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2 // Habibi

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Fastnacht aus Franken – Die Prunksitzung war das Highlight des Jahres, ein Pflichttermin für jeden hohen Amtsträger im Land, das Fernsehen sendete live.

Erwartet wurde ein ähnliches Spitzenergebnis wie die Jahre zuvor, knapp vier Millionen Zuschauer und damit mehr als bei so manchem DFB-Pokalfinale aus dem Olympiastadion in Berlin.

Nahezu das gesamte Kabinett der Landesregierung war angetreten, die Kostüme wurden vor laufenden Kameras auf dem roten Teppich besprochen und gelobt, der Landesvater trug zum schwarzen Anzug allerdings nur eine bunt gepunktete Fliege.

Wie jedes Jahr schlüpfte Polizeipräsident Georg Heinlein in sein Kostüm als Gevatter Hein – der Tod, mit aufgedrucktem Skelett, schwarzem Kapuzenmantel und weiß geschminktem Gesicht, in der knöchernen Hand die obligatorische Sense.

Heute Abend durfte nichts schiefgehen, Heinlein hatte Minister und ein Millionenpublikum an den Fernsehern zu Besuch, zwei Reihen entfernt seine Kinder Tom und Vera, Enkel und Schwiegersohn, und da war auch noch Claudia … seine Ex.

Ein junger Kollege, Polizeiobermeister Schäfer, bahnte sich den Weg vorbei an einem Beethoven, einer drallen Biene Maja, sich mannstoll gebärdenden Ordensschwestern und dem heißen Tipp der diesjährigen Faschingssaison: die x-te Kopie des Jokers.

»Was ist?«, stöhnte Heinlein, hoffentlich hatte sich niemand mit einem der hohen Tiere angelegt.

»Eine Geiselnahme.«

Heinlein atmete erleichtert auf. »Gut erkannt, da vorne sitzen die Minister und Ministerinnen in Geiselhaft. Alles in Ordnung.«

»Ein Mann im ICE aus Hannover hat zehn Leute in seiner Gewalt.«

Schluss mit lustig. »Kein Scheiß?«

»Nein, Herr Polizeipräsident. Die Situation droht außer Kontrolle zu geraten.«

Heinlein trank aus und erhob sich. »Bundespolizei vor Ort?«

»Ja, hat um Unterstützung gebeten.«

Heinlein und Schäfer eilten zum Ausgang.

»Hat schon jemand mit dem Geiselnehmer gesprochen?«

»Spricht kein Deutsch, nur ein paar Brocken Englisch.«

»Übersetzer angefordert?«

»Niemand weiß, für welche Sprache.«

Auch das noch.

»Ein SEK?«

»Ist auf dem Weg.«

Aus Nürnberg. Wenn sie gut durchkamen, waren sie in einer Stunde hier.

Sie erreichten die Glastüren, danach die Treppen, der Lärm verebbte. Heinlein atmete kalte, unlustige Februarluft, er fröstelte in dem dünnen Kostüm.

Die Personenschützer und Fahrer der Minister rauchten abseits, glotzten blöde herüber. Polizeioberkommissar Hoffmann war unter ihnen.

Was machte der hier?

Hoffmann grüßte, Heinlein zurück und rein in den Streifenwagen.

»Wohin geht’s?«

»Zwischen Tunnelende und Hauptbahnhof.« Schäfer startete den Wagen. »Der Geiselnehmer hat ein Ultimatum von einer Stunde gesetzt.«

»Ich denke, er spricht kein Deutsch?«

»Er stammelte was von one hour … bumm!«

»Und wann hat er das zum ersten Mal gesagt?«

Schäfer schaute auf seine Armbanduhr. »Vor genau 50 Minuten.«

»Und die Bundespolizei hat nicht gestürmt?!«

»Die Lage ist kompliziert …«

Da war sie wieder, die Erinnerung an die Katastrophe vor vier Jahren, an den heißen Juli 2016.

Ein minderjähriger Flüchtling hatte in einer Regionalbahn bei Würzburg ein Blutbad angerichtet. Mit einem Beil und einem Messer war er er auf die Reisenden losgegangen und hatte sie schwer verletzt.

Vier Tage zuvor hatte es den Anschlag in Nizza gegeben. 85 Tote, 434 Verletzte.

Vier Tage später der Anschlag in München. Neun Tote.

Zwei Tage darauf der Anschlag im nahen Ansbach. 15 Verletzte.

Das Gelände war weiträumig gesperrt, Autos stauten sich auf den Straßen rings um den Verkehrsknotenpunkt am Stadtrand, Hupen und Kehrtwenden im Schein der tanzenden Lichter der Einsatzfahrzeuge.

Der ICE stand im orangefarbenen Licht auf einem der vielen Gleise, der Bahnhof ein paar hundert Meter entfernt. Ein Hubschrauber suchte mit Scheinwerfer die Umgebung ab.

