Читать книгу Antonia - Rolf Becker - Страница 6
Vorspiel Wien, Frühsommer 1882
Оглавление»Die Ereignisse zwingen mich«, sagte die Hofrätin Petrouschek, »Sie auf das dringendste zu bitten, die uns miteinander verbindende Verwandtschaft geheimzuhalten.«
Die Stimme von Belinda Petrouschek, geborene Comtesse von Blumenthal, klang um ein weniges zu forciert.
»Ich erwidere Ihre Bitte mit der gleichen Dringlichkeit«, antwortete die Dame, die ihr gegenüber saß. »Oder würden Sie an meiner Stelle verwandtschaftliche Beziehungen mit einem zum Hoflieferanten avancierten Zuckerbäcker als erstrebenswert bezeichnen?«
Belinda Petrouschek erschien das Maß dessen, was man ihr an Unverfrorenheit zumuten konnte, erreicht. Sie erhob sich.
»Mademoiselle Antonia«, sagte sie empört, »ich bitte Sie, sich zu mäßigen!«
»Erstens«, entgegnete die schöne junge Frau, die in einem seidenen, handgestickten Sessel saß, »bin ich, wie Sie wissen, keine Mademoiselle, sondern die Gräfin Bajar, und zweitens«, Antonia stand nun ebenfalls auf, »dürfte es jetzt wohl an der Zeit sein zu gehen.«
Belinda antwortete nicht. Mit schnellen, heftigen Schritten ging sie zur Tür, ließ sich öffnen und verließ das Palais Bajar.
Diese Unterredung war das kaum beachtete Ende eines Skandals, der in diesem Jahr ganz Wien erschütterte.
32 Jahre früher. 17. Februar 1850. Engelhartstetten bei Preßburg. »Heißes Wasser! Frische Tücher! Schnell, schnell!«
In einer böhmischen Gutsherrenwohnung herrschte die bei Geburten übliche Aufregung.
Die Frauen übernahmen das Regiment, der Arzt beschwichtigte den ob seiner Nervosität und ungewollten Hilflosigkeit schier verzagenden Vater.
Öffnete sich die Tür zum Schlafzimmer, drang Wimmern, stöhnendes Aufschreien und ermattetes Weinen der Gebärenden an die Ohren des ersetzten werdenden Vaters. Anton von Blumenthal kannte keine derartige Situation. Es war sein erstes Kind, das ihm da von einer, wie ihm schien, schwerleidenden Frau geboren werden sollte.
Hier, in Engelhartstetten, am Fuße der Karpaten, war man noch bäuerlicher, bodenständiger als im nahen Preßburg, wo einige Damen der oberen Schichten sogar nach Wien in ein Spital gefahren waren, um ein Kind zur Welt zu bringen. Natürlich betrachtete man das als Skandal und ausgesprochene Unweiblichkeit, ganz zu schweigen von der Rücksichtslosigkeit angesehenen Familien gegenüber. Das sah ja geradewegs so aus, als habe man daheim nicht genügend Betttücher oder vertraue der Haushälterin nicht.
Nun: Hier, in Engelhartstetten, kannte man derlei Extravaganzen gottlob nicht, und nichts hätte der zarten, ein wenig unscheinbaren Frau Elisabeth von Blumenthal ferner gelegen, als Aufsehen zu erregen oder gar den von ihr mit großer Selbstverständlichkeit geliebten Gatten zu verärgern.
So wurde dann an jenem 17. Februar 1850 auf Gut Erwenlauh eine Tochter geboren. Sie erhielt den Namen Antonia Katharina Elisabeth Maria von Blumenthal, war äußerst zart und klein, aber schrie aus Leibeskräften.
Eine Geburt wie viele andere Geburten?
Gewiß. Niemand hätte etwas Besonderes dabei gefunden, daß diese Geburt die Mutter über die Maßen schwächte und der Arzt ihr schon nach kurzer Zeit mitteilen mußte, daß sie keinem zweiten Kind das Leben schenken könne. Anton von Blumenthal mußte die so heiß gehegte Hoffnung auf einen Sohn aufgeben.
Genau an jenem 17. Februar 1850 übte sich ein dreijähriges Kind im Anziehen einer jämmerlichen, zerfledderten Puppe. Das Kind hieß Lilly, und die Puppe war ein abgelegtes Spielzeug aus gutsherrlicher Nachbarschaft. Tagelöhnerkinder haben keine Puppen. Für Lilly, das fünfte Kind des Tagelöhners Jaskulke, war es ein Weihnachtsgeschenk gewesen.
