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Kontext Die Region Brugg-Windisch 1917–1970

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Das Prophetenstädtchen Brugg war lange von der Industrialisierung unberührt geblieben.3 Doch in den zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg ging es dann umso schneller voran: Aus dem verschlafenen Provinznest wurde ein nicht unbedeutendes Industriezentrum, zwar hinter dem nachbarlichen Rivalen Baden, das mit der Brown Boveri & Cie (BBC) schon damals einen Weltkonzern in seiner Mitte hatte, aber doch zumindest auf gleicher Augenhöhe mit der Kantonshauptstadt Aarau und weit vor allen anderen Bezirkshauptorten und Provinzstädten des Kantons. Windisch hatte, abgesehen von der schon 1829 angesiedelten Spinnerei Kunz, keinen solchen Industrialisierungsschub; aber in Windisch wohnten viele der Arbeiter und Angestellten der Brugger Industrieunternehmen. Zwischen den beiden Gemeinden entstand, bei allen politischen und mentalitätsmässigen Rivalitäten, eine enge wirtschaftliche Symbiose. Waren die beiden Orte über Jahrhunderte physisch klar voneinander getrennt, war bis 1920 der Siedlungsteppich entstanden, den wir heute kennen. Die Einwohnerzahl Windischs betrug 1920 3491, jene Bruggs 4860. Gegenüber dem frühen 19. Jahrhundert war das eine Versiebenfachung (Brugg) beziehungsweise eine Verfünffachung (Windisch) der Bevölkerung in etwas mehr als 100 Jahren. Brugg war zudem ein bedeutender Verkehrsknotenpunkt des Landes. Mit dem Bau der Bözbergbahn wurden hier die wichtigen Linien von Zürich nach Bern und von Basel nach Zürich miteinander verbunden. Nach 1882 kam noch die Strecke nach Wohlen dazu. Es gab hochtrabende Pläne, den Schienen- mit dem Flusstransport zu koppeln: Im Brugger Auschachen sollte ein grossartiges Hafenareal entstehen, die einheimischen Gewässer sollten von Basel bis zum Bodensee und bis Brugg für Lastkähne schiffbar gemacht werden.

Der Erste Weltkrieg, die Spanische Grippe und der Landesstreik von 1918 bremsten diese ungestüme Entwicklung abrupt. Die Kehrseiten der Industrialisierung traten zutage. Obwohl die Schweiz glücklicherweise von den Feindseligkeiten des Ersten Weltkriegs verschont blieb, brachen die sozialen Spannungen, die (allzu) lange unter den Teppich gekehrt worden waren, mit grosser Wucht los. Es kam zum Landesstreik vom November 1918, der in Brugg als Industrie- und Eisenbahnzentrum befolgt wurde, auch wenn es – wie im übrigen Aargau – zu keinen grösseren Zwischenfällen kam. Obwohl zumindest in seinen kurzfristigen Zielsetzungen erfolglos, löste der Landesstreik eine starke Gegenreaktion auf bürgerlicher Seite aus. Einer ihrer Anführer, der umstrittene Aarauer Arzt und Oberst Eugen Bircher, berief für den 24. November 1918 eine gesamtschweizerische Tagung ins Windischer Amphitheater ein, um gegen die Sozialdemokratie, den Landesstreik und die – wie man meinte – drohende Revolution zu demonstrieren. Dieser «Vindonissa-Tag» brachte Delegationen aus der ganzen Schweiz nach Windisch. Auf Vorschlag von Bircher und seinen Kreisen entstanden im ganzen Kanton Bürgerwehren, wobei Brugg das grösste Kontingent stellte. Der Bundesrat tolerierte die Aufstellung solcher Bürgerwehren, und im Sommer 1919 beschloss sogar die Aargauer Regierung, diese bei Bedarf zu bewaffnen. Man erwartete einen Bürgerkrieg nach russischem Muster. 1920/21 kam es in der Brugger Firma Müller AG zu einem vierteljährigen Streik, bei dem mitunter zwischen Streikbrechern und Arbeitswilligen auch die Fäuste flogen. Die Polizei musste eingreifen. Dazu kam die grosse Grippewelle von 1918/19, die die Lage weiter verschärfte. Die Aargauer Regierung erliess ein Versammlungsverbot, das bis 1920 in Kraft blieb und das öffentliche Leben stark einschränkte.

