Читать книгу Scrittura Segreta - Roman Odermatt - Страница 4
Prolog
ОглавлениеRom
40 n. Chr.
Tausende von Menschen sehen dem blutigen Arenakampf der Gladiatoren entgegen. Im tosenden Oval des Amphitheaters steigt der mauretanische König Ptolemaeus vom Wagen, begrüßt den römischen Kaiser und nimmt neben ihm auf der Tribüne Platz. Caligula hat es sich unmittelbar über der Kampfbahn in den weichen Kissen seines Sessels bequem gemacht und den Einzug des Afrikaners betrachtet. Auch der jüdische König Herodes Agrippa hat auf der Kaisertribüne Platz genommen.
Langsam füllen sich die Logen. Im Amphitheater gruppiert sich Rom in der strengen Gliederung seiner Klassen: Die Tribünen unmittelbar an der Arena sind die Ehrenplätze für die Senatoren, die nächsten Reihen belegt der Ritterstand, schlussendlich folgen die Plebejer und Proletarier. Die ärmsten finden sich hingegen weiter unten: in der Arena. Dort beginnen die Vorbereitungen für die Gladiatorenkämpfe. Prächtige Harnische, Arm- und Beinschienen und Flügelhelme mit Visier und Nackenschutz werden angelegt. Nur die Brust soll frei bleiben zum Empfang der tödlichen Wunden.
Der Lärm schwillt an. Die Gladiatorenmeister gruppieren die Kämpferpaare. Als ein untersetzter Syrer gegen einen um zwei Köpfe größeren Mauren antreten soll, erhebt sich wütendes Pfeifen, sodass der Aufseher schnell die Paare neu aufstellen lässt. Die Zuschauer beschweren sich, weil sie einen ordentlichen Kampf sehen wollen. Der riesige Maure bekommt einen wegen seiner Wildheit gefürchteten Juden als Gegner.
Die Paare teilen sich in zwei Fronten. Auf der einen Seite sammeln sich die mit Helm und Schild, mit Kurzschwert und Schienen gewappneten Kämpfer. Zu ihnen gehört auch der Maure. Auf der anderen Seite stellen sich die Gladiatoren auf, die ohne Helm und Panzer, aber mit einer dreizackigen Fischharpune kämpfen werden. Die gefährlichere Waffe des Juden ist aber das geflochtene Netz. Damit kann er seinen Gegner durch einen geschickten Wurf wehrlos machen.
Sklaven bringen den Todgeweihten goldbestickte Tuniken, purpurne Mäntel und Pfauenfederbüsche für die Helme. Als sich die Gladiatoren geschmückt haben, gibt der Kriegstribun, dem die Leitung der Kampfspiele übertragen ist, das Zeichen zum Beginn.
Unter dem schmetternden Klang der Hörner ziehen die Gladiatorenpaare vor die Kaisertribüne. Die Blicke der Zuschauer sind auf Caligula gerichtet. Grüßend hebt er die Hand und entlässt die Schar, die langsam die weite Bahn der Arena umrundet. Beifall des Volkes brandet von den Sitzreihen herunter.
Die vielen Helfer in der Arena räumen nun das Feld, und die Masse verstummt.
Vorsichtig belauern sich der Maure und der Jude, versuchen sich zu überrumpeln. Wenn der eine vorstößt, weicht der andere zurück. Kurzschwert und Dreizack krachen gegeneinander. Das Netz des Juden fliegt durch die Luft und geht fehl. Staub verdüstert die Sicht. Die Hände der Zuschauer klammern sich an die Brüstungen der Sitze. Zurufe von den Tribünen ertönen. Der Maure stößt mit dem Kurzschwert zu; eine blutige Wunde klafft in der Brust des Juden. Beifall ertönt. Der verwundete Kämpfer richtet seinen Blick auf die Zuschauer und flieht vor die Kaisertribüne. Vom Pfeifen und den Schmährufen der Zuschauer verfolgt, läuft der Jude um sein Leben. Doch seine Kräfte schwinden schnell. Unerbittlich folgt ihm der Maure mit dem Schwert; in seinen Augen funkelt hell die Mordgier.
„Du wendest dich ab, mein Freund“, sagt Caligula zu Ptolemaeus, der neben ihm sitzt. „Gefallen dir die Spiele nicht?“
„Nein, Caligula“, antwortet der König und steht auf. „Mir ist dieses Morden zuwider. Ich möchte mir am liebsten die Ohren zuhalten, um das Mordgeschrei nicht zu hören. Ich kann diese verzerrten Gesichter nicht mehr sehen. Meine Seele weint. Diese Menschen sind blind in ihrem Herzen und sehen nicht. Sie sind leer in die Welt gekommen und leer suchen sie, die Welt zu verlassen. Nun aber sind sie trunken. Wenn sie nüchtern sind, werden sie bereuen.“
Caligula bricht in Gelächter aus.
„Du hast zu lange in Ägypten und Judäa gelebt, Ptolemaeus, und siehst Rom mit den Augen der griechischen Philosophen und pharisäischen Rabbiner. Für uns Römer haben diese Spiele eine Bedeutung, die du nicht verstehst.“
Ptolemaeus hat der Arena den Rücken gekehrt. Zorn und Abscheu sind ihm ins Gesicht geschrieben.
„Ich weiß nur, Caligula, dass an diesem Tag der Freude und des Jubels sinnlos Menschen getötet und Leid und Qualen bereitet werden. Du müsstest sehen, wie man in Ägypten und Judäa Feste feiert. Ich habe Sed-Feste in Alexandria und Pessach-Feste in Jerusalem erlebt, die mein Herz ergriffen haben.“
„Diese Spiele“, entgegnet Caligula selbstgefällig und deutet auf die Arena, „gewöhnen ein Volk von Soldaten an den Anblick des Todes, an Wunden und Blut. So bereiten wir Römer uns auf den Krieg vor.“
„Es ist eine neue Zeit angebrochen, Caligula“, sagt Ptolemaeus und blickt angewidert in die Arena hinunter.
Das Gespräch wird von einem empörten Aufschrei unterbrochen. Ein Sturm der Entrüstung über die Feigheit des unglücklichen Juden rast durch das Amphitheater.
„Maure, töte ihn! Maure, töte ihn!“, brüllen die Zuschauer im weiten Rund.
Fast vom Publikum vergessen haben die anderen Paare ihren Kampf beendet. Tote und Schwerverwundete liegen im eigenen Blut in der Arena. Die Aufmerksamkeit gilt fast ausschließlich dem Juden, der sich mit seiner Brustverletzung vor die Kaiserloge schleppt und den rechten Zeigefinger hochhält: ein Zeichen, mit dem er um Gnade fleht. Hinter ihm steht der Maure mit stolz erhobenem Schwert.