Heinlein zählte gut zwei Dutzend Einsatzkräfte, die sich auf einen Wagen konzentrierten, der als einziger im Inneren unbeleuchtet war, von außen aber angestrahlt wurde. Die Jalousien heruntergezogen, niemand konnte hinein- oder herausschauen.

Auf einem kleinen Parkplatz in der Nähe hatten sich Sanitätsfahrzeuge und die Einsatzleitung postiert.

Als Heinlein ausstieg, kam Deckert ihm bereits entgegen, mit dem Anflug eines Lächelns.

»Gevatter Hein …, natürlich.«

»Was dagegen?«, verbat sich Heinlein jeden weiteren Kommentar. »Also, was wissen wir?«

Deckert, ein kantiger Typ Ende vierzig, sportlich, in Sakko und Stiefeln, kam sofort auf den Punkt.

»Nichts Konkretes, außer dass der Kerl völlig durch den Wind ist. Er rennt im Wagen umher, schreit unverständliches Zeug und droht alles hochgehen zu lassen. Wir schätzen, dass er zehn Geiseln oder mehr in seiner Gewalt hat.«

»Wer hat mit ihm gesprochen?«

»Der Kollege von der Bundespolizei.« Deckert deutete mit dem Kopf nach hinten, wo jemand im Mannschaftswagen lautstark telefonierte und offenbar der Verzweiflung nah war. »Das SEK und die Bombenleute stecken noch auf der Autobahn fest. Die werden frühestens in einer halben Stunde da sein. So viel Zeit haben wir nicht, wenn der Kerl ernst macht.«

»Forderungen?«

»Keine Ahnung. Wir verstehen ihn nicht.«

»Scharfschützen?«

Deckert zeigte in die Nacht. »Einer diesseits des ICE, ein zweiter jenseits auf einem Güterwaggon. Keiner hat freie Sicht in den Wagen, die Lage ist völlig ungeklärt.«

Heinlein schaute sich um, es gab nur eine Entscheidung. »Die Bundespolizei muss stürmen«, es war ihr Verantwortungsbereich.

»Der Kollege bringt’s nicht. Wir beide wissen, was das bedeutet.«

Dass die Sache in die Hose ging.

»Was schlägst du dann vor?«

Deckert atmete durch. »Ich geh rein.«

»Ein Himmelfahrtskommando. Nein, auf keinen Fall.«

»Wäre nicht das erste Mal.« Deckert reichte ihm seine Waffe.

Heinlein verweigerte sie. »Aber vielleicht das letzte.«

»Wir hatten schon schlimmere Situationen«, damals beim SEK.

»Ina würde mir das nie verzeihen«, hielt Heinlein dagegen.

»Sie weiß, dass so etwas jederzeit passieren kann.«

»Früher, heute bist du ein stinknormaler Beamter, der seine Schicht runterreißt.«

»Das verlernt man nicht. Jetzt nimm schon.« Er drängte Heinlein die Waffe auf.

»Und Lukas und Carlotta?«

Deckert grinste schief, zog die Jacke aus. »Papa ist ein harter Hund.«

»Papa ist ein Idiot, wenn er glaubt, dass ich das genehmige.«

»Die Zeit drängt, Herr Polizeipräsident«, sagte Deckert förmlich. »Der Kollege von der Bundespolizei wird ohne das SEK nichts unternehmen, die Scharfschützen können kein Ziel ausmachen, und wenn der Geiselnehmer keinen Ausweg sieht, kann jederzeit alles passieren. Die Geiseln müssen schnellstens da raus.«

Richtig, aber Deckert hatte Frau und Kinder, ein neu gebautes Haus und einen Kredit am Hals, er wurde noch gebraucht.

»Ich mach’s«, bestimmte Heinlein.

»Quatsch nicht. Dein letzter Einsatz ist über fünf Jahre her.«

»Na und.«

»Du bist längst ein Schreibtischhengst, untauglich für aktive Polizeiarbeit.«

Kein anderer als Deckert durfte so mit ihm sprechen, und das auch nur, wenn sie unter sich waren oder sich heillos betrunken um die Getränkerechnung stritten.

»Gevatter Hein ist noch lange nicht in Rente.« Heinlein streifte den Umhang ab.

»Hein ist Geschichte, ein Gespenst aus alten Tagen.«

»Das ist ein Befehl, und jetzt ab.«

Widerstrebend lenkte Deckert ein und informierte den Einsatzleiter.

»Hast du ein Taschentuch?«, fragte Heinlein seinen Chauffeur, der alles mitangehört hatte.

»Sicher«, antwortete Schäfer und reichte ihm eines.

Doch die Schminke war hartnäckiger als gedacht.

»So geht das nicht«, belehrte ihn jemand – Vanja Berger, eine junge Kommissarin aus dem Dezernat für Organisierte Kriminalität, trat aus dem Schatten und nahm ihm das Taschentuch aus der Hand.

»Was machen Sie hier?«

»Hab den Hubschrauber gesehen. Ich wohne gleich da vorne im Bahnhofsviertel.« Sie spuckte ins Taschentuch, rubbelte und rieb, dass es schmerzte.