Erst in den frühen 1920er-Jahren kam es zu einer gewissen Normalisierung. Viele der Entwicklungen, die mit dem Krieg zum Stillstand gekommen waren, gingen nun weiter, aber in einem gemächlicheren Tempo. Windisch erlebte einen Bauboom, in dessen Verlauf die noch bestehenden Siedlungslücken zwischen dem alten Dorfkern und Oberburg ausgefüllt und die Gebiete von Klosterzelg und Rütenen weiter überbaut wurden. Auch im Dohlenzelgquartier und im vorderen Kirchenfeld entstanden erste Häuser. Dennoch blieb Windisch in vielerlei Hinsicht ländlich. Viele Arbeiter, die in Brugg in Fabriken ihren Lohn verdienten, hatten noch einen kleinen landwirtschaftlichen Nebenerwerb – sie hielten sich ein paar Kaninchen, vielleicht sogar ein Schwein in einem Schopf, im Garten wurden Gemüse und Früchte gezogen. Auf der Wiese, wo später die Fachhochschule zu stehen kam, weideten die Kühe des Bauernbetriebs der psychiatrischen Anstalt Königsfelden, und auch das Amphitheater wurde landwirtschaftlich genutzt.

Die SBB beschäftigte 1920 über 300 Personen in Brugg. Allerdings ging ein Teil dieser Arbeitsplätze verloren, nachdem 1928 die Bahn-Reparaturwerkstätte geschlossen wurde. Als Ersatz erhielt Brugg 1938 dafür ein Materialmagazin. Der Name der Bahnstation war lange umstritten und Gegenstand gewissermassen der Urfehde zwischen Bruggern und Windischern: Eingedenk der Tatsache, dass der Bahnhof auf Boden lag, der vor 1863 zu Windisch gehört hatte, wünschten die Windischer, dass der Halt «Brugg-Windisch» oder gar «Windisch-Brugg» lauten sollte. Doch die SBB entschieden sich für die einfachere Variante «Brugg». Anträge auf Namensänderung lehnten sie 1938 und 1948/49 ab. Margrit machte nie einen Hehl aus ihrer Meinung, dass der Bahnhof rechtens zumindest eine Referenz an Windisch in seinem Namen tragen sollte; das Thema kam regelmässig auf. Als Bähnlertochter und eingefleischte Windischerin stand sie ganz klar auf der Seite ihrer Heimatgemeinde.

Die Eisenbahner waren eine besondere Gruppe. Viele von ihnen wohnten in Windisch, sie hatten ihren eigenen Stolz und waren eine bedeutende politische Kraft. Bereits 1909 war der Eisenbahner Rudolf Iseli in den Windischer Gemeinderat gewählt worden, doch die SBB verweigerten ihm vorerst die Bewilligung zur Ausübung eines öffentlichen Amtes. Das änderte sich 1913, als er erneut gewählt wurde. Dann errang die Sozialdemokratische Partei in den ersten Proporzwahlen von 1919 auf Anhieb fast 60 Prozent der Stimmen im Arbeiterdorf Windisch. 1921 ging die Mehrheit im Gemeinderat an die Partei, und nach 1933 besetzte diese zusätzlich das Amt des Gemeindeammanns mit dem erwähnten Iseli. Die Sozialdemokraten nutzten ihre Stellung, um eigene Akzente zu setzen, soweit dies im kommunalen Kompetenzbereich lag: 1927 beschloss die Gemeindeversammlung eine Subventionierung der Arbeitslosenunterstützung, und 1933 kamen die unentgeltliche Geburtshilfe und die Milchabgabe an Schüler hinzu. Auch in anderen Dörfern um Brugg, in denen die Arbeiter der Industriebetriebe wohnten, gewannen die Sozialdemokraten kontinuierlich an Boden, wenn auch nicht im gleichen Ausmass wie in Windisch. Im kleinstädtischen Brugg dagegen hielten sich Freisinnige und Sozialdemokraten die Waage; im Stadtrat dominierten die bürgerlichen Kräfte.