Die Jaskulkes lebten mehr schlecht als recht von den Erträgnissen des Gutes Erwenlauh. Ihr Kinderreichtum war nicht gerade als Segen zu bezeichnen. Andererseits fanden Jaskulkes sich mit jedem neuen Erdenbürger ab. Lilly war, wie die anderen Kinder auch, gesund, rotbackig und von derber Statur.
Als Mutter Jaskulkes mit der Nachricht von der Geburt Antonias heimkam, machte sich Lilly, ohne ein Wort zu sagen, aus dem Staube. Die Puppe unter dem Arm, marschierte sie geradewegs auf den Gutshof zu. Unbemerkt gelang es ihr, ins Haus zu kommen.
Das Rennen und Hasten hatte aufgehört. Ruhe war eingekehrt.
Für Lilly Jaskulke war es zu ruhig. Aus diesem Grunde begann sie zu singen. Laut und falsch schmetterte sie das einzig ihr bekannte Lied: »Maikäfer fliech! Dein Vater ist im Kriech! Mutter ist im Pommerland. Pommerland ist abgebrannt. Maikäfer fliech!«
Da ihr die Worte ungenügend erschienen, ergänzte sie den Vers durch eine erhebliche Anzahl von Wiederholungen der Zeilen »Pommerland ist abgebrannt. Maikäfer fliech!«
Dazu hopste sie auf dem blanken Steinboden der Halle. Es war entsetzlich!
Eine Tür öffnete sich, und Herr von Blumenthal sah in die Vorhalle. Von anderer Seite erschienen Köchin, Zofe und Hebamme mit hochroten Gesichtern.
»Ruhe! Zum Donnerwetter, Ruhe!« rief Anton von Blumenthal nun seinerseits etwas zu laut, während die Frauen in Abscheu ausdrückendes »Ts, ts, ts!« verfielen.
Lilly Jaskulke hörte sofort mit dem Singen und Hopsen auf. Statt- dessen begann sie zu heulen, laut, breitmäulig und mit sehr viel Wasser im Gesicht.
»Schafft dieses entsetzliche Gör weg!« befahl Blumenthal.
Die Zofe, eine etwas ältliche, dürre Person, nahm Lilly bei der Hand. Das beruhigte Lilly ein wenig, und sie hörte auf zu lärmen.
»Was willst du denn hier?« fragte die Zofe Minna.
»Das Mädchen sehen«, schluchzte Lilly.
»Später, später!« winkte Anton von Blumenthal die beiden aus der Halle. Dann ging er wieder in sein Arbeitszimmer.
Hebamme und Köchin verzogen sich ebenfalls.
»Wem gehörst du denn?« fragte Minna. Ihre Stimme klang mitleidig-
»Jaskulkes!« antwortete Lilly.
»Dann bring ich dich nach Hause!«
Minna lebte seit acht Jahren auf dem Gut. Die Jaskulkes sah sie nur zum Erntedankfest oder zur Gesindebescherung am 25. Dezember. Mit solchen Leuten hat man keinen Umgang.
Das Kind ging still und artig an ihrer Hand.
Minna sah auf das kleine Ding herunter. Es gefiel ihr, daß es seine Hand in der ihren ließ.
Acht Jahre bei Blumenthals... acht Jahre Dienst als Zofe...
Dabei war sie gar keine Zofe. Sie hatte als Weißnäherin angefangen. Nicht etwa, daß sie schöne, neue Aussteuerware nähen durfte, weit gefehlt! Ausbessern durfte sie, Laken an den äußeren Kanten zusammennähen, wenn sie in der Mitte durchgescheuert waren, Kopfkissen flicken und, wenn es hoch kam, Leibchen für Kinder nähen.
Die Eltern waren froh gewesen, sie früh loszuwerden. Sie gefiel niemanden, und niemand gefiel ihr.
Sie hatte in verschiedenen Häusern Unterkunft gefunden. Ihre vertrocknete, dürre Gestalt half ihr dabei. »Die ißt nicht viel«, meinte die jeweilige Herrschaft und gewährte ihr Kost und Kammer. Jedesmal aber fand ihr Leben mit den zerschlissenen Leinentüchern der Herrschaft ein jähes Ende, wenn diese bemerkte, daß sie viel und heimlich aß.
»Die klaut ja Kartoffeln!« hieß es auf der letzten Stelle mit Entsetzen.