„Herodes Agrippa“, wendet sich Caligula an den jüdischen König, „bestimme du, was mit dem Juden geschehen soll!“
Herodes Agrippa erhebt sich von seinem Sitz und tritt an die Brüstung. Er kennt die Sprache der Arena: Der nach oben gereckte Daumen symbolisiert das gezückte Schwert und bedeutet Tod. Will er nicht den Zorn der Zuschauer auf sich ziehen, muss er das Todesurteil über den Juden fällen. Herodes will gerade seinen Arm ausstrecken, als Ptolemaeus ihn davon abhält. Mit gekreuzten Zeigefingern gibt er dem Mauren das Zeichen, dass er sein Schwert niederlegen soll. Dann verlässt er die Kaisertribüne und geht zu dem Juden auf die Sandbahn hinunter. Bevor dieser das Bewusstsein verliert, fängt ihn der mauretanische König auf und trägt ihn aus der Arena.
Der Zorn der Zuschauer richtet sich nun gegen Ptolemaeus, der sie um ihren Nervenkitzel gebracht hat. Die Schmährufe begleiten den mauretanischen König bis zum Ausgang des Amphitheaters. In diesem Augenblick verlässt auch Kaiser Caligula seine Loge.
Als Ptolemaeus mit dem Juden aus dem Tor ins Freie tritt und ihn in den Schatten eines Gehölzes legt, ist er bereits tot.
Während die Zuschauer aus dem Amphitheater strömen, um sich lärmend und randalierend in der Stadt zu verteilen, versammeln sich einige Angehörige der jüdischen Gesandtschaften aus Alexandria und Jerusalem im gemieteten Haus von Ptolemaeus am Forum Romanum. Auch Tiberius und sein Sohn Marcus aus dem ägyptischen Alexandria befinden sich in dem Haus des mauretanischen Königs. Während dicke Mauern und die geschlossenen Läden vor den Fenstern das Geschrei der Gasse fernhalten, verbreiten Lampen und Kerzen einen erstickenden Öldunst. Zwanglos stehen griechische Ruhebetten in dem Raum, davor kleine Marmor- und Ebenholztische. Das Deckengebälk wird von Säulen aus gelbem Marmor getragen, die Legionäre aus Ägypten mitgebracht hatten.
Die Juden liegen auf den Ruhebetten, die Arme in weiche Kissen gestützt.
Der Mann, der die kleine Versammlung einberufen hat, der Philosoph Philon von Alexandria, geht mit großen Schritten zwischen den Ruhebetten auf und ab.
„In Rom gibt es keine Moral mehr“, schimpft er. „Kein Götterglaube hindert die Reichen und Mächtigen, sich gegen alle Gesetze des Himmels und der Erde zu vergehen. Ein wahnsinniger Kaiser steht an der Spitze dieser Gesellschaft, die ein Leben der Sünde und Sittenlosigkeit führt.“
„In den drei Jahren der Regierung Caligulas“, sagt sein Bruder Tiberius mit verbitterter Miene, „hat Rom sein einst so holdes Gesicht in eine scheußliche Fratze verwandelt. In früheren Jahren war das Imperium gesittet und gut verwaltet. In allen Städten sah man Altäre, weiß gekleidete Priester, Pferde- und Wagenrennen und musische Wettkämpfe. Jetzt aber ist Rom ein Blutegel, der den Ländern und Provinzen das Blut aussaugt, um das eigene unheilige Leben zu verlängern.“
Tiberius‘ Sohn Marcus wiegt das Haupt und streckt die Hand abwehrend aus.
„Sei vorsichtig mit derartigen Äußerungen, Vater! Die Spitzel des Kaisers sind sehr hellhörig. Aber dein Urteil ist richtig. Was soll man von einem Kaiser erwarten, der für ein einziges Gastmahl eine Million Sesterzen ausgibt? Für jede Narrheit hat Caligula Geld in Fülle. Einem Wagenlenker, der mit seinem Gespann gewann, schenkte Caligula einmal zwei Millionen Sesterzen. Das siegreiche Rennpferd wollte er im vergangenen Jahr allen Ernstes zum römischen Konsul wählen lassen. Der Gaul frisst aus vergoldeter Krippe, steht auf elfenbeinernem Rost, trägt juwelengeschmückte Purpurdecken und hat seinen eigenen Palast.“
Marcus erhebt sich von seinem Ruhebett, rauft sich die Haare und wendet sich an Philon, der in seinem Rundgang innegehalten hat: „Schau nicht so ungläubig, Philon, so ist Caligula! Nichts von dem, was ich erzähle, ist übertrieben. Caligula liebt es, Blut zu vergießen. Häufig sieht er bei Folterungen zu, bei seinen Gastmählern lässt er manchmal Sklaven verstümmeln, töten oder blenden. Dabei verfolgt er mit seltsamer Spannung die Tätigkeit des Henkers. Seinem Schwiegervater befahl er, sich selbst mit dem Rasiermesser die Kehle durchzuschneiden, weil sich der alte Mann bei einem Seesturm geweigert hatte, ein Schiff zu besteigen. Den Gardepräfekten, der ihm auf den Thron geholfen hatte, ließ er erwürgen. Um ihm nicht dankbar sein zu müssen!“
Philon bedeckt mit den Händen sein Gesicht.
„Das ist ja noch grässlicher, als ich ahnte“, stöhnt er. „Und solch einen Mann erträgt Rom?“
„Rom ist wahnsinnig!“, antwortet Marcus. „Es besteht nur noch aus dem Pöbel und ein paar anständigen Menschen, die in ständiger Furcht leben und glücklich sind, wenn man sie unbehelligt lässt. Caligula unterhält die Masse mit immer neuen Aufregungen und Sensationen. Gefährlich wird er nur seinen Höflingen, dem Volk schmeichelt er.“
Als müsse er Halt finden, umfasst Marcus mit beiden Händen eine der Säulen, wo sich das Licht der Öllampen und Kerzen auf dem gelben Marmor spiegelt.
„Der Anlass“, fährt er fort, „der euch hergeführt hat, wurde ebenfalls durch den kaiserlichen Wahnsinn verursacht. Zuerst wurde seine verstorbene Schwester vergöttlicht, dann machte er sich selbst zum Gott, und nun verlangt er, zum höchsten der Götter, zum Jupiter Latiaris, erklärt zu werden. Im Tempel des Kapitols ließ er sein eigenes Standbild aus reinem Gold aufstellen, das täglich in ein Gewand gehüllt wird. Es ist dieselbe Art und das gleiche Gewand, wie es der Kaiser an diesem Tag trägt.“
Es ist ganz still geworden in dem Raum. Die Worte Marcus‘ sind nicht ohne Eindruck geblieben. Seit er in Rom ist, hat er begonnen, die Ereignisse aufzuschreiben, daher vermag er derart überzeugend aufzutreten.