Ab Spätsommer 1930 machten sich in der Schweiz die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise bemerkbar. Die Zahl der Arbeitssuchenden nahm drastisch zu. In Brugg schrumpften die Arbeitsplätze in der Industrie zwischen 1929 und 1936 um fast die Hälfte. Die Maschinenfabrik Brugg AG wurde liquidiert, und die Müller AG, ebenfalls ein Unternehmen im Bereich der Maschinentechnik, kam nur dank kräftiger Zusatzfinanzierung der Banken über die Runden. Die Behörden versuchten, die Krise durch Arbeitsbeschaffungsprogramme und andere Massnahmen zu dämpfen, zum Beispiel wurde die Strasse von Brugg nach Hausen ausgebaut. Nach Fürsprache der Stadt in Bern kam es auch zu einer Erweiterung der Kasernenanlagen der Armee – eine Massnahme, die nicht zuletzt beschäftigungspolitisch motiviert war. Erst mit der Abwertung des Schweizer Frankens nach 1936 flaute die Krise, wenn auch zögerlich, ab.

Doch bereits zogen die Schatten der nächsten grossen Prüfung herauf, jener des Zweiten Weltkriegs. Am 1. September 1939 hingen an öffentlichen Anschlägen die breitflächigen weissen Plakate mit dem roten X, die zur Generalmobilmachung der Armee aufriefen. 80 000 Mann des Grenzschutzes, 430 000 Kampftruppen und 200 000 Hilfsdienstpflichtige rückten schweizweit ein – Tausende auch in Brugg. Frauen, Alte und zum Teil auch Jugendliche sprangen für die abwesenden Männer in die Lücke und übernahmen in der Fabrik und im Büro die Arbeit. Die Industrieanlagen stellten auf kriegsbedingten Minimalbetrieb um. Die Schweiz erlebte einen ersten Boom des Recyclings – wobei das damals noch schön deutsch «Altstoffsammlung» oder «Altwarenwiederverwertung» hiess. Dahinter stand bittere Notwendigkeit angesichts des stockenden Nachschubs aus dem Ausland, nicht etwa ökologisches Bewusstsein. Lebensmittel wurden rationiert, später kam die Verdunkelung in der Nacht dazu. Es waren nervenaufreibende, schwierige Jahre. Umso grösser die Erleichterung, der Jubel, als im Mai 1945 der Krieg in Europa endete. Die Kirchenglocken läuteten, die Menschen tanzten in den Strassen, auch in der Schweiz, die zum Glück einmal mehr verschont geblieben war.

Und dann machte sich die Region auf zum nächsten Aufschwung. Die Wirtschaft florierte schweiz- und weltweit, und das stark industrialisierte Brugg profitierte davon. Die Kabelwerke wurden zum Kern regionaler Wirtschaftspotenz. Die Platzverhältnisse waren für die expandierenden Industriebetriebe oft problematisch. Man wich auf unerschlossene Landreserven aus – in den Brugger Wildischachen, ins benachbarte Birrfeld. Auch ein anderer Engpass machte sich bald bemerkbar: Fach- und Arbeitskräftemangel. Viele Arbeiter wurden aus dem Ausland geholt. 1963 waren 38 Prozent der in Brugg dem Fabrikgesetz unterstellten Arbeitnehmer Fremdarbeiter. In der Spinnerei Kunz wurden immer mehr junge Italienerinnen beschäftigt. Unter der Aufsicht von Nonnen gingen sie an ihrem freien Sonntag an der Reuss spazieren. 1920 hatte der Ausländeranteil in Windisch 7,5 Prozent betragen, bis 1970 kletterte er auf fast 20 Prozent. Die Einwohnerzahlen in der Stadt und in den umliegenden Gemeinden schnellten nochmals in die Höhe. Brugg, das nach dem Zweiten Weltkrieg etwa 5500 Einwohner zählte, wies 1970 9000 aus; Windisch erlebte eine Zunahme von 4500 (1950) auf 7500 (1970). In Windisch erstellte die Eisenbahner-Genossenschaft Mehrfamilienhäuser am Römerhof beim Amphitheater, und die Georg Fischer AG baute im Bodenacker die charakteristischen Hochhaus-Wohnblöcke, die noch heute die «Skyline» im Westen Bruggs dominieren. Auch sonst wandelten sich die Ortsbilder. Das Gebiet zwischen Eisi und Bahnhof in Brugg wurde zunehmend zu einem modernen Geschäftsviertel ausgebaut, so etwa mit dem 1959 eröffneten Kaufhaus Jelmoli.