Als Minna nach Erwenlauh kam, war sie nicht mehr ganz so hungrig wie in früheren Jahren, deswegen kam sie mit ihren Leuten besser aus.
Die Dienerschaft im Gutshaus war beinahe ärmlich zu nennen: Eine Köchin, eine Magd und ein Mädchen für alles. Zu flicken und nähen gab’s nicht viel, und weil Frau von Blumenthal eine hochnäsige Schwägerin in Baden bei Wien hatte, wurde Minna zur Zofe ernannt. Das bedeutete, daß sie nun Haken und Ösen an die Toilette der Frau von Blumenthal zu nähen hatte ... gelegentlich auch Hosenknöpfe für den Herrn des Hauses, daß sie Kleider sauber und paßgerecht zu halten und allerlei Handreichungen zu verrichten hatte.
Kein schweres Leben, gewiß, aber ein freudloses. Liebschaften oder gar eine Heirat waren ausgeschlossen. Sie war arm, unansehnlich und hatte keinerlei Gelegenheit, mit einem ernsthaften Bewerber bekannt zu werden. Außerdem genügte ihr das Leben in Engelhartstetten. An diesem 17. Februar also lernte Minna die Familie Jaskulke besser kennen.
Frau Jaskulke kochte eine Kanne Feigenkaffee mit Kuhmilch und braunem Zucker und bot ihr ein Glas Selbstgebrannten Rübenschnaps an, der gar nicht so schlecht schmeckte. Minna wurde nicht etwa deswegen so gut bewirtet, weil sie das Kind zurückgebracht hatte, sondern weil sie, die Feinere und Bessere, sich den Weg bis in das Gesindehaus gemacht hatte.
Lilly war still und zupfte an ihrer Puppe herum. Manchmal betrachtete sie Minna mit einem langen, verträumten Kinderblick.
Und Minna fand das kleine Ding keineswegs so entsetzlich, wie es Herrn von Blumenthal erschienen war.
Das verhältnismäßig kleine Gut der Blumenthals war wenig ergiebig. Vom eleganten Leben in der Stadt konnten die Blumenthals nur träumen. So schön Preßburg auch sein mochte, für die Blumenthals schien es unerreichbar, ganz zu schweigen von dem fernen, glänzenden, strahlenden Wien.
Nur wenige Tage nach der Geburt Antonias schrieb Anton von Blumenthal an seinen Bruder Berthold nach Baden bei Wien:
»... würdest Du Deine liebe Schwägerin noch derart schwächlich vorfinden, daß Du erschrecken möchtest! So haben wir uns dann entschlossen, mit der Taufe zu warten, bis meine liebste Elisabeth wieder ganz auf den Beinen ist. Wir haben schon überlegt, dem Kinde eine Nottaufe zu geben, doch würde das nicht der Wirklichkeit entsprechen, wie der Herr Pfarrer meint. Das Kind ist überaus groß und kräftig und pumperlgesund.
Warte also unsere Nachricht bittschön ab, wann wir Dich gebührend und festlichem Anlasse entsprechend empfangen können!«
Es sollte fast fünf Monate dauern, ehe Berthold von Blumenthal seinen Bruder Anton und dessen Frau Elisabeth besuchen konnte.
Elisabeth war; wie bereits erwähnt, schwächlich, zart und überaus empfindlich. Doch nicht nur die Rücksicht auf seine Frau Gemahlin ließen den Herrn von Blumenthal die Einladung an den Bruder hinauszögern bis zur völligen Genesung der jungen Mutter. Eitelkeit und der Wunsch, dem Bruder zu gefallen, spielten bei diesem Entschluß ebenfalls eine nicht geringe Rolle.
Berthold von Blumenthal lebte mit seiner Frau Marieluis im schönen Baden bei Wien. Ihr Leben war glanzvoll und elegant, ja, man erfreute sich sogar gelegentlicher Einladungen bei Hofe.
Marieluis stammte aus einem sehr alten Adelsgeschlecht, und ihre Heirat in die Familie derer von Blumenthal bedeutete für sie einen gewissen gesellschaftlichen Abstieg. Um so mehr legte sie Wert auf Etikette, Eleganz und gebührenden Abstand zu ihrer glanzlosen, schmalbrüstigen Schwägerin.
Fand sich die Familie zusammen, so fehlte jedesmal nicht viel, und die Brüder hätten miteinander gestritten. So verschieden waren ihre Auffassungen über fast alle Dinge des Lebens.
