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6 // Werner S.

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»Ist Opa tot?«, fragte Jinjin.

»Nein«, flüsterte Vera, »er schläft.«

»Aber er atmet nicht«, bemerkte Yingtao.

»Opa macht das mit den Ohren.«

»Das geht doch nicht«, amüsierte sich Jinjin, und die freche Yingtao hielt Heinlein gleich die Nase zu.

Er wachte auf und schnappte nach Luft.

Die Zwillinge kicherten, und selbst dabei glichen sie sich wie ein Ei dem anderen: rehbraune Mandelaugen, Stupsnasen und pechschwarzes Haar, das zu schulterlangen Zöpfen geflochten war. Nur die Farbe der Haarbänder half, die beiden auseinanderzuhalten: Jinjin, die Goldene, trug ein rotes Bändchen. Yingtao, die Kirsche, ein blaues.

»Opa ist aufgewacht«, feierten sie Heinleins Wiederkehr von einer viel zu kurzen Reise durch die Nacht, die erst bei Tagesanbruch begonnen hatte.

Bis dahin Bimmeln ohne Unterlass.

Der Innenminister und sogar der Landesvater hatten sich nach seinem Befinden erkundigt. Mutig sei er gewesen, selbstlos … eine größere Katastrophe verhindert … nicht auszudenken, wenn … eine Belobigung, eine Einladung in die Staatskanzlei … jetzt gelte es gesund zu werden … ausruhen.

Dann meldete sich Uschi, seine Sekretärin. Alles klar bei dir?

Sie hatte Vera und Tom informiert. Tom hatte betont nüchtern die Fakten abgeklopft, Vera ihre Besorgnis hinter fadenscheiniger Fröhlichkeit verborgen. Sie war es gewesen, die ein Familientreffen angeordnet hatte, sobald er aufgewacht war.

Tom, der kühle Stratege.

Vera, die letzte, verbliebene Familienklammer.

Jinjin und Yingtao sprangen aufs Bett, hüpften und tollten den zerknautschten Brummbär endgültig wach.

»Nicht so stürmisch«, rief Vera sie zur Ordnung.

Doch Heinlein hätte sich keine bessere Reanimierung wünschen können. Er packte die beiden Pingpongbälle, balgte sich und raufte mit ihnen, schickte Kopfschmerzen und schlechte Laune in die Ferien.

»Das reicht«, bestimmte Vera nach einer Weile. Sie schnappte sich Jinjin und Yingtao. »Ab nach unten, Frühstück ist fertig!«

Die beiden polterten die Treppe hinunter. Vera nutzte den Moment der Stille, der seltenen Zweisamkeit zwischen Vater und Tochter.

Schweigen. Ein langer Blick und ein Seufzen von Vera, als müsse sie die gesamte Last der Familie tragen und nicht mehr er oder Claudia, seine Ex.

»Geht es dir gut?«

»Ja, es ist nichts. Bin noch an Ort und Stelle verarztet worden.«

»Tian wird dich sicherheitshalber noch mal untersuchen.« Veras Ehemann, ein chinesischer Arzt, der beste Schwiegersohn, den sich Heinlein für seine Tochter hatte wünschen können. Er begleitete die inzwischen berühmt gewordene Violinistin auf ihrer Tour um den Globus, erzog und unterrichtete die Kinder, praktizierte sowohl die westliche als auch die traditionelle chinesische Medizin und war ein bescheidener, wenngleich etwas introvertierter Mann aus gutem Haus.

Schon morgen Abend reisten sie wieder ab. Hamburg, Kopenhagen, Oslo … Vera war das Goldstück der Familie, schön, talentiert und gescheit. Heinlein hätte rund um die Uhr vor Stolz platzen können.

»Komm, lass uns frühstücken.« Er setzte an, sich aus dem Bett zu schwingen, als ihm die Überheblichkeit in Rücken und Beine fuhr. Mit Mühe unterdrückte er den Aufschrei.

»Hast du Schmerzen? Soll ich Tian rufen?«, erschrak Vera.

»Quatsch. Alles gut.«

»Du kannst mir nichts vormachen. Du hast doch was«, zweifelte sie.