Die Juden schauen zum Eingang hinüber, durch den Ptolemaeus den Raum betritt. Er kehrt vom Amphitheater zurück. Die Männer mustern ihn. Ptolemaeus ist vierundvierzig Jahre alt. Seine ganze Erscheinung strahlt eine wohltuende Ruhe und Gelassenheit aus.
Eine jüdische Dienerin erscheint, kniet nieder und bietet dem König ein kupfernes Becken mit duftendem Wasser an, damit er sich vor Beginn des Essens die rechte Hand wasche, mit der die Speisen berührt werden. Eine zweite Magd bereitet ein Fußbad und sprengt duftendes Öl auf die Kissen. Doch Ptolemaeus bedeutet den beiden Frauen, dass er nichts essen wolle und auch kein Fußbad wünsche. Stattdessen setzt er sich auf ein Kissen und verschränkt wortlos die Arme vor der Brust. Er kennt die Juden, die jetzt in Rom weilen, von seinen Reisen nach Alexandria und Jerusalem.
„Meine Freunde“, sagt Philon mit ruhiger Stimme, „ihr wisst, warum wir nach Rom gekommen sind. Ihr kennt alle das Dekret des Kaisers Caligula, das uns befiehlt, eine Büste seiner selbst in allen Tempeln und Bethäusern aufzustellen und dieser Büste Opfer darzubringen.“
„Gott Caligula“, höhnt sein Bruder Tiberius.
Philon macht eine ärgerliche Handbewegung, dann fährt er fort: „Viele Völker sind dem Befehl des Kaisers widerspruchslos nachgekommen. Doch wir werden Caligulas Büste in unseren Synagogen oder gar im Tempel von Jerusalem nicht verehren!“
„Vergiss nicht“, knurrt Marcus und schlägt mit der Faust auf die Marmorsäule, „dass Gesandte der griechischen und römischen Kaufherren aus Alexandria auch hier in Rom sind. Sie werden versuchen, diese Gotteslästerung zu benutzen, um uns, ihre Konkurrenten, mit einem Schlag zu beseitigen, indem sie Caligula zu strengen Strafmaßnahmen gegen uns auffordern.“
„Ich dachte, diese Kaufherren befänden sich im Gefolge deines Freundes Herodes Agrippa?“, fügt Philon trocken hinzu.
Von draußen dringt gedämpft das Geschrei der Volksmenge ein.
„Vor der Reise nach Rom habe ich mich oft mit meinem zukünftigen Schwiegervater Herodes Agrippa im Palast getroffen, um über die zu unternehmenden Schritte zu beraten“, sagt Marcus, der seit Monaten im Gefolge Herodes in Rom weilt. „Ich kenne die Verhältnisse in Rom und am Kaiserhof und bin, nachdem ich von dem Anlass eurer Bittgesandtschaft gehört habe, bereit, euch zu helfen. Eure Empfehlungsbriefe habe ich Caligula bereits übergeben lassen.“
„Wir sind dir sehr dankbar für deine Vermittlung, Marcus“, sagt Philon, der an ein Fenster getreten ist, den Laden zur Seite schiebt und auf die Gasse blickt, „aber je mehr ich von dieser Stadt und ihrem Kaiser sehe, desto weniger glaube ich an einen Erfolg unserer Mission.“
„Bist du nicht auch der Meinung, Ptolemaeus“, fragt Marcus den mauretanischen König, „dass es uns angesichts dieses frevlerischen Gottwahnsinns Caligulas kaum gelingen wird, die Schändung unserer Bethäuser zu verhindern?“
„Ihr sollt nicht aufhören, einen Weg zu suchen, bis ihr ihn findet“, antwortet Ptolemaeus, „und wenn ihr ihn gefunden habt, werdet ihr vielleicht erschrocken sein, wohin er euch führt.“
„Gib uns einen Rat, Ptolemaeus“, bittet Philon. „Wie können wir vor dem Kaiser bestehen? Du kennst den Kaiser, er hört auf dich.“
„Ihr denkt wohl, dass ich gekommen bin, um Frieden in die Welt zu bringen. Ihr wisst nicht, dass ich gekommen bin, um Feuer, Schwert und Krieg zu bringen.“
Die Juden blicken besorgt zum geöffneten Fenster, ob kein Unberufener horche. Philon bemerkt die Blicke der Männer und zieht verlegen den Laden wieder vor das Fenster.
„Du willst dich gegen den Kaiser erheben, Ptolemaeus?“, flüstert Marcus.
Ptolemaeus sieht ihn lange an. „Erkenne, was vor dir ist, und was dir verborgen ist, wird dir enthüllt werden. Denn es gibt nichts Verborgenes, was nicht offenbar werden wird.“
Ptolemaeus begibt sich am nächsten Tag mit den Juden aus Alexandria und Jerusalem in die weitläufigen Garten- und Bauanlagen, die das Palatinische Schloss mit dem ehemaligen Park des Maecenas verbindet. Philon hat mit Callistus, einem einflussreichen Mann am Kaiserhof, vereinbart, dass sich Caligula, Ptolemaeus und die Juden hier in den Gartenanlagen treffen.
Jetzt warten sie bang auf Caligulas Ankunft. Die Zeit verstreicht. Sie werden ungeduldig. Schließlich schickt Ptolemaeus Tiberius an den Kaiserhof.
Am Abend, als Ptolemaeus und die Juden in der Halle eines nahe gelegenen Prunkbaus sitzen, fragt Marcus den mauretanischen König: „Was ist das für eine Mission, die dich nach Judäa geführt hat und von der alle Welt spricht?“
Ptolemaeus blickt schweigend in die knisternde Glut eines Feuers, das die Gestalten der Menschen in der Halle mit flackerndem Schein beleuchtet. Nach einer Pause, in der man nur das Knacken des brennenden Holzes hört, beginnt der König von Mauretanien mit seiner Erzählung, die seltsam das Herz der Zuhörer anrührt.
