, der jedoch nicht selten nur eine Zahnschiene verschreibt – was die wahren Ursachen nicht beseitigt.

SO FUNKTIONIERT DAS KIEFERGELENK

Um zu verstehen, wie es zu Kieferproblemen und den damit verbundenen umfangreichen Schmerzzuständen kommt, ist zunächst ein Blick auf den Kauapparat hilfreich: Wie ist unser Kiefer aufgebaut und wie funktioniert unser Kauapparat?

Unser Kiefer besteht aus zwei Teilen:

 Der Oberkiefer ist ein starrer Teil des Gesichtsschädels und somit unbeweglich.

 Der Unterkiefer dagegen hängt am Kiefergelenk lose auf, weshalb wir ihn in alle Richtungen bewegen können.

Gemeinsam mit der Kaumuskulatur bildet das Kiefergelenk eine funktionelle Einheit. Sie gehört zum sogenannten craniomandibulären System, das fürs Kauen, aber auch für andere im Mundraum liegende Funktionen wie etwa Schlucken und Sprechen verantwortlich ist. Dieses System unterhält zusätzlich über das Nervensystem funktionelle Verbindungen zu anderen Körpersegmenten, die durch Wechselwirkungen mitunter ebenfalls von Kieferschmerzen beeinträchtigt werden können.


Ober- und Unterkiefer sind eine funktionelle Einheit.

Die Muskulatur

Die Kaumuskulatur besteht aus vier Muskeln, die maßgeblich am Kauakt beteiligt sind. Man unterscheidet dabei zwischen denjenigen Kaumuskeln, die für das Schließen des Mundes verantwortlich sind, und jenen, die das Öffnen veranlassen. Um den Kauvorgang in Bewegung zu setzen, müssen alle vier Muskeln aktiv werden.

 Zu den Kieferschließern gehört der Musculus masseter (Kaumuskel) sowie der Musculus temporalis (Schläfenmuskel).

 Der M. temporalis erfüllt zusätzlich die Funktion, den Unterkiefer zurückzuziehen.

 Beim Öffnen des Kiefers sind der Musculus pterygoidei medialis und der Musculus pterygoidei lateralis beteiligt. Sie sind hauptsächlich für das Vorschieben des Kiefers und für Mahlbewegungen nach links und rechts zuständig.


Der Musculus masseter (oder nur kurz Masseter) ermöglicht neben dem Kieferschluss auch Seitwärts- und Längsbewegungen des Unterkiefers (links). Der Musculus temporalis hebt den Unterkiefer an und schließt so ebenfalls den Kiefer. Zudem kann sich der Unterkiefer durch ihn auch nach hinten bewegen.

Faszien

Die Kaumuskulatur ist, wie alle anderen Muskeln unseres Körpers auch, von Bindegewebe, der sogenannten Faszie, umgeben. Und dieses Gewebe bildet nicht nur die Haut beziehungsweise Unterhaut von Wangen und Kiefer. Mehr oder weniger dichte Faszienhäutchen durchziehen und umhüllen auch jeden einzelnen Kaumuskel und vereinen sich an ihren Enden zu Sehnen, die wiederum am Knochen angewachsen sind. Mit jeder Bewegung eines Muskels bewegt sich also zwangsläufig auch die Faszie mit. Das heißt: Jedes Mal, wenn ein Gelenk gestreckt oder gebeugt wird, ziehen sich Muskeln und Faszien zusammen, während die entgegengesetzt wirkenden Strukturen nachgeben und sich dehnen. Die Scherengitterstruktur der Faszie ermöglicht dabei die größtmögliche Bewegungsfreiheit: Das Gewebe kann sich auf der einen Seite extrem dehnen, auf der anderen aber auch wieder einfach zusammenziehen, ohne Falten zu schlagen.

Die Faszie durchzieht wie ein riesiges dreidimensionales Spinnennetz unseren Körper. Buchstäblich wie Spinnentierchen weben spezifische Zellen des Bindegewebes, die Fibroblasten, rund um die Uhr an den Faszienfäden, teilen bestehende Stränge oder bilden neue Verbindungen und Schichten, während sie im Gegenzug andere, wenig gebrauchte Strukturen verkümmern lassen.

Die »Baumeister«, die den Fibroblasten vorgeben, was zu tun ist, sind die Bewegung und die daraus resultierenden Belastungen. Steigt die Belastung, werden die Faszien verstärkt, sinkt sie, werden sie abgebaut. Und jetzt wird es spannend. Finden nämlich bestimmte Bewegungen nicht mehr statt, werden manche Gelenkwinkel nicht mehr eingenommen, dann entartet die Faszie: Sie verfilzt – ähnlich wie ein herrlich weicher, dehnbarer Wollpullover zu einem kratzenden, steifen Etwas mutiert, wenn er zu heiß gewaschen wird. Auch die wohlgeordnete, flexible Faszienstruktur, vergleichbar mit der einer hochelastischen Damenstrumpfhose, verfilzt zunehmend, verklebt und wird so mit der Zeit immer unnachgiebiger, steifer und fester.

Was bedeutet das nun für den Kiefer? Unser Oberkiefer sitzt zwar fest im Schädel, den Unterkiefer jedoch können wir nach allen Seiten bewegen. Und wenn wir ihm alle diese Bewegungen regelmäßig abverlangen (und sie somit immer wieder üben), bleiben die Muskeln und Faszien in diesem Bereich elastisch und flexibel – und der Kiefer maximal beweglich. Gleichzeitig ist der Verschleiß am Kiefergelenk minimal. Wenn! Denn im Alltag benutzen wir schätzungsweise gerade mal fünf bis zehn Prozent der möglichen Bewegungswinkel. Das bedeutet, Muskeln und Faszien werden immer kürzer, der Kiefer immer unbeweglicher und die Schmerzen immer größer.

Kieferschmerzen selbst behandeln

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