Marieluis, stets ein wenig gelangweilt und indigniert, empfand Engelhartstetten als unzumutbar provinziell und primitiv. Die Tatsache, daß sie dies ihre Gastgeber auch bei jeder Gelegenheit spüren ließ, trug wenig zur freundlichen Stimmung bei. Immer wieder schweifte ihr Blick über die schlichte Garderobe Elisabeths, streifte den geringen Schmuck der Dame des Hauses.
In den ersten Monaten von Antonias Leben geschah es mehr als einmal, daß die Zofe Minna die kleine Lilly Jaskulke ins Herrenhaus holte.
Heimlich, wohlgemerkt.
Es waren dies für Lilly unvergeßliche, selige Augenblicke: Sie durfte das Baby sehen. Nicht ein Kind von der Sorte, wie sie bei Jaskulkes zu Hause waren, nein, ein Kind, das, in kostbare Spitzen gehüllt, stets auf einem Kopfkissen aus rosa Seide schlief, ein Baby, das nicht nach alten Windeln stank und verwaschenes, graues Zeug anhatte. Ein Baby, das für Lilly Jaskulke der Inbegriff des Schönen und Herrlichen war.
Sie waren sich einig in ihrem beglückten Gefühl, die vertrocknete, ältliche Zofe Minna und das kleine Schmutzkind Lilly. Sie lächelten einander zu und wußten nur eines: daß sie dieses Wesen in Spitze und rosa Seide liebten.
Die Zeit ging hin, Antonia wurde größer.
Da es im Hause Blumenthal nicht zu einer Gouvernante reichte, versah Minna die Wartung und, mit den Eltern zusammen, die Erziehung.
So kam es dann eines Tages in Abwesenheit der Blumenthals zu jener Begegnung, die entscheidend sein sollte. Entscheidend für Lilly Jaskulke.
Antonia wuchs heran, der Schwächlichkeit der Mutter zum Trotz ein großes, starkes und, wie man sehr bald sehen konnte, wunderschönes Kind. Es war eine reife Schönheit, die das Mädchen ernster und kühler erscheinen ließ, als es vielleicht sein mochte.
Antonia hatte so gut wie nichts von ihrer Mutter. Die wunderbar ausgeglichene Figur, das schöne Gesicht, eine Fülle roten Haares, die stolze Haltung, die ihr angeboren schien, ohne daß man sie jemals zum Geradehalten oder Aufrechtsitzen ermahnen mußte, erinnerten wenig an die kleine, zarte Frau von Blumenthal.
Lilly hatte indessen nichts von ihrer rotbackigen Gesundheit eingebüßt. Ihr Körper wirkte viereckig und gedrungen, die Arme rundlich, die Hände breit mit kurzen Fingern, denen man ansah, daß sie zupacken konnten. Was man ihnen nicht ansah, war ihre übergroße Geschicklichkeit in allen Dingen, die Handfertigkeit erforderten.
Immer wieder gelang es Lilly, die einzige Puppe, die ihr die Kindheit verschönt hatte, neu anzuziehen, sie mit Blumen, Gräsern, mit Stoffblumen und Papier zu schmücken, daß es erstaunlich anzusehen war. Zu Minnas Entsetzen dekorierte sie ihre Puppe auch den kirchlichen Festen entsprechend, mal als Mutter Gottes, als Jesuskind, leider aber auch als Teufel und Osterhase.
Lilly verzauberte das armselige Puppenbalg derart, daß Minna eines Tages beschloß, ihr das Nähen beizubringen.
Es war an einem sehr heißen Sommertag, als Antonia sich im See des Engelhartstettener Anwesens vergnügte. Sie tat dies geschmeidig und graziös wie eine Meerjungfrau. Der Gedanke, daß sie jemand sehen könnte, erschreckte sie wenig. Sie fühlte sich wohl in ihrer Nacktheit. Sie konnte sich vorzüglich über Wasser halten, drehte und rollte sich im See und fühlte sich wie ein Fisch unter Fischen.
Zur gleichen Zeit beschloß Lilly, die im Hause anstehende Arbeit liegen zu lassen und sich an den hübschen See zu begeben. Sie konnte nicht schwimmen und hatte daher nicht mehr vor, als im Wasser zu stehen oder von einem kleinen Holzsteg aus mit den Füßen im Wasser zu plantschen.
Lilly war nun fünfzehn Jahre alt und für ihre Spiele mit der Puppe eigentlich zu alt. Trotzdem schleppte sie den unmöglichen Balg überall mit sich herum, um ihn wieder einmal an- und auszukleiden oder ihm eine neue Frisur zu geben.