„Es ist vielleicht die rechte Stunde“, sagt er, „von meiner Mission in der römischen Provinz im Osten zu sprechen. Ich weiß nicht, ob von euch einer das Land Galiläa kennt. Die Landschaft ist dort freundlicher als im Süden der Provinz. In Galiläa liegt die kleine Stadt Nazareth. Hier wohnte ich einige Jahre mit meinen Eltern, die zuvor das Land Numidien als König und Königin regiert hatten, bis die Situation für beide zu gefährlich wurde und sie aus dem Land fliehen mussten. Später kehrten meine Eltern mit mir und meiner Schwester Drusilla ins Königreich Mauretanien zurück. Vor drei Jahren besuchte ich auf meinen Missionsreisen durch die römischen Provinzen auch das Land meiner Geburt, Judäa, um mich mit den jüdischen Königen und Fürsten zu treffen. Ich merkte bald, dass es heißer Boden war, auf dem ich ging.“
Ptolemaeus legt ein paar frische Scheite auf das niederbrennende Feuer, rückt fröstelnd näher an die Glut heran und fährt in seinem Bericht fort: „Es war um die Zeit, als Tiberius in Misenum starb und Caligula in Rom zum Imperator gekrönt wurde. Der neue Kaiser brachte keinen guten Ruf mit. Bald nachdem er seine Macht in Rom gefestigt hatte, begann Caligula die Juden zu provozieren, indem er den Kaiserkult gewaltsam durchzusetzen versuchte. Ich zog im Land herum und suchte das Gespräch mit den Fürsten und dem einfachen Volk. Wenn ich mit meinem Gefolge in einem Dorf oder einer Stadt ankam, sprach sich das schnell herum, und das Volk strömte aus nah und fern herbei. Es gibt viele unzufriedene Zwischenrufe im Land, allerdings sprechen die Juden nicht mit einer Stimme. Besonders die Zeloten streben einen gewaltsamen Aufstand gegen Rom an, während die Gemäßigten, die einen Ausgleich mit Rom suchen, beständig an Rückhalt verlieren. Auch mich betrachteten die jüdischen Autoritäten und die Römer in Judäa als Unruhestifter. Aber auch die mächtigen Pharisäer sahen in mir, dem Fremden in ihrem Land, den Eindringling in ihre Domäne.“
„Viele deiner Gedanken, Ptolemaeus, die du in Worte gefasst hattest“, unterbricht Philon, „drangen bis nach Alexandria. Die Menschen von Judäa sehen in dir den Messias. Sie hoffen, dass du sie von der römischen Besatzungsmacht befreien wirst.“
Callistus erscheint in der Halle. Er ist umgeben von Prätorianern, die mit ohrenbetäubendem Gegröle hereinstürmen. Callistus übersieht die ehrerbietig grüßenden Juden geflissentlich und gibt den Prätorianern einen Wink, die Ausgänge zu besetzen. So jagt der ganze Schwarm wild durch die Korridore und Gemächer des Prunkbaus. In der Mitte der Halle, die mit spiegelndem Malachit gedeckt ist, bleibt Callistus plötzlich stehen. Die ihn umringenden Prätorianer bilden eine Gasse. Herodes Agrippa betritt die Halle. Er flüstert Callistus zu: „Den ich küssen werde, der ist es, den ergreift und führt ab! Aber sorgt dafür, dass ihm kein Leid geschieht.“
Herodes Agrippa hält Ausschau nach Ptolemaeus, und als er ihn am Feuer sieht, tritt er zu ihm.
„Sei gegrüßt, Ptolemaeus!“, sagt der König der Juden und küsst ihn.
Callistus tritt ebenfalls an Ptolemaeus heran und sagt: „Da bist du also, du Gotteshasser, der die in der ganzen Welt anerkannte Göttlichkeit des Kaisers leugnet!“
„Seid ihr gekommen, um mich wie einen Räuber gefangen zu nehmen?“, fragt Ptolemaeus ruhig.
Philon von Alexandria zwängt sich zwischen Ptolemaeus und Callistus und stammelt ein paar Worte der Rechtfertigung.
„Hört meine Worte, ihr Juden“, ruft Callistus den Versammelten zu. „Verlasst Rom, solange das Herz des göttlichen Kaisers noch milde gestimmt ist!“
Callistus gibt seinen Prätorianern einen Wink, die Ptolemaeus daraufhin in ihre Mitte nehmen und aus der Halle führen.
Die Juden, zu Tode erschrocken, flüchten aus den Garten- und Bauanlagen. In stillem Gebet wenden sie sich an den großen Gott ihrer Väter, damit er das Herz des Imperators zu Milde und Mitleid lenke.
Allein Marcus folgt Ptolemaeus. Als ein Prätorianer den Jüngling an seinem Gewand packt und ihn abführen will, kann Marcus fliehen, indem er den Prätorianer mit seinem zerrissenen Gewand und einem verdutzten Gesicht zurücklässt.
Callistus steht mit Ptolemaeus und zwei Prätorianern vor der schneeweißen Vorhalle des Marcellustheaters; die wuchtigen Giebelfriese überragen die Dächer der benachbarten Gebäude. Welch ein Gegensatz zu den aufgewühlten Straßen Roms! Hier ist eine andere Welt, die unberührt scheint von der Unruhe der Stadt. Stimmen der Schauspieler hallen durch die fast menschenleeren Höfe und Säulengevierte, ungestört von der Hast des Alltags. Wie für die Ewigkeit gebaut scheinen die hohen Mauern und das schwarze Zederngebälk der kassettierten Decken.
Durch lange Korridore, vorüber an den Theatergarderoben, führen die Römer den mauretanischen König zum Saal des Kaisers. Dort sind Regale, Täfelung und Gebälk aus duftendem Edelholz, Mosaiken glitzern am Fußboden, gelbgeäderte, polierte Säulen stützen die gewaltigen Tragbalken der bemalten und vergoldeten Decke.
Ein griechischer Schauspieler studiert mit Caligula gerade eine Rolle ein. Der Kaiser trägt das kurze Röckchen der Balletttänzer. Seine Beine sind von unnatürlicher Länge, der Körper ist übermäßig aufgedunsen. Sein hoher Schädel ist völlig haarlos, die Augen glühen wie im Fieber. Die einst rosige Gesichtsfarbe ist durch Krankheit und ungesunde Ausschweifungen fahl und grau geworden.
„Wen bringst du mir da?“, ruft er Callistus zu.
„Es ist Ptolemaeus, der König von Mauretanien, göttlicher Kaiser“, antwortet Callistus ergeben.
Unvermittelt bricht Caligula in Gelächter aus, tritt zu Ptolemaeus heran und legt ihm die Hand auf die Schulter. „Menschen, die mich nicht für einen Gott halten, sind im Grunde unverständig, nicht aber bösartig oder straffällig! Der Gerichtshof soll sich mit ihm befassen“, befiehlt Caligula irrsinnig kichernd.
Der Tag des Verhandlungsbeginns kommt heran. Der Gerichtshof versammelt sich im Pantheon, dem Tempel aller Götter.
