Читать книгу Sakaya - Roland Simm - Страница 5
Im internationalen Staatenrat
ОглавлениеDas Fernsehteam zur Sendung „Gerszan heute“ hatte sich auf dem Platz vor dem Staatenratsgebäude in Lonad eingerichtet. In wenigen Minuten startete eine Live-Übertragung aus dem benachbarten Land, und der Inhalt war besonders. Das erste Mal in der Geschichte Sakayas sollte über das sogenannte „Weltgrundgesetz“ beraten werden, ein Gesetz, dass jedem Sakayaner Zugang zu ausreichender Nahrung und ärztlicher Versorgung ermöglichte. Finanziert aus einer Bruttoinlandsproduktsteuer wäre dies der größte Eingriff der internationalen Staatengemeinschaft in die nationale Gesetzgebung, den es je gegeben hätte – stärker noch als die Vereinbarung zur polizeilichen Zusammenarbeit aller Länder. Aek Horas, der Moderator, überprüfte seine orangefarbene Dauerwelle, während seine Techniker die kabellosen Sender einrichteten. Noch eine Minute bis zur Liveübertragung, Aek konzentrierte sich. Die Sonne war leicht verdeckt, und gänzlich unbeeindruckt von all dem Geschehen suchte ein Schwarm kleiner, gefiederter vierbeiniger Balsaks auf dem Platz nach Nahrung. Sie fanden überall etwas zu fressen, eine Eigenschaft, die sie nicht unbedingt beliebt machte, aber sie hatten dies und ebenso längere Zeitperioden überlebt. Um euch braucht man sich keine Sorgen machen, dachte Aek. Schließlich erteilte die Regie das ok und der Moderator schaltete das in die Kleidung integrierte Mikro ein.
„Willkommen zu ‘Gerszan heute’, der Nachrichtensendung zum Mittag! Jeden Tag die wichtigsten News aus der ganzen Welt.“ Er machte eine kleine Pause, während das Studio die Anfangsmelodie der Sendung zu Ende spielte. „Diese Sendung steht ganz im Zeichen des Weltgrundgesetzes, das hier in Lonad für ganz Sakaya das erste Mal beraten wird. Es könnte jedem Sakayaner ausreichend Lebensmittel und ärztliche Versorgung bieten – doch die Finanzierung ist umstritten. Jeder Staat müsste seinen Teil von seinem Bruttoinlandsprodukt dazu beitragen – und wir alle stimmen in fünf Sonnenumlaufszwanzigsteln darüber ab. Wie Umfragen ergaben, sieht es nach einer knappen Entscheidung aus – und der Widerstand einiger nationaler Regierungen, darunter auch unserer Koalition Narons, wird sich formieren. Wir übertragen gleich live aus dem internationalen Staatenrat. Damit zurück ins Studio.“
Aek schaltete das Mikrofon ab. Ein Techniker gab ihm ein positives Zeichen – der Anfang für den Tag war gemacht. So bereitete er sich auf den Weg zum zweiten Team im Staatenrat vor, während der Rest der Mitarbeiter auf dem Platz einpackte. Um die Geräte zu verstauen, scheuchten sie die Balsaks ein wenig beiseite, die sich inzwischen auch an die Busse des Fernsehteams herangewagt hatten. Die Sonne konnte zwar immer noch nicht frei scheinen, aber der Tag war hell. Aek dachte an die folgende Übertragung. Welche Art von Diskussion würden sich die Vertreter der Staaten liefern? Seine Sendung würde es nach Gerszan bringen.
Der Sakayarat war eine internationale Institution, die vor 37 Sonnenumläufen gegründet worden war. Die Nationen des Planeten waren in zahlreiche Kriege verwickelt gewesen, so dass eine Organisation zum Wohle aller Sakayaner vorteilhaft erschien. Erst nur mit geringen rechtlichen Privilegien ausgestattet, begann sie beharrlich für das Wohl der Bevölkerung zu arbeiten. Während die Zusammenarbeit der Länder zu internationalen polizeilichen Ermittlungen fast einmütig erfolgt war, setzte das Weltgrundgesetz deutlich mehr voraus. Ziel war es, jedem Sakayaner das einklagbare Recht auf Nahrung und gesundheitliche Versorgung zu geben – dazu bedurfte es einer internationalen Rahmenverfassung. Auch dagegen sträubten sich viele der 351 national regierten Staaten, war dies doch ein großer Eingriff in die nationale Souveränität. Letztendlich aber lag das Schicksal dieser wohlwollenden Initiative in den Händen der Sakayaner – denn über die Weltrahmenverfassung entschied seit Beginn des Sakayarates die gesamte Bevölkerung. Und eine zunehmende Demokratisierung führte zu mehr Offenheit gegenüber humanistischen Vorhaben. Aber das war nur die Seite der Befürworter. Die Gegner formierten sich bereits, um dieses Vorhaben zu torpedieren.
