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4 // Helmbrecht
ОглавлениеAls hätte die Welt ihre Höhen und Tiefen verloren.
Was an Heinleins Ohr drang, klang dumpf und hohl. Dazu ein verstörender, spitzer Ton und gelegentlich auftretender Schwindel, es war ihm auch etwas übel. Die Schürfwunden an Händen, Knien und Ellbogen waren nicht der Rede wert und von einem Sanitäter versorgt worden.
Wir bringen Sie jetzt ins Krankenhaus.
Nicht nötig, es geht mir gut.
Sie stehen unter Schock.
Definitiv, der Schock einer missglückten Deeskalation.
Ein toter Attentäter unbekannter Identität und mit ungewissem Motiv, mehrere verletzte Geiseln, Sachschaden in Millionenhöhe, Zugausfälle, verängstigte Reisende und Bürger.
Wenigstens hatten die Minister und Staatssekretäre, Medien und Zuschauer an den Fernsehgeräten nichts mitbekommen, die Meldung hatte sich erst zum Ende der Veranstaltung verbreitet, als Alkohol und Ausgelassenheit am Höhepunkt angelangt waren und Handys kaum Gehör fanden.
Das würde sich in den Morgenstunden ändern.
Der ICE-Wagen wie ein geborstener Silvesterböller, Trümmer auf den Gleisen, Bilder der Verletzten aus dem Krankenhaus, der Pressesprecher hatte einiges zu erklären.
Die Oberstaatsanwaltsschaft würde die Leitung der Ermittlungen, der Staatsschutz des LKA die Durchführung übernehmen, Deckert den Polizeipräsidenten Heinlein auf dem Laufenden halten.
Es geht ihm gut, nur kleinere Verletzungen.
Wir können stolz auf ihn sein!
Kurz nach Mitternacht, alleine im Büro. Alle Telefone aus, Heinlein wollte ungestört sein, er musste nachdenken.
Mit zittriger Hand goss er ein, leerte das Glas in einem Zug.
Gallo.
Was zum Teufel hatte das Gespenst wieder zum Leben erweckt?
Nach so vielen Jahren?
Mit Kriminalhauptkommissar Helmbrecht hatte alles begonnen, auf dem Weihnachtsmarkt vor fünf Jahren …
Helmbrecht hatte zum Glühweintrinken geladen, Treffpunkt ein Ausschank am Oberen Markt. Die meisten Kollegen schlugen die Einladung aus, denn Helmbrecht hatte seine Eigenarten, die sich mit steigendem Alkoholkonsum potenzierten und für wenig Freude sorgten. So auch an diesem fortgeschrittenen Abend, als die Besucher des Weihnachtsmarktes sich bereits in die Gaststätten zurückgezogen und die Händler ihre Verkaufsstände geschlossen hatten. Nur dieser eine Ausschank durfte die Läden nicht schließen, da Helmbrecht mittels Polizeimarke und einer unverhohlenen Drohung darauf bestand, noch einen für seine Freunde zu spendieren.
Explizit davon ausgeschlossen war Kollege Alexander Deckert, den Heinlein vom SEK in Nürnberg mit in seine Heimstadt gebracht hatte, als er zum neuen Polizeipräsidenten berufen worden war. Niemand wusste, warum sich Helmbrecht auf Deckert eingeschossen hatte. Sie kannten sich nicht und hatten auch niemals miteinander zu tun gehabt. Heinleins Versuche, den betrunkenen und aggressiven Helmbrecht zu besänftigen, schlugen fehl, sodass man beschloss, auf die letzte Runde zu verzichten und nach Hause zu gehen.
Claudia, damals noch Heinleins Frau, lud jedoch hinter vorgehaltener Hand Kilian, Pia und auch Deckert zu Tee und Christstollen in die warme Wohnung ein. Der kleine Raphael, den Kilian auf den Schultern getragen, dann in den Armen gewiegt hatte, war müde und gehörte ins Bett. Er rief immer wieder nach Pia, seiner Mutter, die mit Helmbrecht und Deckert zurückgeblieben war.