Der jüdische König Herodes Agrippa und der Hohepriester von Jerusalem lassen sich in einer Sänfte von ihrer palatinischen Villa hinabtragen, um als Zeugen am Gerichtsprozess gegen Ptolemaeus teilzunehmen.
Vor dem Pantheon steigen die beiden Juden aus der Sänfte und schreiten die wenigen Stufen zu dem rechteckigen Vorbau empor, dessen flacher Giebel mit einer Spannweite von hundert römischen Fuß den Portikus überdacht. Mächtige Säulen aus blauem Granit mit weißen Akanthuskapitellen tragen das Dach der Vorhalle. In den Nischen thronen die Erzstandbilder des Caligula.
„Welch kühne Konstruktion!“, ruft Herodes hingerissen und deutet auf das Gebälk. „Sieh nur, es sind Balken aus Erz, die das Gestein der Decke tragen!“
„Sie überspannen gewiss mehr als fünfunddreißig Fuß!“, schätzt der Hohepriester.
In diesem Augenblick tritt der römische Prätor Plautius Pulcher aus einer Seitennische und begrüßt ehrerbietig die jüdischen Besucher.
„Die Halle ist genau hundert römische Fuß breit und vierzig Fuß tief“, sagt er stolz. „Diese Dachgebälkkonstruktion aus Erz wiegt beinahe siebenhunderttausend Pfund. Es ist das erste Mal, dass man Gebälk aus Metall in solchem Ausmaß anwendet.“
Der Römer schließt eines der Bronzetore auf, und die Männer betreten die gewaltige, runde Cella. Überwältigt vom ersten Eindruck, verharren sie unter der Pforte. Flimmernd bricht sich das Licht in den Kassetten der Kuppel.
Aus einem riesigen Lichtauge in der Decke strömt gleichmäßige Helligkeit und verleiht dem Inneren des Tempels eine gespenstische Atmosphäre.
In den Nischen der Rotunde reiht sich Altar an Altar, Standbild an Standbild, alle Götter der Römer.
„Hier ist die Herzkammer des römischen Imperiums“, verkündet Plautius feierlich.
Als ihn Herodes fragend anblickt, fährt der Römer fort: „Das Pantheon symbolisiert Gesetz und Ordnung des Reiches. Nach außen zeigt es die Härte seiner Kampfkraft, den Völkern im Innern jedoch Vielfalt, Pracht und Größe!“
Ein kalter Luftzug streift durch die Halle. Der Hohepriester zieht fröstelnd seine Toga enger und blickt zu den Götterbildern, als suche er bei einem von ihnen Hilfe und Schutz vor dem Unerbittlichen. Resigniert sieht er zur Öffnung der Kuppel hinauf, durch die der Himmel in die Halle zu stürzen scheint.
Plautius Pulcher führt die beiden Juden zur Zeugenbank, die neben der Rednerbühne im hinteren Teil des Pantheons aufgestellt worden ist. Die Vertreter des Senats und der Ritterschaft, die für den Gerichtsprozess abkommandiert worden sind, haben sich schon eingefunden. Seit Caligula die Kaiserkrone trägt, haben sie keine Macht mehr im Reich.
Ptolemaeus sitzt bereits auf der Anklagebank und blickt finster zu den beiden Juden hinüber. Marcus kauert verstohlen in einer Nische; er hält auf einem Wachstäfelchen das Geschehen fest.
Der Prätor Plautius Pulcher führt die Anklage: „Senatoren und Ritter, ihr wisst: Ich war viele Jahre in Judäa. Ich kenne das Land der Juden gut. In dieser Zeit hatten die Söhne des Herodes die römische Provinz unter sich aufgeteilt. Herodes Agrippa, der hier auf der Zeugenbank sitzt, erhebt schwere Vorwürfe gegen den Angeklagten Ptolemaeus, den König von Mauretanien. Er soll den Königsthron von Judäa unrechtmäßig für sich beanspruchen.“
„Er hat unser Volk aufgewiegelt“, ruft Herodes Agrippa dazwischen, „und er verbietet den Juden, dem göttlichen Kaiser die Steuern zu zahlen!“
Der Hohepriester meldet sich zu Wort: „In Jerusalem hörte man ihn sagen, er wolle den Tempel, der von Menschenhand geschaffen ist, niederreißen und in drei Tagen einen anderen aufbauen, der nicht von Menschenhand geschaffen ist. Er macht sich auch der Gotteslästerung schuldig, indem er sich als Sohn Gottes bezeichnet.“
Unter dem höhnischen Beifall der Zuschauer setzt sich der Hohepriester wieder …
„Senatoren und Ritter, hier auf der Anklagebank sitzt der Enkel des großen Marcus Antonius!“, wendet sich Plautius Pulcher an die Mitglieder des Gerichtshofs. „Senatoren und Ritter, hier auf der Anklagebank sitzt aber auch der Sohn von Iuba, den Iulius Caesar von Numidien nach Rom brachte und den Kaiser Augustus zum König von Mauretanien krönte. Ptolemaeus ist also einer von uns.“
„Auch der göttliche Kaiser Caligula spricht von Gotteslästerung“, ruft einer der Senatoren und lächelt spöttisch. „Willst du dich mit Caligula anlegen, Plautius? Wer glaubt denn noch in Rom an diesen Schwarm von Gottheiten, die aus den Bildhauerwerkstätten kommen? In Rom weiß man längst, dass es nur einen Gott gibt, nämlich Caligula!“
Die Mitglieder des Gerichtshofs brechen in Gelächter aus.
„Du irrst, Senator! Für das Volk ist der Himmel immer noch von den alten Göttern Roms oder von den Gespenstern der afrikanischen und asiatischen Geisterwelt bevölkert“, wendet Plautius Pulcher ein und blättert genervt in den vor ihm liegenden Akten der Geheimpolizei. „Trotz alledem, wir müssen zu einem Urteil gegen Ptolemaeus kommen.“
Plautius zieht aus dem Aktenstoß ein engbeschriebenes Pergamentblatt heraus.
„Aus den östlichen Provinzen wird gemeldet, dass sich die Juden geweigert haben, die üblichen Opfer und Gebete vor der Büste Caligulas zu verrichten“, liest der Prätor vor. „Die römischen Beamten geben die Schuld für diese Gotteslästerung diesem Mann, der hier auf der Anklagebank sitzt.“
Eine erwartungsvolle Stille breitet sich in der großen Halle aus.