»Nicht Ihr Zuständigkeitsbereich.«

»Vielleicht kann ich helfen.« Sie hatte ihr schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, war in Jogginghose und Sweatshirt unterwegs. Normalerweise trat sie auffallend modisch in Erscheinung. »Ich spreche Serbokroatisch, Bosnisch und …«

»Gibt es Hinweise, dass es sich um einen Täter vom Balkan handelt?«, unterbrach er sie mürrisch.

Vorlaut und übereifrig war sie, mischte sich stets in Dinge ein, die sie nichts angingen, wusste zu allem etwas zu sagen und bot auch noch ungefragt Hilfe an.

»Der Einsatzleiter meinte, dass es sich durchaus um eine Person aus meinem Sprachbereich handeln könnte.«

Dem war sie also auch schon auf den Geist gegangen. Heinlein entzog sich ihrer Behandlung.

»Auf eine Frau reagieren Geiselnehmer weniger aggressiv als auf einen Mann«, schickte Berger hinterher. »Sie glauben sich überlegen, das ist durch zahlreiche Berichte belegt.«

Da war es wieder, dieses überhebliche Gerede, das Heinlein von Anfang an auf die Nerven gegangen war.

»Vielen Dank, Frau Kollegin, ich kenne die Veröffentlichungen zum Thema.«

»Ich könnte an seinen Beschützerinstinkt appellieren, den Familienvorstand, Verantwortung, Leben und Ehre …«

Es reichte. »Gehen Sie nach Hause.«

Berger reagierte auf die harsche Zurückweisung, wie sie es immer tat, lächelnd. »Okay … dann viel Erfolg, Herr Polizeipräsident.«

Der Einsatzleiter eilte mit Deckert herbei. »Wollen wir das SEK nicht abwarten?«

»Gute Idee«, bekräftigte Deckert. »In einer halben Stunde …«

»In einer halben Stunde kann uns alles schon um die Ohren geflogen sein«, widersprach Heinlein. »Wer wird dem Ministerpräsidenten Rede und Antwort stehen? Die Medien sind auch schon da, berichten live und landesweit. Wer von Ihnen möchte als Erster vor die Kamera treten?«

Das Angebot ließ sie verstummen.

»Wenn’s schief läuft, stürmen Sie. Verstanden?« Ein Nicken.

»Ich lass dich nicht aus den Augen«, versprach Deckert mit einem Scharfschützengewehr in der Hand. »Auf unser altes Zeichen.«

Die Arme ausbreiten, Handflächen nach oben wenden, sich aus der Schusslinie bringen.

»Ich drücke Ihnen die Daumen«, wünschte der Einsatzleiter. Dann gab er die Nachricht über Funk an die Beamten weiter. »Achtung, an alle: Der Verhandler kommt.«

Heinlein ging los.

Vorbei am Dornengebüsch, wo die Kollegen mit der Waffe in Anschlag lagen. Mit einem kurzen Nicken zollten sie ihm Respekt, dann trat er auf die Gleise.

Noch konnte er es sich anders überlegen, den Schwanz einziehen, fliehen …

Gevatter Hein, der Ruf der alten Zeiten.

Nicht denken. Die Situation akzeptieren, wie sie war. Eine persönliche Beziehung aufbauen, Vertrauen gewinnen. Den richtigen Moment erkennen, mit aller Entschlossenheit handeln.

Auf Nostalgie und Selbstvergewisserung folgte Unruhe, je näher er dem ICE kam. Die Hände begannen zu zittern, seine Knie wurden weich.

Nicht denken. Die Situation akzeptieren, wie sie war …

»Stop!«

Unmittelbar vor dem Wagen.

Die Tür offen, Füße ragten ins Licht, abgetragene Sportschuhe, wie man sie in die Altkleidersammlung gibt.

Vorsichtig drehte sich Heinlein im Kreis, hob die Arme.

»No guns. See?«

Im Dunkel der Tür glaubte er die Umrisse einer Gestalt zu erkennen, und sie antwortete anders als erwartet, fast schon flehentlich.

»Habibi?«

Heinlein verstand nicht. »Chief of police …«

»No … no police«, aufgeregt, vermutlich unschlüssig angesichts einer Person mit einem aufgedruckten Skelett am Leib.

»No problem«, beruhigte Heinlein. »My name is …«

»Gallo … you Gallo?«

Hatte er ihn richtig verstanden?

»Say again. Who?«

Schweigen.

Unruhe.

Etwas stimmte nicht, Heinlein setzte erneut an.

»My name …«

Ein Handy schrillte mit einer fremden, beunruhigenden Melodie.

Aus dem Dunkel vor ihm.

Ein Handy hatte nichts in der Nähe einer Zündvorrichtung verloren.

Der Reflex, Heinlein warf sich zur Seite.

Die Wucht der Explosion donnerte über ihn hinweg wie ein ICE in voller Fahrt.

Gallo rosso

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