»Nur ein bisschen eingerostet. Geht gleich vorbei.«

Irgendwo im Lendenwirbelbereich saß die Hexe und ritt ihren verdammten Besen.

»Tian!«, rief Vera.

»Lass, bitte, es ist nichts.« Unter Schmerzen richtete er sich auf.

Im Wohnzimmer lief der Fernseher, davor lümmelte Tom auf dem Sofa. Mit einem Nicken grüßte er Heinlein, seine Aufmerksamkeit gehörte den Nachrichten.

»… ist die Identität des Attentäters weiterhin unbekannt, auch sein Motiv. Nach ersten, unbestätigten Informationen soll es sich um einen Mann aus dem vorderasiatischen Raum handeln …«

Woher kam das so plötzlich?

Der Körper des Attentäters war von der Explosion völlig zerfetzt worden, er hatte nach ersten Erkenntnissen weder Tasche noch Ausweis bei sich gehabt. Die Rechtsmediziner würden Tage benötigen, um etwas zu rekonstruieren, das erkennungsdienstlich zu gebrauchen war.

Im Esszimmer duftete es verführerisch nach frisch gebrühtem Kaffee und Jasmintee, Hörnchen, Spiegelei und Schinken. Die Zwillinge saßen bereits auf ihren Plätzen, Vera füllte Gläser mit Orangensaft.

»Tom, Tian … Frühstück.«

»Fangt ohne mich an«, rief Tom herüber, eine weitere Nachricht verdunkelte den ohnehin schon trüben Samstagvormittag.

»In Frankreich ist ein am Coronavirus erkrankter Mensch gestorben. Es ist der erste Tote in Europa. Der chinesische Tourist stammte aus der Provinz Hubei …«

Die Zwillinge erstarrten und sahen fragend zu ihrer Mutter.

»Onkel Li geht es gut«, beruhigte Vera, »er wohnt ganz weit weg von Wuhan … Tom, mach endlich die Glotze aus!« Sie ging zum Fenster, klopfte. »Tian!«

Heinlein ließ sich vorsichtig auf einen Stuhl nieder. Durchs Fenster sah er Tian im Garten telefonieren. Für einen Chinesen war er erstaunlich groß, ein schlanker und modebewusster Mann Mitte vierzig, der in Deutschland und Italien Medizin studiert hatte.

»Macht euch keine Sorgen, Kinder«, sagte Heinlein, »dieses Virus ist nicht gefährlicher als eine normale Erkältung.«

»Wer behauptet das?«, fragte Tom und setzte sich ihm gegenüber. Der Fernseher im Wohnzimmer lief weiter.

»Die Ärzte aus diesem Institut in Berlin«, antwortete Vera. »Nur wenige Menschen würden sich infizieren, und wir hier in Deutschland schon gar nicht.«

»Was ist mit den Fällen in Bayern und Hessen?«, hakte Tom nach, »die sind in Quarantäne.«

»Wenn selbst unser Gesundheitsminister von Einschränkungen des Reiseverkehrs von und nach China nichts wissen will«, sagte Vera, »und noch nicht einmal Fiebermessen an den Flughäfen für angebracht hält, dann brauchen wir uns hier erst recht keine Sorgen zu machen. Oder?«

»Genau so ist es«, bestätigte Heinlein mit Blick auf die verschreckten Zwillinge.

Doch Tom ließ nicht locker. »Meiner Kenntnis nach hat es unser Gesundheitsminister gerade mal bis zum Cheflobbyisten eines Verlags gebracht. Ein richtiger Gesundheitsexperte hat eine bessere Qualifikation für den Job, an dem Menschenleben hängen.«

»Hör auf zu stänkern«, maßregelte ihn Heinlein.

»Solche Politiker, ohne Kompetenz und Talent, die externe Berater mit Millionen füttern, haben uns kaputt gespart und lächerlich gemacht. Die Truppe hat inzwischen so nen Hals.«

Tian kam herein, bemühte sich um ein Lächeln.

»Guten Morgen, Herr Schwiegervater.« Die alte Schule, es ging Heinlein jedes Mal hinunter wie Öl.