„Du hörst, was sie alles gegen dich vorbringen, Ptolemaeus“, wendet sich Plautius Pulcher gereizt an den Angeklagten. „Ich frage dich also: Beanspruchst du den Königsthron von Judäa? Hast du die Juden aufgewiegelt? Bezeichnest du dich als Sohn Gottes?“
Ptolemaeus erhebt sich und schlägt mit der flachen Hand gegen die Bretterwand der Rednerbühne.
„Wo ist euer Stolz geblieben, Römer?“, ruft er in die Menge. „Eure Väter regierten einst von Rom aus die Welt! Was ist aus dieser stolzen Stadt geworden? Wer sich heute weigert, dem Kaiser Weihrauch zu streuen, wird zum Staatsgegner! Wer den Armen hilft, wird zum Feind des Volkes erklärt! Wer die Ungerechtigkeit in den Provinzen anprangert, wird ans Kreuz geschlagen!“
Mit unbewegtem Gesicht steht Plautius Pulcher auf der Rednerbühne.
„Das Bild der alten, der römischen Welt versinkt“, fährt Ptolemaeus fort, „und ein neues zieht gleich einem jungen Stern herauf. Die Menschen verändern sich in rasender Schnelligkeit. Die Völker suchen nach neuen Bildern der Götter. Wenn sich aber die alten Götter verdunkeln, so wankt die Ehrfurcht vor ihren Stellvertretern auf Erden, so löst sich die Angst vor den Menschengöttern.“
Plautius Pulcher steigt von der Rednerbühne herunter, tritt an Ptolemaeus heran und sieht ihn anklagend an.
„Bist du der König der Juden?“
Ein nervöses Zucken läuft über die gelblichen Züge des Prätors.
„Ich bin es“, antwortet Ptolemaeus gefasst.
Das Raunen, das durch die Halle geht, bricht plötzlich ab. Die Portale des Pantheons fliegen auf und Prätorianer marschieren mit klopfenden Schritten in die Halle. Wie aus dem Boden gewachsen, steht Caligula in der Mitte des Tempels. Die unerwartete Ankunft des Kaisers versetzt die Senatoren und Ritter in Schrecken. Keiner wagt es, zu ihm hinzutreten. Wie ein Standbild steht er da und starrt zur Kuppel empor. Ein Prätorianer überreicht ihm einen roten Mantel.
„Wo ist der König der Juden?“, gellt Caligulas Stimme durch die Halle.
Draußen bricht ein heftiges Sommergewitter los, aus den Wolken zucken Blitze wie weiße Schlangen, und der Regen fegt über die Dächer Roms.
Als Ptolemaeus, in den roten Mantel gehüllt, aus dem Pantheon tritt, erwarten ihn die Henkersknechte. Gefasst steht der König unter den Säulen des Portikus und blickt zum Himmel empor.
In einer Nebengasse im römischen Vorort Emporium sind Rufe und Schritte zu hören. Menschen laufen neugierig hinzu und spähen in das Halbdunkel der Gasse, von wo der Tumult kommt. Prätorianer umringen Marcus, der sich vergeblich bemüht, zu Wort zu kommen.
Endlich gelingt es dem Bedrängten, sich zu befreien. Doch die Prätorianer folgen ihm unnachgiebig; Schreie und zornige Drohungen hallen von den Hauswänden wider.
Als Marcus um eine Ecke biegt, wird er von einem großen Mann in den dunklen Eingang eines Hauses gezogen. Die beiden Männer stehen mit angehaltenem Atem nebeneinander. Mit Dolchen und Schwertern lärmt die Schar der Verfolger vorüber. Ein Glück! Niemand hat sie gesehen! Marcus wendet sich an seinen unbekannten Retter.
„Danke dir!“ Marcus tritt einen Schritt zurück und mustert sein Gegenüber vorsichtig. „Warum hast du das getan?“
„Es ist nicht edel, wenn viele einen Einzigen jagen!“, antwortet er zornig.
Kurz darauf stehen die beiden sich beim Schein einer Öllampe in einem ärmlichen Zimmer gegenüber. Auf dem Weg hierher konnte Marcus nur den Rücken des anderen Mannes sehen: Er sieht sich einem hochgewachsenen Römer gegenüber, dessen Gesichtszüge in kühnen Linien seine ausdrucksvollen Augen umfassen. Er trägt eine grüne Tunika mit kirschrotem Gürtel.
Mit einer Handbewegung bietet der Hausherr seinem Gast Platz auf einem Schemel an, er selbst setzt sich auf das Fensterbrett.
„Gehörst du zu den jüdischen Gesandtschaften aus Alexandria und Jerusalem?“, fragt der Römer geradeheraus.
„Ja, mein Name ist Marcus. Ich bin Jude. Eigentlich stamme ich aus Alexandria, aber ich kam mit König Herodes‘ Gesandtschaft nach Rom“, antwortet Marcus bereitwillig und nimmt auf dem Schemel Platz. „Hier ist es für uns Juden offenbar nicht mehr sicher. Darf ich deinen Namen erfahren?“
„Mein Name ist Petronius. Ich habe gehört, dass Caligula Jagd auf euch Juden machen lässt. Er hat es vor allem auf diejenigen abgesehen, die im Haus von König Ptolemaeus wohnten.“
„Ja, ich weiß“, seufzt Marcus. „Caligula hat unseren Meister Ptolemaeus ermorden lassen und trachtet jetzt auch uns nach dem Leben.“
„Komm zu mir!“, sagt Petronius zu Marcus und steht auf. „Ich besitze ein Landgut am Tiber.“
„Du hältst den Ort für sicher?“
„Ja, du bist auf dem Gut ungestört! Außerhalb der Stadtmauern fürchtet die Polizei die Räuber der Campania, sie lässt sich nach Einbruch der Dunkelheit dort nicht mehr sehen.“
„Warum tust du das für mich?“, fragt Marcus und erhebt sich vom Schemel.
„Ich habe viele jüdische Freunde in Palästina und Syrien. Auch wenn ich Römer bin, so kann ich das Blutbad, das der Wahnsinnige anrichtet, nicht gutheißen.“
Petronius klatscht mit den Zügeln auf die Pferderücken und lenkt das Gespann zu einem Landgut, das kaum einen Steinwurf neben dem Tiber liegt. Es ist ein aus weißen Quadern errichteter und mit Holzschindeln gedeckter Bau.
Als Petronius im Schritt in den Hof fährt, laufen ihm römische Legionäre entgegen und fassen die Rösser am Kopfgeschirr. Marcus beobachtet die Soldaten mit Argusaugen.
„Das sind meine Legionäre.“ Petronius lächelt, als er Marcus‘ Unsicherheit bemerkt. „Hier auf meinem Landgut bist du vorerst sicher vor den Schergen des Kaisers.“
Petronius übergibt die Zügel einem der Soldaten und steigt vom Wagen. Marcus folgt ihm wortlos.