Die Gebäude des Staatenrates, ein Komplex aus mehreren runden Bauten, dominierte die Architektur des Platzes. Seine Erbauer hatten an edlen Materialien nicht gespart, ein Bild für den wohlwollenden Zweck, für den sie es geschaffen hatten. Heute, am Tag des Beginns der Verhandlungen, waren die Zufahrtswege voller politisch Interessierter, denn sie konnten die Sitzung aus den Nebenräumen per Videoübertragung live mitverfolgen. Es war recht günstiges Wetter – die von den Wolken verdeckte Sonne gab genügend Licht, um den Tag angenehm zu erhellen. Die Verhandlungen konnten sich lange hinziehen, aber ein Anfang war gemacht.
Aek kontrollierte den Identitätschip in seiner Kleidungselektronik. Er erreichte nun die innersten Räume des Staatenrates, zu denen kein unangemeldeter Besucher Zugang bekam. Auf dem Weg dorthin hatte er die ebenfalls prachtvoll ausgestatteten Hallen durchschritten. Gemälde, Skulpturen und Videoinstallationen versuchten eine kulturelle Entsprechung für die Funktion des riesigen Saales zu sein, in dem ein Stück Weltpolitik gemacht werden konnte. Dort, überdacht von einer riesigen türkisfarbenen Kuppel, boten sich den Delegierten der 351 Staaten gut 1 400 Plätze an silbern gehaltenen Konsolen, die mit der Saalelektronik verbunden waren. Die Diskussionsleitung arbeitete hinter einem erhobenen, großen bordeauxfarbenen Pult, das von einer Videoleinwand überragt wurde. Die Ausführung aller Details schuf eine erhabene Atmosphäre, wirkte aber nicht drückend. An der Ernsthaftigkeit dieser Einrichtung war jedoch in kaum einer Weise zu deuten.
Im Sitzungssaal herrschte arbeitsame Unruhe. Die Delegierten waren inzwischen fast vollzählig anwesend, eine große, bunt gemischte Gruppe der Politiker Sakayas. Als das Signal zur Eröffnung ertönte, blieb ihnen nur noch wenig Zeit, Platz zu nehmen. Der große, dürre Ratsvorsitzende aus Lendar stand beim zweiten Signal auf und trat ans Rednerpult. Er hatte viele Verhandlungen eröffnet und auch geschlossen. Aber dies war das umfangreichste Vorhaben, das der Staatenrat je angestrebt hatte – eine Chance für Millionen Sakayaner. Wie weit würden die Verhandlungen kommen? Die Delegierten hatten inzwischen ihre Plätze gefunden. Der Ratsvorsitzende wartete, bis es leiser war, und schließlich erhob er seine Stimme, der 350 Übersetzer und alle Politiker folgten.
„Sehr geehrte Volksvertreter und Repräsentanten des Sakayarates. Dies ist die Sitzung 82 des Jahres 418. Wir beraten heute die Initiative 2476 zur Grundversorgung aller Bürger Sakayas, das sogenannte Weltgrundgesetz. Die Sitzung ist eröffnet.“
Wieder ertönte ein akustisches Signal, und die Blicke richteten sich erneut auf den Vorsitzenden.
„Sie und Ihre Regierungen haben den Gesetzentwurf und die vorgeschlagene Rahmenverfassung bereits innerhalb der satzungsüblichen Informationszeit erhalten. Wir beginnen nun die Diskussion. Ich rufe den ersten Redner: Erit Narados aus Ternason.“
Der kleinere bärtige Regierungschef saß ruhig hinter dem Pult, das für sein Land vorgesehen war. Er tippte etwas in ein kleineres elektronisches Gerät ein, bis an seinem Mikrofon ein grünes Leuchten zu sehen war. Dann legte er es aus der Hand und fing an.
„Liebe Kollegen. Ich freue mich, diese Verhandlungen beginnen zu dürfen. Wie Sie wissen, gab es unter meiner Führung und bereits davor in unserem Land eine erfolgreiche Tradition des Sozialstaates. Und diese ist hier gefordert! Täglich sterben auf Sakaya Menschen an Unterversorgung, nur weil sie das Schicksal hatten, am falschen Ort geboren zu sein. Täglich fliehen Tausende aus ihrer Heimat in wohlhabendere Regionen. Dies stellt die betroffenen Regierungen vor echte Herausforderungen. Viel Geld wird darauf verwendet, Flüchtlinge vom Überschreiten der Grenzen abzuhalten oder, sollten sie eine legale Aufenthaltserlaubnis in einem der wohlhabenderen Staaten erlangen, dort zu versorgen. Aber wir können das Problem an der Wurzel angehen. Wir können das Leid verhindern.“
Er sah auf und blickte in das Licht der Fernsehkameras. „Neue Berechnungen haben ergeben, dass unsere Welt genug Güter herstellen kann, um alle gut zu versorgen, auch auf umweltverträgliche Weise. Der finanzielle Aufwand für die vorgeschlagene Grundversorgung ist von der Region abhängig, in der die Armen wohnen. Nochmal: Es geht nur um eine Grundversorgung. Allein die Verteilung ist das Problem. Nicht, weil sie nicht machbar wäre. Sondern, weil sie nicht gemacht wird. Wir stehen in der humanistischen Verantwortung, Leid zu verhindern, wie wir es können. Der unterbreitete Vorschlag, die Versorgung aller Sakayaner sicherzustellen, ist zu schaffen. Und er verhindert Probleme des Zuzugs. Es muss ein Recht auf Nahrung und Medikamente geben. Auf dem Land, in den jetzigen Slums und auf den Straßen. Dieses Recht muss einklagbar sein. Für alle, auch für alle Verurteilten.“
Er machte eine kleine Pause, in der die Politiker Notizen machten. Einige riefen in ihrer Sprache unübersetzt herein. Erit sah auf.