So auch an diesem Tage.
Langsam, als geriete ihr jeder Schritt zu neuem, spannendem Erlebnis, spazierte sie die Böschung zum See hinunter. Ihre schrägstehenden grauen Augen über den hohen Backenknochen waren staunend auf Antonia gerichtet.
Am See angekommen, setzte sich Lilly auf den Holzsteg, zog die Schuhe aus und hielt die Füße ins Wasser. Sie zupfte Schlingpflanzen und Sumpfblumen aus dem schilfigen Ufer und begann ihr stetes Spiel mit der Puppe. In wenigen Augenblicken verwandelte sie den Balg in eine Teichgöttin, schön und märchenhaft anzusehen.
»Was machst du da?« hörte sie plötzlich eine Stimme. Sie gehörte Antonia, die hochaufgerichtet im Wasser stand.
»Ich schmücke meine Puppe«, antwortete Lilly.
»Lächerlich!« fauchte Antonia. »Was fällt dir überhaupt ein, unsere Blumen für die Puppe zu nehmen?«
»Ach«, sagte Lilly und wußte nicht weiter.
»Gib mir die Puppe!« herrschte Antonia sie an und streckte die Hand aus.
Lilly schüttelte zaghaft den Kopf.
»Gib sie mir!« befahl Antonia. «Ich werde ihr den Platz geben, der diesem Ding gebührt!« Mit diesen Worten entriß sie Lilly die Puppe und tauchte sie tief ins Wasser »Kröte zu Kröte, Molch zu Molch« sagte sie dabei und tat so, als sei dies eine hexenhafte Verwünschung. Dann stieg sie aus dem Wasser.
Lilly erhob sich. Wie unter Zwang knickste sie, als stünde sie vor ihrer Herrschaft.
»Von nun an«, sagte Antonia und sah ihr in die Augen, »schmückst du mich!«
Lilly knickste wieder.
»Zieh mich an!« befahl Antonia und ging nackt, wie sie war, auf die Buche zu, unter der ihre Kleider lagen.
Lilly folgte ihr, bückte sich, breitete die Kleidungsstücke, eines neben dem anderen, aus, so als lägen sie auf einem Tisch im Ankleidezimmer, strich sie vorsichtig glatt, wandte sich um und blickte zu Antonia.
Die tat, als bemerke sie nichts. Mit lässigen Bewegungen ließ sie die Ankleidezeremonie über sich ergehen, so, als sei sie eine Königin, umgeben von ihrem Hofstaat.
Als Lilly die letzten Haken der Garderobe geschlossen hatte, wollte sie zum Holzsteg gehen, um ihre Schuhe anzuziehen.
»Laß das!« herrschte Antonia sie an. »Die kannst du nachher holen. Begleite mich!«
Lilly hielt in der Bewegung inne, richtete sich auf, sagte leise »jawohl« und ging zwei Schritte hinter Antonia her.
»Du darfst neben mir gehen«, sagte Antonia, blieb stehen und lächelte Lilly zu.
Es war jenes unbeschreiblich zarte, hinreißende Lächeln, dem nur wenige widerstanden, ein Lächeln, das sie begleiten sollte bis an das Ende ihrer Tage, Macht und Geheimnis zugleich, immer aber vom Zauber ihrer Persönlichkeit erfüllt.
Und so ging Lilly neben Antonia zum Gutshaus zurück, klopfenden Herzens, aufgeregt und auf eine unerklärliche Weise glücklich. Oben an der Böschung aber stand Minna. Aufmerksam hatte sie das Geschehen verfolgt, die herrische Stimme Antonias gehört.
Als die Mädchen außer Sichtweite waren, stieg sie mit ihren hohen Schnürstiefeln die Böschung hinunter, ging zu dem Holzsteg, betrat ihn aber nicht. Ungeachtet eben jener feinen Stiefeletten ging sie in das seichte Wasser, den Blick suchend auf den Seegrund gerichtet. Zwar wurde ihr Rocksaum naß, so daß sie eiligst das Kleid hochschürzte, doch dann fand sie, was sie suchte, bückte sich, griff in das Wasser und hob mit großer Genugtuung in der Miene einen Gegenstand heraus. Es war Lillys schlabbrige, fast aufgeweichte Puppe, um deren Kopf Schilfreste und Algen hingen.
Mit großen Schritten und erhobenen Hauptes, als habe sie einen Sieg errungen, stakste sie aus dem Wasser und ging mit vor Nässe quietschenden Schuhen die Böschung hinauf.