Die beiden Männer betreten das Atrium, den zentralen Raum des Hauses.
Die Wände sind vom Rauch des Herdes schwarz gefärbt. Durch eine breite Öffnung der Balkendecke fällt Licht ein und erhellt den düsteren Raum.
Marcus ist immer von neuem überrascht von den ärmlichen Landgütern in Rom. Der Fußboden ist aus gestampftem Lehm, die Wände sind mit Kalkmörtel beworfen worden, und die Decke besteht aus einer Lage roher, über klobige Balken gelegter Bretter.
Mitten im Empfangsraum steht der gemauerte Herd, auf dem ständig die Holzscheite glimmen.
Petronius durchschreitet mit seinem Gast das Atrium und begibt sich in das Innere des Wohnhauses, dessen Räume sich aneinanderreihen. Hier kommt das Licht durch Fensteröffnungen, die abends mit Steinplatten verschlossen werden. Der einzige Schmuck besteht aus den gewebten Teppichen vor den Türöffnungen.
An einem Tisch sitzt Philon. Er umarmt seinen Neffen Marcus herzlich.
„Philon! Welch freudige Überraschung!“
„Es freut mich auch, dich wohlbehalten vorzufinden. Wir waren sehr besorgt um dich.“
„Wo ist mein Vater?“, fragt Marcus seinen Onkel sofort.
„Er wird von Caligula gefangen gehalten. Gott sei Dank, dass wenigstens du den Schergen des Kaisers entkommen bist, Marcus.“
„Das verdanke ich Petronius.“
Legionäre tragen einen Weinkrug, Becher und ein Wassergefäß herein. Petronius schenkt ein, vermischt den Wein mit Wasser und trinkt seinen Gästen zu.
„Auf unsere Gesundheit!“
„Darauf, dass wir den Häschern entgangen sind!“
Auf ein Zeichen des Römers bringt einer der Legionäre einen hölzernen Krummstab an den Tisch. Neugierig betrachten die Gäste den Stab.
„Das ist ein Lituusstab“, erklärt Petronius den beiden Juden. „Zur Zeit unserer etruskischen Vorfahren war er die Insignie der römischen Könige. Auch eure Pharaonen führten diesen Krummstab als Zeichen ihrer göttlichen Macht mit sich. Kaiser Augustus überreichte mir den Lituusstab, nachdem ich ins Augurenkollegium aufgenommen worden war. Aus dem Flug der Vögel hat unser Kollegium beim Augurium zu ergründen versucht, ob das Todesurteil des Gerichtshofs gegen Ptolemaeus den Göttern genehm sei. Sie haben uns ihre Entscheidung mitgeteilt: Es ist nicht ihr Wille, dass Ptolemaeus sterben musste. Caligula missachtete den Götterwillen und ließ Ptolemaeus im Carcer Tullianus töten. Es ist ein großes Unrecht geschehen. Wir haben die Götter erzürnt.“
Petronius fährt sich durch die Haare und seufzt. „Jetzt schickt mich Caligula als Statthalter wieder in die Provinz Syrien zurück. Ich soll im Jahwe-Tempel in Jerusalem eine Statue Caligulas aufstellen. Ich befürchte, das wird Ärger mit den Juden geben. Ihr könntet mich begleiten, wenn ich nach Syrien segle.“
Philon nimmt den Krummstab in die Hand und betrachtet ihn lange.
„Ich habe in Alexandria gehört“, sagt er, „wie ihr Römer mit Gewalt gegen die Juden in Judäa vorgeht!“
Da Petronius nicht antwortet, erfasst Philon seinen Arm: „Was seid ihr doch für Ungeheuer, ihr Römer!“
Petronius lächelt, aber es liegt ein Unterton von Ohnmacht in seiner Stimme, als er sagt: „Durch meine Hand wird kein Jude mehr sein Leben verlieren.“
Der Statthalter von Syrien verharrt einen Augenblick in Gedanken, dann fährt er fort: „Noch kann ich hier in Rom für euch Juden nichts machen! Nichts als euch beiden die Überfahrt nach Syrien anzubieten. Aber lasst uns draußen weiterreden; die Luft am Tiber ist klar und erfrischend wie sein Wasser.“
Petronius erhebt sich und führt seine Gäste durch den Innenhof in den ummauerten Garten hinter dem Landhaus. Es ist angenehm kühl hier, und wenn alles ganz still ist, vernimmt man das Zwitschern der Vögel, die im Laubdach über dem Haus nisten. Am Eingang steht ein mächtiger Ahornbaum, der seine Zweige über die weiße Gartenmauer reckt.
„Ihr fragt euch“, setzt der Römer das Gespräch fort, „warum wir Auguren nichts gegen Caligula unternehmen können.“ Er deutet auf den Fluss zu seiner Rechten und fährt fort: „Seht den Tiber! Weich schmiegt er sich an die Ufer, folgt jeder Biegung; den Felsen weicht er in Ehrfurcht aus und scheut sich nicht, einen Umweg zu machen. So wie der Tiber ist auch Caligula. In den ersten Monaten seiner Regentschaft machte sich der Kaiser beliebt, er beschloss Steuersenkungen, setzte Hochverratsprozesse aus und gewährte den bereits mit der Verbannung bestraften Senatoren die Rückkehr. Der Prätorianergarde ließ er ein Geldgeschenk zukommen und die Gunst des Volkes erkaufte er sich mit Wagenrennen, Tierhetzen und Gladiatorenkämpfe. Wie ein Bergbach nach einem Gewitterregen anschwillt und alles mitreißt, was sich ihm in den Weg stellt, so erfolgte auch Caligulas radikaler Regierungswechsel. Wer sich ihm in den Weg stellte oder wer ihn kritisierte, ließ er ermorden. ‚Sollen sie mich doch hassen, solange sie mich fürchten‘, sagte er mir.“
Die Augenpaare des Römers und der Juden folgen dem Lauf des Flusses; Schweigen herrscht zwischen den Männern. Aus den Ställen kommt das Schnauben und Stampfen der Rösser.
Gedankenvoll erhebt sich Petronius und geht einige Schritte bergab zu dem kleinen Felsvorsprung, der wie eine Kanzel über das Flusstal hinausragt.
Die Sonne ist schon fast hinter den fernen Hügeln verschwunden.
Was werden die Götter unternehmen, deren Willen so schändlich missachtet worden ist?
Der Augur schaut über das Land und klammert sich an seinen Krummstab.
Schwarz und drohend liegt der Fluss vor ihm. Eine Abteilung römischer Legionäre marschiert an seinem Ufer, die Schatten verschwimmen im aufziehenden Dunkel des Abends. Schließlich dreht sich Petronius fröstelnd um und geht zum Haus zurück.
