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Berlin, 1882
ОглавлениеSchlesischer Bahnhof. Modem, eisengerüstet, erfüllt von Dampf, Ruß, Staub und stickiger Luft. Das Stampfen und Prusten anfahrender Lokomotiven, das Türenknallen und die langgezogenen Ausrufe der Bahnsteigbeamten mischten sich mit dem Geräusch eisenbereifter Gepäckkarren, hastiger Schritte, nachgerufener Abschiedsworte, freudiger Begrüßungen. Auf den Bahnsteigen der Vorortzüge in die östlichen Kleinstädte herrschte alltägliche Betriebsamkeit der ankommenden und abfahrenden Provinzler aus Eberswalde, Straußberg, Briezen, Hoppegarten, Karlshorst...
Dem jungen Mann, der auf einem der Bahnsteige stand, schien alles an diesem Bahnhof grau. Seine Stimmung war kaum anders. Dabei gab es für den jungen, aufstrebenden Leutnant eines preußischen Kavallerieregiments durchaus keinen Grund zu düsteren Gedanken. Der Anlaß seiner Reise war eine höchst karrierefördernde Mission an die deutsche Botschaft in Wien. Mit dieser Berufung stand dem Leutnant Alexander von Kronburg der Weg zum Militärattache offen.
›Salonkarriere‹ hatte es seine Schwester Hanna genannt, deren preußisch-pommersches Gemüt mehr auf Pferdemist und Rübenfelder eingestellt war.
Alexander lächelte. Keine Schönheit, diese Schwester, dachte er. Sie paßte auf das Gut in Soldin und konnte sich kaum etwas anderes vorstellen als Landschaft und Roßgewieher.
Alexander sah den einfahrenden Zug, griff nach seinem Handgepäck. Ein Träger verstaute seine übrige Habe in einem Abteil erster Klasse. Kronburg zahlte, grüßte flüchtig und nahm Platz. Von ihm aus konnte die Fahrt losgehen.
Das eiserne weiße Schild mit der schwarzen Aufschrift »WIEN« klappte herunter, der Zeiger auf der Bahnhofsuhr sprang von Zahl zu Zahl, »Einsteigen bitte!«, Türenklappen, ein Pfiff, der Beamte hob die Kelle. Die ersten mächtigen Faucher der Lokomotive stießen achtungheischend weiße Dampfwolken unter den düstergläsernen Himmel des Bahnhofs, leises, geschmeidiges Aufeinanderklappen eiserner Schiebegelenke, der Schaffner sprang aufs Trittbrett, der Zug fuhr.
Die ihm bevorstehende, endlose Fahrt nach Wien erschreckte Alexander nicht. Im gefiel es. Er konnte denken, träumen, essen, schlafen.
Es regnete. Die Tropfen liefen in unregelmäßigen Windungen die Scheiben herunter, sich ihren flußähnlichen Weg durch Ruß und Staub bahnend.
Im Abteil roch es nach Eisen, Kohle und Äpfeln.
Natürlich! Alexander sah ärgerlich in seine Reisetasche. Hanna hatte ihm wieder Äpfel eingepackt. Er haßte es, in Uniform Äpfel zu essen wie ein Schuljunge.
Er schlug die Beine mit den schicken, viel zu engen Steghosen übereinander und streckte sich aus. Hauptsache, es stieg niemand zu! Das fehlte noch: Gesellschaft, plapperndes Ferienglück bis Wien. Aber nein, es war Spätsommer und die Ferien vorüber.
Seine Mission galt als geheim und war doch nichts als eine simple Versetzung nach Wien. Jedermann im Lande wußte, daß Bismarck seine Fühler nach Wien ausstreckte und ein geheimer Zweibund zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn entstehen sollte. Bei der Vorbereitung dieses Unternehmens als Adjutant des Militärattaches mitzuwirken, sollte seine, Kronburgs, Aufgabe sein.
Er zog die Luft durch die Nase und seufzte. Was ihn in Wien erwarten würde, ahnte er. Gesellschaftliche Verpflichtungen im Gefolge des Herrn Botschafters. Ein Besuch nach dem anderen, Schöntun bei ihrer Exzellenz, der Frau Botschafterin nebst deren Töchtern, Ballbesuche, Herumstehen in Theaterfoyers und der langweiligste Platz in der Oper: in der Loge des Botschafters, zwei Stühle hinter der Frau Gemahlin, und er stets bereit, Handschuhe, Fächer, Programm und Schal von Ihro Gnaden aufzuheben. Währenddessen zog sein Regiment ins Herbstmanöver, biwakierte und erlebte etwas!
Wahrscheinlich hatte ihm Mama diese, von anderen, ach, so erstrebte Reise nach Wien eingebrockt. Ihre ständigen Tees mit den Botschafterinnen, die sie in der Berliner Stadtwohnung abhielt, ihre Bridgepartien und sterbenslangweiligen Soireen hatten stets irgendeinen Hintergrund. Hatte sie schon keinen Militärattache oder Botschafter zum Manne, sollte wenigstens der Sohn diese, ihr glänzend erscheinende Karriere einschlagen. Für Alexander waren diese Aussichten alles andere als wünschenswert. Er zog den Blick auf die Landschaft, die sich endlos dehnenden preußischen Äcker vor.
Solchermaßen von Tristesse und Eisenbahngerüttel um jegliche Aufmerksamkeit gebracht, schlief er ein.