»Er heißt …«, sagte Vera.

»Schorsch. Entschuldigen Sie.« Tian seufzte leise.

»Alles gut?« Sie fasste seine Hand.

»Ja, sicher. Später …«

»Dann lasst uns endlich frühstücken. Schön, dass wir endlich wieder mal alle zusammen sind.«

Nicht ganz.

»Wo ist Oma?«, fragte Jinjin.

»Ist sie wieder im Fernsehen?«, legte Yingtao nach.

Gott bewahre. Heinlein stupste Tom unter dem Tisch an. Der zuckte die Schultern. Das ließ hoffen, dass sie von den politischen Absurditäten von Heinleins Ex verschont blieben.

»Oma hat noch was zu erledigen«, erklärte Vera. »Wer will Kaffee, wer Tee?«

Der Frühstückstisch war reich gedeckt. Es trafen sich westliche Speisen in Form von Hörnchen, Brötchen, Butter, Marmelade, Eier, und östliche: Hirsebrei mit Sesampaste, Nudelgerichte, frittierte Teigstäbchen und Jianbing – ein Crêpe aus Getreidemehl mit Ei, gehackten Frühlingszwiebeln, Koriander, süßer Sojabohnenpaste und Chilisoße.

»Tian, kannst du dir Schorschs Rücken mal ansehen?«

»Es ist nichts«, versicherte Heinlein.

»Wie lange hast du die Probleme schon?«, fragte Tian.

»Nur ein leichtes Ziehen. Kaum der Rede wert.«

»Das sah vorhin ganz anders aus«, widersprach Vera.

Und Tom fügte süffisant hinzu: »Man ist halt keine dreißig mehr.«

»Mit dir nehme ich es allemal auf.«

Tom war nicht mehr der Halbstarke, den man im Auge behalten, dem man ständig hinterherrennen musste, um ihn vor sich selbst zu schützen, er war seinen wilden, widerspenstigen Jahren entwachsen – nachdem er eine Weile ziellos durch die Welt gestolpert war.

Feiern, abhängen, einen durchziehen, später mehr. Viel mehr.

In einem türkischen Knast war er aufgewacht. Heinlein musste Beziehungen spielen lassen, das Auswärtige Amt einschalten, die ganze Litanei. Nach vier Wochen holten Claudia und Heinlein Tom ab. Es brauchte nicht viele Worte, er hatte seine Lektion endgültig gelernt, bewarb sich auf die Ausschreibung des IT-Kommandos der Bundeswehr und bekam den Job.

Jetzt saß er mit akkurat geschnittener Frisur am Tisch, im Schrank eine gebügelte Uniform und blank geputzte Stiefel. Für Heinleins Geschmack fast schon ein bisschen zu viel des Guten.

»Die Spezialeinsatzkommandos kamen in den frühen Morgenstunden«, tönte es aus dem Wohnzimmer herüber. »Die groß angelegte Razzia galt den Mitgliedern und Unterstützern einer mutmaßlich rechten Terrorzelle …«

Heinlein horchte auf, und auch Tom war nicht länger beim Tischgespräch.

»Einer der festgenommenen Männer soll als Verwaltungsmitarbeiter bei der Polizei in Nordrheinwestfalen arbeiten …«

Heinlein zwang sich auf die Beine, Tom folgte ihm hinüber ins Wohnzimmer. Die Nachricht war gestern schon in den Medien gewesen, Heinlein hatte sich wegen des Empfangs der Minister nicht weiter damit beschäftigen können.

»Ziel von Werner S. und zwölf weiteren deutschen Männern soll es gewesen sein, die Staats- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik zu erschüttern. Die Generalbundesanwaltschaft geht davon aus, dass die mutmaßlichen Rechtsextremisten Anschläge auf Politiker, Muslime und Asylbewerber geplant hatten, um bürgerkriegsähnliche Zustände auszulösen. Unterstützer der Terrorzelle sollen finanzielle und tätliche Mithilfe bei den Anschlägen zugesichert haben, auch die Beschaffung von Waffen. Bei einem Beschuldigten wurde eine ähnliche Schusswaffe gefunden, wie sie der antisemitische Attentäter von Halle …«

Der Bildschirm wurde schwarz, der Ton verstummte.