Im Nachhinein wusste niemand mehr so genau, wieso es bei der Verabschiedung zur offenen Auseinandersetzung zwischen den beiden gekommen war. Nur so viel: Heinlein ging mit Kilian, Raphael und Claudia vor, während Pia versuchte, die beiden Streithähne auseinanderzubringen, Deckert schloss zu ihnen auf …, als es einen ohrenbetäubenden Knall tat, Flammen und Rauch in den Nachthimmel stiegen und es Trümmer regnete.
Kilian fuhr der Schrecken in die Knochen, er eilte zurück und sah, was er niemals hätte sehen dürfen …
Die Kriminaltechniker machten ein defektes Ventil an einer Gasflasche als Ursache für die Katastrophe aus. Schwieriger war es für die Rechtsmediziner, Pias Kollegen, die Leichenteile den drei Getöteten zuzuordnen.
Der Wirt, Helmbrecht … und Pia.
Seit diesem Abend auf dem Weihnachtsmarkt war mit Kilian nicht mehr zu reden gewesen. Er riss die Ermittlungen an sich, obwohl sie überhaupt nicht in seinen Verantwortungsbereich fielen. Er traktierte Deckert mit Fragen und später mit Vorwürfen, wieso, weshalb, warum … Doch Deckert konnte nichts anderes sagen, als dass er Helmbrechts Angriffe auf die sich anbahnende Konkurrenzsituation im Dezernat zurückführte. Deckert war der aufstrebende Mann und er würde eher früher als später Helmbrecht als Dezernatsleiter ablösen. Die Rückendeckung seines Mentors, des Polizeipräsidenten Heinlein, hatte er obendrein, denn Helmbrecht war zu einem undurchsichtigen und vor allem unkontrollierbaren Faktor geworden.
Das reichte Kilian nicht, er begann im Umfeld Helmbrechts zu ermitteln, dessen letzte Fälle aufzurollen und dessen Kontaktpersonen anzusprechen. Irgendwo musste es einen Hinweis auf den Mord an Helmbrecht geben, dazu hatte sich Kilian mittlerweile verstiegen. Die beschwichtigenden Worte seines früheren Partners und Freunds Heinlein liefen ins Leere, auf den ersten Verweis folgte der nächste, dann Dienstaufsichtsbeschwerden von genervten Kollegen und schließlich hatte Heinlein Kilian zu dessen eigenem Schutz aus dem Verkehr gezogen. Sie stritten, sie gingen sich fast an die Kehle, dann knallten die Türen und Kilian verschwand im Nirgendwo.
Grußlos.
Bis er eines Tages wieder vor ihm stand – in löchrigen Jeans und abgewetzter Bikerjacke, mit Bart und langen Haaren, als käme er gerade von einem verregneten Rockkonzert zurück.
Gallo.
Der Name sei bei seinen Ermittlungen aufgetaucht. Es handele sich um eine unbekannte Person, die im Hintergrund die Fäden ziehe.
Welche Fäden?
Eine Litanei wildester Geschichten, Gerüchte und Verschwörungstheorien über eine neue Mafiaorganisation, die Anfang der Neunzigerjahre erstmals in Leipzig in Erscheinung getreten sei. Er komme jetzt nicht mehr weiter und brauche Heinleins Hilfe. Die Datenbanken von LKA und BKA müsse der für ihn anzapfen …
Was für ein Wahnsinn.
Aber okay, Heinlein tat ihm den Gefallen.
Ergebnis: Nichts, absolute Fehlanzeige. In keiner Ermittlung, keiner Befragung oder Zeugenaussage war der Name, das Wort oder die Bezeichnung Gallo aufgetaucht. Nirgends.
Bis heute Nacht.
Gallo … you Gallo?
Als hätte der Attentäter Gallo nicht gekannt und geglaubt, ihn auf den Gleisen zu treffen.
Gallo …
Und noch ein Wort war dem seltsam verstörten Mann über die Lippen gekommen.
Ha … Habibi?
War das das Wort gewesen?