Die alexandrinischen Juden befinden sich bereits an Bord der Bireme, die Petronius zum Truppenlager in der galiläischen Hafenstadt Ptolemais bringen soll. Die jüdische Gesandtschaft in Rom ist gescheitert; Kaiser Caligula hat die Alexandriner versetzt, verraten und lässt Jagd auf sie machen. Die Zeit drängt.
Allerdings verzögert sich die Abreise, da Tiberius, der Vater von Marcus, noch immer von Caligula gefangen gehalten wird.
Marcus denkt an seine Braut Berenike. Sie ist die Tochter von König Herodes Agrippa. Schon vor der Reise nach Rom hatte sein Vater Tiberius als Oberhaupt der Familie mit dem Vater der Braut ihre Aussteuer festgesetzt und die Verlobung zwischen ihm und der dreizehnjährigen Berenike bekanntgegeben. Sie waren sich in Jerusalem zum ersten Mal begegnet. Sie wussten, dass Ehen in ihren Familien nicht durch persönliche Leidenschaften oder Liebe bestimmt werden.
Berenike erhielt den üblichen Goldring als Zeichen der Verlobung. Aufgrund der bevorstehenden Reise nach Rom wurde die Hochzeit jedoch verschoben.
Petronius lässt sich noch am selben Tag Ptolemaeus‘ Tod vom Aufseher der Hinrichtung im Carcer Tullianus bestätigen. Normalerweise werden die Hingerichteten auf der Gemonischen Treppe zur Schau gestellt oder mit einem Haken die Treppe hinab durch die Stadt geschleift. Nach der Entehrung der Delinquenten werden die sterblichen Überreste regelmäßig in den Tiber geworfen, in dem sie hinab ins Tyrrhenische Meer treiben. Petronius will diese Demütigung verhindern. Am Abend führt er die Alexandriner zum Carcer Tullianus auf dem Forum Romanum, wo sie Ptolemaeus‘ Leichnam nach jüdischem Brauch in ein Tuch wickeln und in einen einfachen Sarg legen. In feierlichem Schritt bewegt sich der kleine Aufzug in der Abenddämmerung auf das Forum Romanum. Einige Passanten erhaschen einen letzten Blick auf den Sarg. Sie wundern sich über den abendlichen Leichenzug.
Philon und Marcus stehen auf dem Forum Romanum. Wenige Schritte vor ihnen öffnet sich ein kleiner schwarzer Schacht. Stumm beobachten sie die in weißes Linnen gekleideten Juden, die mit dem Sarg an ihnen vorbeiziehen. Marcus blickt zu Petronius hinüber, der ebenfalls vor der dunklen Pforte steht, durch die nun Ptolemaeus eingehen soll. Er vermag seinen Blick nicht von dem Grab zu wenden, in das der Sarg mit Seilen heruntergelassen wird. Hammerschläge und gedämpfte Rufe hallen aus dem Schacht, wo die Juden den Sarg verschließen. Danach steigen sie aus dem Schacht herauf, treten an die Seilzüge, an denen der Lapis Niger, der Schwarze Stein, hängt, und lassen die schwere Marmorplatte fast lautlos in die Tiefe herab.
Ptolemaeus ist nun mit seinen Ahnen im Tod vereint.
Drei Tage liegt die Bireme am Tiberkai, bevor Petronius mit den Juden an Bord geht. Es ist Petronius, Marcus und Philon nicht gelungen, Tiberius freizubekommen. Noch während der Kapitän den Anker lichten lässt, herrscht in der Stadt eine große Aufregung. Frauen haben das Grab des Ptolemaeus leer vorgefunden, der Schwarze Stein ist entfernt worden.
Am Abend des ersten Tages erreicht der Zweiruderer Antium, am zweiten Tag Kap Gaeta und Formiae, die Hafenstadt an der Via Appia. Hier halten sich Petronius und die Juden einen Tag in einer alten römischen Villa auf. Am Abend lichtet der Kapitän wieder den Anker und läuft aus. Landmarken und Gestirne bestimmen den Kurs der Bireme. In einer mondhellen Nacht kreuzt das Ruderkriegsschiff die Höhe von Volturno. Die Reisenden erkennen deutlich die in der Mündung des Flusses liegenden Frachtkähne. Man hört den klirrenden Schritt der Posten, die die Kriegssklaven bewachen.
Stunden später tauchen die dunklen Schatten einiger Inseln vor dem Bug des Zweiruderers auf, links davon schiebt sich Kap Misenum ins Gesichtsfeld. Es beginnt schon zu dämmern, als der Kapitän das Vorgebirge kreuzt und in die Bucht einbiegt.
Tage später gleitet die Bireme über klaffende Tiefen, über Schlunde und Kuppen dahin. Nichts sieht man vom römischen Todesreich Hades oder der jüdischen Schlucht von Hinnom, die der Sage nach vom Tyrrhenischen Meer bedeckt sind. Die zerbrechliche Schale des Schiffes ritzt gerade einmal die Haut der See, das verletzliche Menschenleben, das sich darin befindet, ahnt nur dunkel, über welcher Unterwelt es schwebt. Über dem Schiff wölbt sich der Götterhimmel der Römer; Wolken treiben dahin und geben manchmal den Blick frei ins himmelblaue Paradies der Juden. Petronius liegt unter dem weißen Sonnensegel an Deck der Bireme. Er ahnt nicht, dass im Bauch seines Schiffes der einbalsamierte Leichnam des mauretanischen Königs Ptolemaeus liegt. Die Juden haben ihn in der Nacht vor der Abreise heimlich an Bord gebracht.
Aus der Tiefe des Mitteldecks tönt das Pochen der Paukatores, das Ächzen der Ruder und das Keuchen der Sklaven. An der Schiffsflanke rauschen die Wogen, und über das schlaffe lateinische Segel ziehen kreischende Möwen.
Das Meer hier in Griechenland ist mit grünweißen Inseln bedeckt. Hinter jeder Durchfahrt tauchen neue Eilande auf. Es ist, als habe das Land ein weitmaschiges Netz über das ägäische Meer geworfen.
Marcus‘ Gedanken fliegen dem Schiff voraus. Was ist das für eine seltsame Faszination, die von diesem mauretanischen König Ptolemaeus ausgeht, den die Römer getötet haben? Warum wandern seine Gedanken immer wieder zu jenem Mann, der sich in Rom und in den Provinzen für die Armen eingesetzt hat? Marcus schließt die Augen, wie Schemen jagen sich die Bilder seiner Erinnerung.