Sooft der Onkel Berthold und die elegante Tante Marieluis zu Besuch erschienen, verwandelte sich die meist ein wenig aufsässige Antonia in ein liebenswürdiges, stilles Kind. Sie wollte nichts als dabei sein, das Rascheln der seidenen Röcke hören, in welche die Tante gewandet war, das Wehen der Schleier an ihrem Hute sehen oder den wunderbaren Duft atmen, der von ihr ausging.
Die »Frau Tante«, wie Antonia sie artig zu titulieren hatte, zeigte ihrerseits freundliches Interesse an der kleinen Antonia.
Marieluis’ Ehe war lange Zeit kinderlos geblieben. Erst spät wurde ihr ein Mädchen geboren, das sie auf den Namen Constance taufte. Die kleine Constance wurde ein sehr schönes, doch weitaus zarteres Mädchen als die üppige Antonia.
Tante Belinda, die Schwester ihres Vaters, wurde von Antonia nur halb so vergöttert wie Marieluis. Belinda war ein kreuznormales, etwas molliges Frauchen, deren Hang zur Fröhlichkeit und praktischem Denken bei ihrer Schwägerin Marieluis auf strikte Ablehnung stieß. Eigentlich nahm man Tante Belinda nie so recht wahr. Nach Meinung der Brüder genügte es völlig, wenn sie zu den Festlichkeiten erschien, mit ihrer Heiterkeit und ihren Kochkenntnissen zur guten Stimmung beitrug und sich von jedermann ein bißchen ausnützen ließ.
Als sich Belinda aber anschickte, eines schönen Tages ihre Verliebtheit in einen Wiener Zuckerbäcker namens Petrouschek in eine Verlobung umzuwandeln und dazu nicht einmal den Ratschlag ihrer Brüder einzuholen für nötig hielt, nannte Berthold dies schlicht einen Skandal. Anton stand der Angelegenheit etwas meinungslos gegenüber, und die schüchterne Elisabeth zuckte nur die Achseln.
Antonia, nun schon zum jungen Mädchen herangewachsen, verfolgte die Auseinandersetzung, die es um die in Aussicht stehende Heirat gab, mit wachem Interesse. Sie sah, wie Onkel Berthold mokant die Augenbrauen hob, hörte die Tante Marieluis verächtlich über diese Mesalliance sprechen.
Nach langem Hin und Her erreichte man wenigstens, daß Belinda ihre Absicht verschob und in die Schweiz auf Reisen ging.
Was allerdings niemand von der Familie ahnte, war, daß der Zuckerbäcker Joseph Petrouschek aus Wien es sich nicht nehmen ließ, dem Fräulein Belinda von Blumenthal in Genf seine Aufwartung zu machen.
Lilly Jaskulke hatte sich inzwischen in ihre neue Stellung eingelebt. Minna pries ihr den Umstand, daß sie, Lilly, nun ausersehen sei, dem jungen Fräulein – und nur dem Fräulein – zu dienen, als einen großen Glücksfall.
So gut es ging, brachte sie Lilly gute Manieren bei, weil – so Minna – »Manieren das einzige Hab und Gut sind, das wir Bedienstete mit der Herrschaft gemeinsam haben können.«
Familie Jaskulke betrachtete diesen von Minna so fleißig gepriesenen Glückszustand mit weniger Freude.
»Was soll nur aus ihr werden«, klagte Frau Jaskulke, »wenn das Fräulein ihrer einmal überdrüssig wird? Dann steht sie da mit sauberen Fingernägeln und guten Manieren, und kein Bauer nimmt sie mehr als Magd!«
»Gespreiztes Getue!« murmelte Jaskulke beifällig und dachte insgeheim, daß diese verdammten Manieren am Ende noch zu höchst fragwürdigem Lotterleben führen könnten.
Minna aber setzte sich durch.
Lilly lernte Kleider zuzuschneiden und zu nähen, Lilly lernte anmutig zu knicksen, Lilly lernte lesen und schreiben. Bei alledem blühte Minna auf, kehrte Leben in ihr vertrocknetes, altjüngferliches Gesicht zurück. Augenblicke gab es, in denen Minnas Gesicht jung wirkte und hübsch, so als freue sich eine Mutter an den Kunststücken ihres Kindes.
»Du mußt Tagebuch führen!« sagte sie zu der völlig verdutzten Lilly.
»Was ist ein Tagebuch?« fragte sie, und ihre grauen Augen sahen nicht gerade heiter aus.