Die raschen Veränderungen verlangten nach städtebaulicher Planung. Eine Architektengruppe namens team brugg 2000 wollte das Wachstum der Stadt systematisch angehen, Industrie und Wohngebiete sollten ebenso getrennt werden wie Autoverkehr und Fussgänger. Es war eine Zeit der grossen Würfe: Man erwartete für die Schweiz im Jahre 2000 eine Einwohnerzahl von zehn Millionen; allein im Raum Brugg-Baden-Spreitenbach hätten sich 200 000 Menschen geballt. Seitens der Bevölkerung gab es ein überraschend grosses Echo auf die Pläne des team brugg 2000. Doch dann kam es zum grossen Drama. An einer Gemeindeversammlung gab es heftige Kritik an den Bauordnungsplänen der Stadt. Mitten in der Versammlung brach Stadtammann Arthur Müller zusammen – er starb an einem Herzinfarkt. Die Versammlung musste abgebrochen und neu angesetzt werden. Die Stimmberechtigten folgten dem Stadtrat, und so endeten die Pläne des team brugg 2000 schliesslich im Papierkorb.

Unabhängig davon waren beträchtliche Investitionen in öffentliche Bauten und in die Infrastruktur notwendig. Der Strassenverkehr nahm mit der Massenmotorisierung rapide zu. Er wurde zu einer Belastung für die Altstadt, und es gab erste Pläne für Umfahrungen. Windisch seinerseits expandierte in Richtung Hausen mit einem Siedlungsteppich von Einfamilienhäusern und grossen Wohnblöcken. Windisch gewann auch das Tauziehen mit Brugg um den Standort des neuen Technikums. Vor allem Industrielle, die in einer Zeit der Hochkonjunktur begehrte Fachkräfte binden wollten, wünschten sich das Technikum. Mit der Klostermatte konnte Windisch ein einschlägiges Areal zur Verfügung stellen. 1964 bis 1966 entstanden dort die modernistischen Glaskuben des Technikums mit ihren charakteristischen farbenfrohen Kegelskulpturen, die für einige Jahre zu einem regelrechten Markenzeichen wurden.

1970 war die Region Brugg-Windisch voll im Umbruch und im Aufschwung, wie es der Fall gewesen war zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wie damals herrschten Zukunftsoptimismus und Technikgläubigkeit. Doch wie der Erste Weltkrieg der Euphorie um die Jahrhundertwende ein Ende gesetzt hatte, würgte jetzt die Ölkrise von 1973/74 die Hochkonjunktur ab. Der Umbau von einer Industrie- in eine Informations-und Dienstleistungsgesellschaft begann. Und die Jugendunruhen von 1968 liessen eine soziale Liberalisierung ahnen, die unter zahlreichen Wehen das konservative und oft auch starre Klima der Zwischen- und Nachkriegszeit auflöste. Institutionen wie Wirtschaft, Kirche und Staat mussten sich neu definieren und legitimieren.

Ein Leben für Ruanda

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