»Könnt ihr nicht ein Mal die Politik sein lassen?«, beschwerte sich Vera mit der Fernbedienung in der Hand. »Es ist Wochenende, Familie ist angesagt.«

Tom murrte und auch Heinlein war diesmal nicht bereit, klein beizugeben. »Das ist wichtig«, sagte er, »schalt wieder an.«

»Entscheide dich«, drohte Vera. »Wir oder deine blöde …«

Die Entscheidung traf Tian. Er nahm ihr die Fernbedienung aus der Hand und schaltete den Fernseher an.

»Es dauert nicht lange.«

Erbost stapfte Vera ins Esszimmer zurück. Das war die Kehrseite ihrer Talente – das aufbrausende Temperament ihrer Mutter.

Als sich Bild und Ton wieder einstellten, äußerte sich gerade eben jene Mutter, die Landtagsabgeordnete Claudia Knorr, zum Attentat von letzter Nacht. Sie gab das Interview vor dem Gebäude des Hauptbahnhofs, im Hintergrund die große Bahnhofsuhr. Zufall oder nicht, die Zeiger standen auf fünf vor zwölf.

»Wer die Augen noch länger vor der islamistischen Gefahr verschließt, wird morgen sein blaues Wunder erleben. Dieser Einwanderungsterrorismus muss ein Ende finden. Jetzt, sofort, bevor der nächste Shisha-Raucher eine Bombe zündet und uns alle ins Unglück reißt …«

»Mach das Weibsbild weg«, grollte Heinlein, doch Tian fand die entsprechende Taste nicht auf Anhieb.

Da eilten die Zwillinge herein. »Oma ist im Fernsehen!«

Heinlein lachte bitter auf. Diese doppelzüngige Schlange von einer Oma würde ihre Enkel und den Schwiegersohn nur so lange dulden, wie sie ihr in der Außendarstellung dienlich waren.

Rassismus? Schaut auf meine Familie.

Zum Leidwesen der Zwillinge ging der Fernseher aus und Tian schickte sie zurück in die Küche.

»Soll ich mir deinen Rücken jetzt mal ansehen?«, fragte er.

»Nicht nötig«, tat Heinlein ab, »es ist wirklich nichts.«

Tom widersprach. »Herrgott, Vater. Lass Tian endlich seinen Job machen.«

Er gab nach. »Von mir aus. Wenn ihr unbedingt wollt. Vertane Liebesmüh.«

Während Heinlein etliche Verrenkungen machen und Tian Antworten bezüglich seines Lebenswandels und seiner Essgewohnheiten geben musste, bat er Tom um einen Gefallen.

»Kannst du den Hintergrund dieser Terrorzelle, speziell diesen Werner S. für mich checken?«

Reichten die Unterstützer von Werner S. in Heinleins Verantwortungsbereich hinein?

Es gab da einige Kandidaten unter seinen Leuten, die in Chats und auf Demos rechter Gruppierungen auffällig geworden waren oder sich bei privaten Schießübungen und Feiern ungeniert als Befürworter einer neuen Ordnung outeten.

»Was genau meinst du mit Hintergrund?«, fragte Tom.

»Alles, was die offiziellen Berichte nicht hergeben.«

»Du weißt, dass das der Geheimhaltung unterliegt. Auf solche Nachforschungen hat der militärische Abschirmdienst ein Auge.«

Manchmal wünschte sich Heinlein seinen alten Tom zurück, der sich um derlei Hindernisse nicht scherte, sie als Herausforderung betrachtete, um ein kniffliges Rätsel zu lösen.

»Komm schon, ihr als Cyber-Unit habt doch ganz andere Möglichkeiten als ich.«

»Das kann uns beide den Job kosten.«

»Du machst das schon …«

Heinlein jaulte auf, Tian hatte das Versteck der Hexe in seinem Rücken aufgespürt.

»Vera«, rief Tian in die Küche. »Kannst du bitte die Nadeln aus dem Auto holen?«

Heinlein schluckte. »Was für Nadeln?«

Gallo rosso

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