„Dazu wird eine Rahmenverfassung vorgeschlagen, die die Einklagbarkeit dieser Versorgung garantiert. Und wir sagen: Ja!“ Der Protest einiger Delegierter wurde lauter. „Die Gewährung dieses Rechtes muss finanziert werden, durch eine Bruttoinlandsproduktsteuer, in der jedes Land in Abhängigkeit zahlt, wie viel es hat. Und wir sagen: Ja!“
Überrascht von der Klarheit der Rede kam Bewegung in die Delegierten. Einige riefen erbost dazwischen. Kommentare und Diskussionen entstanden.
Erit umfasste die Seiten seines Pultes und fuhr fort.
„Wir glauben, dass sich das Gute für uns Sakayaner regeln lässt. Wenn wir es nicht tun, wird es weiter Leid geben. Bekämpfen wir das Problem dort, wo es entsteht! Wir können das Leben von Millionen Sakayanern langfristig retten. Unser Staat steht dahinter.“
Erit blickte in die Menge der Delegierten und bestätigte das Ende seiner Rede auf einem Sensorkontakt. Die Politiker waren durch diese erste Rede aufgewühlt und berührt, der Schallpegel im Tagungssaal stieg. Als eine kleine Weile vergangen war, rief die Stimme des Ratsvorsitzenden aus Lendar zur Ruhe.
„Ich rufe den nächsten Redner: Sog Dere aus Sinula.“
Der große, athletische Präsident Sinulas wartete auf das grüne Licht. Er kratzte sich an seiner türkisen Glatze, bis ihm die Freigabe erteilt wurde. Schließlich beugte er sich zum Mikrofon vor.
„Geehrte Kollegen! Mein Vorredner hat die Besonderheit eines Sozialstaates betont. Ich aber sage: Unser Staat ist nicht groß geworden durch seine Umverteilung, er ist groß geworden aus dem Antrieb seiner Gründer heraus, zunächst einmal ihre eigene Lebensgrundlage zu verbessern. Jeder hat seine eigenen Probleme, und um die muss er sich kümmern. Das ist ein Lebensprinzip! Unsere Vorfahren kämpften sich durch eine widerspenstige Natur und sorgten erfolgreich für ihre Nachkommen. Für wen sonst? Das war ihre Aufgabe, und es ist unsere. Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied, das kann nicht ersetzt werden.“ Er warf einen kurzen Blick in den Saal.
„Die zusätzliche Belastung der Staatshaushalte hätte unkalkulierbare finanzielle Konsequenzen für die Länder. Und ich sehe eine Vereinheitlichung der Staaten durch die vorgeschlagene Rahmenverfassung. Daher ist es besser, wenn wir auf unserer Identität bestehen, wenn wir als individuell gewachsene Völker so bleiben, wie wir sind, und unsere guten, lange gewachsenen Gesetze beibehalten. Das spricht ganz klar gegen die Etablierung eines Weltgrundgesetzes.“
Auch er beendete seine Rede. Unter den Delegierten gab es teils Beifall, teils Tumulte. Auch die Abgesandten des Landes Gerszan führten kurze Gespräche. Naimr Naron war nicht anwesend, er hatte nur seinen Vizekanzler Graso Merxon zu den Verhandlungen geschickt. Die Diskussion ging weiter, als Aek Horas mit seinem Team aus der Pressezone eine abschließende Aufnahme startete. Der Moderator beendete zufrieden seine Sendung.
„So unterschiedlich die Meinungen auch sind, endgültig werden wir, die Sakayaner, über den Erfolg dieser Initiative entscheiden. Nach ersten Hochrechnungen ist der Ausgang nicht eindeutig vorherzusagen, es wird knapp. Da die Verhandlungen noch lange andauern werden, halten wir sie immer zum Mittag über die Ereignisse auf dem Laufenden. Nach den Abendnachrichten sehen Sie Analysen zum Fortschritt der Tagung. Aek Horas von ‘Gerszan heute’, zurück ins Studio.“