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9. Kapitel

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Sankt Gallen

8. Februar 2013

Die Agusta AW109, ein leichter achtsitziger Hubschrauber der Polizia di Stato, überquert die Alpen und legt sich hinter den verschneiten Berggipfeln in eine scharfe Kurve nach Nordosten, in Richtung Sankt Gallen.

Capitano Maria Farussi sitzt neben dem Polizeidirektor Antonioni der Polizia di Stato. Eine Aura von Gelassenheit geht von ihr aus. Es scheint fast, als fehle ihr jenes erotische Interesse, das Frauen meist in der Gesellschaft von Männern ausstrahlen.

Neugierig beobachtet sie Antonioni, dem die Unsicherheit anzumerken ist.

„Haben Sie Familie, Signore?“, fragt sie den Polizeidirektor.

Die unerwartete Frage entwaffnet ihn. Er sieht in ihr offenes, freundliches Gesicht.

„Drei gescheiterte Ehen, Signora Farussi“, gesteht er etwas verlegen und blickt aus dem Fenster des Hubschraubers.

„Vielleicht haben Sie noch nicht die richtige Frau gefunden“, vermutet Maria. „Vor zwei Jahren ließ auch ich mich von meinem Mann scheiden.“

Der Polizeidirektor schaut die Frau an. Ihre sonore Stimme klingt so klar. Er weiß nicht recht, wie er auf diese Offenbarung reagieren soll.

Der Hubschrauber fliegt noch immer über die weißen Berge Graubündens. Vor ihnen erstreckt sich nun ein langes Tal in Richtung Norden: das Vorderrheintal, in dem Chur, die Hauptstadt des Kantons, gelegen ist.

Die Agusta AW109 legt sich abermals in eine scharfe Kurve. Maria richtet den Blick in die Ferne und entdeckt am Horizont einen Fluss. Es ist das erste Mal, dass sie den Rhein sieht. Während ihres Geschichtsstudiums an der Universität La Sapienzà in Rom hat sie einiges über Rhenus, den personifizierten Flussgott, gelesen. Die alten Römer nannten ihn auch Rhenus Pater, Vater Rhein, und brachten ihn mit dem römischen Wassergott Neptunus in Verbindung. Rhenus wird als zweigehörnter Vater aller Nymphen und Flüsse beschrieben. Mehrmals berichten spätantike und byzantinische Autoren, dass die Kelten und Germanen Neugeborene ins kalte Wasser des Rheins tauchten, um zu sehen, ob sie ehelich sind oder um sie abzuhärten.

„Ich vermute, dass dieser Mordfall auf dem Forum Romanum etwas mit Religion zu tun hat, religiöser Fanatismus oder so etwas in der Art“, mutmaßt Farussi. „Vielleicht erfahre ich in Sankt Gallen mehr über das Opfer.“

Antonioni rutscht auf seinem Sitz hin und her und lehnt sich schließlich zurück. „Fassen wir einmal zusammen: Wir haben einen Toten.“ Der Polizeidirektor blättert in seinen Unterlagen, die er auf seine Knie gelegt hat. „Sein Name ist Rasul Isa ibn Maryam.“ Er sucht weiter in dem Stoß von losen Blättern. „Ursprünglich stammte er aus Algerien, immigrierte in jungen Jahren in die Schweiz, wo er zunächst als Bibliothekar in der Stiftsbibliothek Sankt Gallen arbeitete. Später reiste er als Fremdenführer in ganz Europa umher.“ Antonioni schaut für einen kurzen Augenblick erneut aus dem Fenster und blickt dann Maria direkt ins Gesicht. „Was haben Sie in der Rechtsmedizin herausgefunden?“

„Nur, dass der Algerier erdrosselt wurde“, lässt Farussi den Polizeidirektor wissen und verschweigt ihm, dass sie in seiner Jacke ein Stück Papyrus und eine Notiz über die Vatikanische Apostolische Bibliothek gefunden hat. Noch ist es nur ein unbestimmtes Gefühl, eine innere Stimme, die ihr sagt, dass sie Antonioni nicht alles anvertrauen soll.

„Wir machen jetzt einen kurzen Umweg über Sankt Gallen“, sagt der Pilot und steigt höher. „Da vorne liegen Appenzell, der Alpstein und der Säntis.“

Vom Hubschrauber aus sieht das Dorf Appenzell wie ein Spinnennetz aus, dessen Häuser wie Fäden von den verschneiten Berghängen ins Tal laufen und sich um die Kirche scharen. Die Wetterstation auf dem weißen Gipfel des Säntis erinnert Maria an ein verlassenes Adlernest.

Der Hubschrauber setzt seinen Weg in nordwestlicher Richtung fort.

Endlich erspäht Maria die monumentalen Doppeltürme der Kathedrale von Sankt Gallen. Die barocke Ostfassade strahlt wie Feuer im Licht der Nachmittagssonne.

„Die Stiftskirche gilt als eine der letzten monumentalen Sakralbauten des Spätbarocks“, sagt Farussi zu dem Polizeidirektor und deutet auf die Rotunde, den kreisförmigen symmetrischen Grundriss von Schiff und Chor. „Neben dem Nordportal sind vier Statuen zu sehen: Gallus, der Gründer der Stadt Sankt Gallen, Otmar, der erste Abt des Klosters Sankt Gallen, Simon Petrus und Paulus von Tarsus.“

Ein Schweizer Professor der Universität La Sapienzà, mit dem sie ein Verhältnis hatte, erzählte ihr von der Kathedrale.

„Wir dürfen hier nicht landen“, verkündet der Pilot. „Wir fliegen zum Flugplatz Sankt Gallen-Altenrhein. In einigen Minuten sind wir da.“

Maria blickt hinunter auf die Altstadt von Sankt Gallen, deren rote Hausdächer sich wie Dominosteine um den Klosterbezirk gelegt haben.

Die Agusta AW109 geht in geringer Flughöhe in den Landeanflug auf den Regionalflugplatz am Bodensee über. Einen Augenblick schwebt der Hubschrauber an Ort und Stelle, geht dann langsam nieder und setzt direkt neben dem Tower auf; die Rotorblätter kommen zum Stillstand.

Maria wirft einen Blick auf ihre Uhr: Es ist vier Uhr nachmittags. Der Pilot verlässt sein Cockpit und öffnet die Schiebetür des Hubschraubers. Maria beobachtet, wie ein Techniker vom Kontrollturm auf den Hubschrauberlandeplatz kommt und den Piloten begrüßt.

„Die Kantonspolizei Sankt Gallen erwartet Sie bereits, Signora!“, meldet der Pilot und führt Farussi zu einem Streifenwagen auf dem Parkplatz neben dem Tower, nachdem sie sich von Antonioni verabschiedet hat.

„Mein Name ist Piero Grimani“, stellt sich der Schweizer Beamte auf Italienisch vor. „Ich bin von der Kriminalpolizei Sankt Gallen. Ich bringe Sie ins Kompetenzzentrum für Forensik in Sankt Gallen.“

Kurze Zeit später verlässt der Streifenwagen das Flugplatzgelände. Maria sitzt auf dem Beifahrersitz des Wagens.

„Zwanzig Kilometer bis nach Sankt Gallen“, verkündet der Kriminalpolizist der Römerin.

Scrittura Segreta

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