Heinleins Schädel brummte und bockte vor Schmerz, er rieb sich die Schläfen. Bildete er sich das nur ein oder hatte er das Wort tatsächlich gehört?
Habibi … Was bedeutete das?
Eine Hand schob sich in sein Blickfeld, winkte.
Vanja Berger. Schlimmer als ein Sack voller Läuse.
»Was ist?!«, schnauzte er sie an und hörte sich selbst wie unter einer Glasglocke sprechen.
»Ich hatte angeklopft … Wie geht es Ihnen?«
»Gut. Was wollen Sie?«
»Mich nach Ihnen erkundigen.« Sie machte wirklich den Eindruck, dass sie sich sorgte.
Aber warum? Sie kannten sich so gut wie gar nicht.
»Es geht mir gut«, wiederholte Heinlein um Freundlichkeit bemüht, »danke der Nachfrage. Und nun gehen Sie bitte nach Hause. Morgen früh erwarte ich Sie ausgeschlafen und einsatzbereit.«
»Das werde ich sein. Sie können sich auf mich verlassen.«
Doch sie ging nicht, glotzte ihn an, als wolle sie seine Gedanken lesen, ihn mit ihrem bohrenden Blick durchdringen.
»Was ist noch?«
Sie zögerte, überlegte, doch dann: »Ich habe mich gefragt, was zwischen Ihnen und dem Attentäter vorgefallen ist.«
»Nichts. Warum interessiert Sie das?«
»Sie haben keine sechzig Sekunden mit ihm gesprochen, und schon knallte es.«
»Wollen Sie etwa meine Vorgehensweise kritisieren?!«, fuhr er sie an, und schon bretterte der ICE noch einmal durch seinen Schädel, dass es pochte, hämmerte, pfiff und quietschte.
Sie beantwortete die Frage nicht, stattdessen: »In welcher Sprache hat er gesprochen?«
»Englisch … gebrochen.«
»Was hat er gesagt?«
Schluss damit, er war nicht im Zeugenstand. »Gehen Sie jetzt.«
Sie setzte erneut an, doch überlegte es sich anders.
»Gute Nacht, Herr Polizeipräsident.« Mit einem Lächeln machte sie kehrt.
Dem Herrn im Himmel sei Dank!
Er sah ihr nach, wie sie in ihrem Joggingoutfit davonfederte, die ehemals gepflegten Sportschuhe ziemlich lädiert, als hätte sie sich am Tatort durchs Gebüsch geschlagen.
Abgetragene Turnschuhe.
»Habibi«, rief er ihr nach, »wissen Sie, was das bedeutet?«
»Das ist Arabisch«, vernahm er, obwohl seine Hörweite kaum noch bis zur Tür reichte, »bedeutet so viel wie Geliebter oder Freund.«
»Sicher?«
»Ja, klar. Warum fragen Sie?«
»Nichts, nur ein Gedanke. Schließen Sie die Tür, bitte.«
Endlich wieder allein.
Habibi … Geliebter, Freund.
Warum in aller Welt würde ihn ein unbekannter Attentäter als Freund bezeichnen wollen?
Und noch etwas: Hatte der Kerl tatsächlich einen Auslöser in der Hand gehalten, wie es Deckert berichtet hatte?
Heinlein hatte keinen gesehen. Oder konnte er sich nur nicht daran erinnern?
Weil er unter Schock stand.
Aber an das Bimmeln eines Handys, hundertprozentig.
Eine seltsame Melodie, irgendwie orientalisch.
Ein Anruf hatte die Detonation ausgelöst. Wer hatte ihn getätigt?
Seine Hand schnellte zum Hörer, um eine Anfrage an die Telefongesellschaften zu stellen. Mitten in der Bewegung hielt er ein, es war weit nach Mitternacht.
Er seufzte, hielt sich den Brummschädel.
Höchste Zeit ins Bett zu gehen. Mehr konnte er nicht …
Doch, natürlich.
Sie hatten sich seit Jahren nicht gesprochen, die Nummer existierte vermutlich auch nicht mehr.
Und dennoch war es einen Versuch wert.
Was würde er sagen?
Was würde Kilian sagen?