Minna seufzte. Dem Kind die Türen zum besseren Leben zu öffnen, war kein einfaches Unterfangen. »Eine Art Buchführung. Schreib auf, was du tust, und schreib auf, was sie tun«, sagte sie, und ihre Miene verriet, daß sie dies für eine Weisheit hielt.
»Das kann ich nicht«, antwortete Lilly.
»Du wirst es können!« behauptete Minna. »Man ist als Dienstbote sehr viel allein. Dann weißt du wenigstens, was du anfangen sollst.«
»Daß ich nicht lache!« entgegnete Lilly. »Als Dienstbote ist man am Abend halbtot, und da denkt man an nichts als an schlafen.«
Minna lächelte. »Als niederer Dienstbote... gewiß. Solltest du aber höher steigen, dich in den feinen Zimmern der Herrschaften bewegen dürfen, dann werden deine Abende lang sein.«
Lilly starrte sie ungläubig an.
»Du wirst an mich denken«, schloß Minna abrupt. Vielleicht glaubte sie doch nicht so ganz daran, daß Lilly eines Tages eine richtige, feine Kammerzofe sein könnte.
Was Minna nicht bedachte, war, daß nur auf Gut Erwenlauh die Abende so lang waren, daß nur die armselige Freudlosigkeit der Frau von Blumenthal die Langeweile im Herrenhaus einkehren ließ.
Lilly indes war begierig auf jedes Wort, jede noch so kleine Auskunft über jene Welt, die in ihrer Phantasie irgendwo hinter den weiten Zuckerrübenfeldern liegen mußte, eine Welt ohne Bücken, Lamentieren und Fußbodenwischen, eine Welt ohne die dreckigen, alten Hosen ihrer Brüder und das endlose Gepolter und Gekeife ihres Vaters.
Wenigstens wollte sie sich bemühen, Antonia zu gefallen oder meinetwegen auch dem merkwürdigen Verlangen Minnas nachzugeben, ein Tagebuch zu führen.
Was aber sollte darin stehen?
Daß die Ernte eingebracht war?
Daß ihr Antonias feine Schuhe paßten und sie heimlich darin herumstöckelte, als sei sie eine richtige Dame?
Im Winter dieses Jahres gab es in Engelhartstetten viel Aufregung und Kummer. Anton von Blumenthal war krank geworden.
Es war eine kurze, schwere Krankheit. Die aufopfernde Pflege, das innige Gebet seiner Frau Elisabeth konnten es nicht verhindern, daß er am sechsundzwanzigsten Tage seiner Krankheit verstarb.
Antonia stand im Sterbezimmer.
Mit großen Augen starrte sie auf die hin- und herhuschenden Frauen, die Kerzen brachten, den Leichnam wuschen und salbten.
Das eintönige Murmeln der Gebete, der Duft von Weihrauch und Karbol verursachten ihr Übelkeit.
Der da lag, bleich, mit eingefallenen Wangen und offenem Munde, war ihr Vater, gewiß. Doch in ihrem Herzen empfand sie nicht das geringste Gefühl für diesen Menschen, der ihr als das Höchste und Liebste ihres Lebens gepriesen worden war.
Die anderen weinten und jammerten, und ihre Trauer war echt.
Sicher haben sie viel mehr verloren als ich, dachte Antonia.
Nie könnte sie weinen und zetern, Kerzen heranschleppen und mit Tüchern wedeln, wenn das alles einmal vorbei sein würde.
Was hatte sie mit dieser Mutter gemeinsam, die da, häßlich von Tränen, schluchzend am Bett des Toten kniete und Litaneien murmelte.
Nur weg hier!
Keinen Stall mehr sehen und keinen Heuwagen als Glück empfinden müssen, nur weil er ohne Regen eingefahren werden kann. Diese Bediensteten nicht beim Namen nennen müssen, nur weil sie schon zehn Jahre im Hause waren und sich erdreisten durften, einen anzusprechen.
Antonia schauderte. Sie zog die Schultern hoch und verkrampfte die gefalteten Hände.
Wie häßlich das Bett war, in dem er lag! Nicht einmal einen seidenen Himmel hatten sie hier!
Einen seidenen Himmel über jedem Bett, wie bei der Tante Marieluis in Baden. Vom Hofe war auch niemand hiergewesen. Die schlugen das Kreuz über der Brust, wenn sie nur an den Kaiser dachten.
Aber Onkel Berthold und Tante Marieluis hatten ihn gesehen. Nicht auf der Straße oder im Manöver wie das Volk, nein, nein: Die waren eingeladen worden!
Von seiner Majestät dem Kaiser.
»Sie leidet so sehr«, hörte Antonia die Stimme ihrer Mutter sagen und fühlte ihre Arme um ihre Schultern. Ohne daß sie etwas dagegen tun konnte, wurde ihr immer übler – so übel, daß sie ohnmächtig wurde.
Als sie wieder zu sich kam, wäre sie am liebsten auf die Straße hinausgelaufen und hätte geschrien: ›Ich will fort! Ich will fort!‹
Die Mutter in ihrer Witwenkleidung, der vom Leid gekrümmte Rücken, die ständig tränenden Augen – alles war ihr widerlich. Diese graue, demütige Mutter! Erst weinte sie, dann putzte sie sich die Nase, dann weinte sie weiter. Dieses schnaubende Geräusch des Naseputzens war in jedem Zimmer, jeder Ecke, überall. Antonia hätte die Taschentücher in Fetzen reißen können. Und doch, es hätte nichts genutzt.
Vier Wochen nach dem Tode ihres Vaters packte Antonia einen winzig kleinen Korb und fuhr, ohne sich vorher angemeldet zu haben, nach Baden bei Wien. In ihr schönstes Kleid gewandet, stand sie vor der Tür ihrer Tante Marieluis und ihres Onkels Berthold.
Nur einen kleinen Besuch, sagte sie, wolle sie machen, keinerlei Umstände und womöglich ein bißchen helfen.
Jedermann hieß sie willkommen. Nur Tante Marieluis lächelte ein kleines, spöttisches Lächeln. Sie verstand sich großartig mit Antonia. Kaum ein Wort war zwischen ihnen vonnöten, wenn es um Geschmack, Repräsentation und weibliche Ansprüche ging.
So konnte es denn auch leicht geschehen, daß sich Antonias Aufenthalt in Baden von Woche zu Woche verlängerte und sie keinerlei Anstalten machte, nach Engelhartstetten zurückzukehren.
Hatte Antonia bisher das Leben eines einfachen Landedelfräuleins geführt, so begann ihr im Hause der Frau Tante der Sinn nach Höherem und Ergiebigerem zu stehen.
Der Hof Das war das Zauberwort, dem Antonia jeden Gedanken unterordnete. Sie tat dies mit einer Zielstrebigkeit, die selbst ihre Tante in Erstaunen versetzte. So begann sie, mit ungeheurem Fleiß ihre Bildungslücken zu ergänzen, polierte ihr schlecht und recht gelerntes Französisch auf und befaßte sich mit Musikgeschichte.
Als sie eines Tages von Tante Marieluis aufgefordert wurde, am Klavierunterricht teilzunehmen, tat sie dies mit einem Feuereifer, als wolle sie Konzertpianistin werden.
In Engelhartstetten schaltete und schaffte ihre Mutter, um das Wenige, das Anton von Blumenthal hinterlassen, zu erhalten. Ihre Briefe, die sie Antonia schrieb, klangen verzagt und larmoyant.
So wenig Antonia familiäre Bindungen kannte, so wenig verstand diese kleine, ausgebrannte Frau das heißblütige, aber geizige Wesen ihrer Tochter. Es war, als habe dieses schöne, große Mädchen die letzte Kraft aus dem armen, schwachen Körper der Mutter gesogen, als sei jeder Funke Leben auf sie übergegangen, um sie mit Leidenschaft und Temperament zu erfüllen.
Minna und Lilly führten in dieser Zeit ein trauriges Leben. Für Lilly gab es nichts als niederste Feldarbeit zu tun, und Minna hatte die mühselige Pflicht, Frau von Blumenthal beizustehen.
Und dann gab es doch einen kleinen Lichtblick für Lilly Jaskulke: Sie durfte die Witwenkleidung der Frau von Blumenthal nähen. Daß ihr dies erlaubt wurde, war natürlich Minnas Werk.
Als das Witwenkleid gar zu prächtig ausfiel, verlangte Frau von Blumenthal allerdings, daß die sehr pompösen Spitzen und ein wunderschöner gelungener Volant am Rocksaum wieder entfernt wurden.
Lilly, die sehr stolz auf ihre Arbeit war, gehorchte stumm.
Seufzen durfte sie nicht, es hätte ihr nur geschadet.
Daheim aber fluchte sie laut, ordinär und mit plötzlich schrill werdender Stimme.
Lilly hatte begonnen zu verachten.